Diese Story ist in gewisser Weise eine Fortetzung von meiner 'Gedanken'-Geschichte. Allerdings ist sie so geschrieben, dass man sie auch ohne die andere zu kennen mitverfolgen kann. Nur so viel zur Info.
Erneut Gedanken
Gerrit Grass war wieder einmal auf dem Weg zum Arzt. Dieser Gang war für ihn mittlerweile zur Routine geworden, auch wenn der Zustand, der ihn dazu gebracht hatte längst nicht zu Gewohnheit gehörte.
Er ließ wieder mal seine Gedanken schweifen, dachte alles durch, immer und immer wieder, jedoch mit gekonnter Kontrolle. Es war mittlerweile 3 Jahre her, seitdem er einige Schicksalsschläge ertragen musste, seitdem seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam. Grundlos war sie gestorben, ohne Sinn, ohne Zweck. Er hatte noch heute Schwierigkeiten sich nicht in Erinnerungen zu verlieren, wenn er an das Geschehene dachte. Verarbeitet hatte er es, so glaubte er zumindest. Er hatte sich professionelle Hilfe geholt, auch wenn er nie gut über Seelenklempner gedacht hatte. Doch dieses Mal sah er einfach keinen anderen Ausweg. Freunde konnten ihm nicht die Hilfe geben, die er brauchte, das spürte er damals ganz deutlich.
Und es half. Gerrit sprach viel, weinte viel, schwieg auch viel. Es trug Erfolg, mit der Zeit konnte er freier über seine Mutter und deren Tod sprechen, ohne dass ihm jedes Mal die Stimme wegbrach, ohne Gänsehaut, ohne Zittern und den Wunsch sich einfach zu vergraben und loszuheulen.
Er fand zurück in ein normales Leben. Alex war ihm in der Zeit eine große Hilfe. Sie kam ihn fast täglich besuchen, half ihm bei der Hausarbeit, kochte für ihn, damit er regelmäßig warmes Essen bekam. Und nach einer nur kurzen Zeit war er wieder gewillt selbst regelmäßig zu kochen. Alex meinte es ja lieb, aber bevor er täglich ihre gutgemeinten Breie runterwürgte, stellte er sich lieber selbst an den Herd. So fand er auch wieder Gefallen am Kochen, nicht zuletzt, weil es eine gute Beschäftigungstherapie war, die ihm Zeit gab nachzudenken, sich aber nicht komplett in seinen Gedanken zu verlieren.
Alex' Besuche wurden seltener, dafür sahen sie sich auf der Arbeit wieder öfter. Gerrit konnte sich noch nicht voll seinem Berufsleben widmen, aber es wurde von Tag zu Tag, von Woche zu Woche besser. Alle im Team unterstützen ihn so gut sie konnten. Gerrit war oft gerührt von ihren Bemühungen, es gab ihm Kraft, trotz seines Leids.
Er fing wieder an mit Sport, ging regelmäßig golfen, Fußball spielen, unternahm etwas mit Freunden. Der Schmerz ließ nach, wurde erträglicher, doch er verschwand nicht. Dafür sorgte Gerrit von selbst. Jeden Sonntag besuchte er das Grab seiner Mutter, verbrachte nicht selten Stunden dort. Er pflegte das Grün, hegte die Blumen, zündete eine Kerze an und setze sich auf das Bänkchen, das schräg gegenüber unter einer großen Weide stand.
In Gedanken plauderte er mit seiner Mutter, erzählte ihr von seiner Woche, lächelte sie an. Jedes Mal wieder blickte er gen Himmel, das Herz schmerzte ihm, doch er musste es akzeptieren und damit leben lernen, dass seine Mutter nun nicht mehr da war. Er spürte ihre Gegenwart, das gab ihm Trost. Doch es fehlten ihm die typischen Mutter-Sohn-Gespräche, die er gerne mit ihr führte, wenn sie gemeinsam Urlaub machten. Mindestens einmal im Jahr waren sie früher zusammen weggefahren, um abschalten zu können vom Alltagstrott.
Sie genossen diese Zeit, waren füreinander da, erholten sich. Das war für Gerrit und auch seine Mutter ein fixer Bestandteil ihres Lebens. Gerrit konnte mit ihr über alles sprechen, ihr alles anvertrauen. Es tat so gut jemandem zu haben, mit dem man über einfach alles sprechen konnte. Jemanden zu haben, der für einen da war, wenn man gerade eine schwere Zeit durchmachte. Jemanden zu haben, der ein offenes Ohr für Probleme hatte, und es einem nicht übel nahm, wenn man gerade nicht in der Lage war Positives zu sehen. Jemanden zu haben, der einen bedingungslos liebte und für einen da war. Jemanden zu haben, der einem auch den Kopf wusch, wenn man sich zu sehr verrannt hatte. Gerrit liebte seine Mutter für all dies, war ihr unendlich dankbar für ihre Güte, ihr Verständnis und ihre Liebe.
Diese Momente fehlten ihm jetzt, wo er sie so dringend brauchte. Denn vor einem guten Jahr traf ihn das Schicksal erneut. Gerade, als er guter Dinge war wieder gänzlich in sein normales Leben zurück zu finden. Doch es sollte einfach nicht so sein. Gerrit weigerte sich seit der Diagnose sich Gedanken zu machen. Er wollte nicht wieder nachdenken, nicht wieder in diese tiefe Leere fallen, aus der er erst so schwer herausgefunden hatte. Doch er konnte es nicht so gut unter Kontrolle halten, wie er das gerne hätte.
Immer wieder beschlichen ihn dieselben Gedanken. Warum er? Warum musste das passieren? Weshalb musste er so leiden? Hatte er etwas verbrochen? Musste er büßen? War ihm kein glücklicher Lebensabend gegönnt? Was hatte er falsch gemacht? Doch bevor sie ihn komplett einnahmen und übermannten, verschloss er sich vor ihnen. Er wollte nicht schon wieder denken, nicht schon wieder alles durchkauen müssen und das alles durchmachen, wie vor ein paar Jahren, als seine Mutter starb und er auch seine Oma verlor.
Er bog die letzte Kurve rechts ab, noch ein paar hundert Meter geradeaus, dann war er da. Mahnend redete er sich zu. Beinahe wäre er wieder in einen Gedankensumpf geraten. Dabei wollte er genau das nicht. Er versuchte an etwas Schönes zu denken, ließ den Blick schweifen. Den Weg zum Krankenhaus ging er meist zu Fuß, er fand die Strecke schön. Die Bäume, die entlang der Straße eine Allee bildeten, waren jedes Mal wieder ein Blickfang. Er genoss das Wetter, die laue Herbstluft, die ihm um die Nase schmeichelte. Er wollte keine Sekunde zu viel im Auto verbringen, in einem Blechkasten, der ihm die Möglichkeit nahm mit der Natur eins zu sein, sie in sich aufzusaugen.
Durch seine Krankheit musste Gerrit sich sehr einschränken. Er durfte keine anstrengenden Arbeiten mehr verrichten, sich nicht körperlicher Anstrengung aussetzen. Ein schwerer Schlag für ihn, wo er doch gerne Sport machte und dies ein Ausgleich für ihn darstellte. Doch da Gerrit nun gezwungen war seine sportlichen Aktivitäten auf ein Minimum zu reduzieren, hatte er sich einen anderen Ausgleich gesucht. Viele hatten im Yoga empfohlen, aber damit konnte er nichts anfangen. Dieses Verknoten war nichts für ihn, es sprach ihn nicht im Geringsten an. Doch er wollte etwas in die Richtung machen, etwas, das Spiritualität bot. Und so recherchierte er ein wenig im Internet, machte sich schlau, und tatsächlich, er fand etwas, das ihm zusagte.
Es gab ihm die Möglichkeit sich fallen zu lassen, die Gedanken schweifen zu lassen, ohne sich an etwas Bestimmtes klammern zu müssen. Es half ihm dabei neue Kraft zu tanken, sich seinen Gefühlen zu stellen und das Erlebte zu verarbeiten. Er fragte sich oft, ob es nicht einen Haken an der Sache geben musste. Reiki war fast zu schön, um wahr zu sein. Doch es gehörte auch eine ordentliche Portion Eigenverantwortung dazu, um sich stellen zu können und es zuzulassen. Aber er ließ es einfach auf sich zukommen, und das war das Beste, was er machen konnte. Er spürte, dass es ihm half, dass es ihn stärkte, dass es ein wohltuender Ausgleich war, und das reichte ihm, um dem Ganzen Vertrauen zu schenken.
Die letzten Schritte bis zum Eingang durch die große Glastür genoss er das kühle Lüftchen, das ihm um die Nase wehte. Wieder einmal eine Besprechung mit dem Arzt, was es wohl dieses Mal zu bereden gab. Mit einem mulmigen Gefühl klopfte er an die Türe, eine Schwester hatte ihn zum Zimmer gebracht, der Arzt erwartete Gerrit schon. Er trat ein und schloss die Türe hinter sich.
Am Gang ging das Treiben weiter. Schwestern, die Betten bezogen, Essen brachten und neue Patienten einwiesen. Patienten, die ihre ersten Gehversuche nach einer schweren OP unternahmen, sich im Aufenthaltsraum unterhielten, Karten spielten oder Besuch empfingen. Besucher, die voller Trauer waren, weil sie gerade von der Todesnachricht eines Familienmitglieds erfahren hatten, oder sich freuten, wenn der Freund endlich wieder entlassen wurde oder Blumen zur Aufheiterung brachten. Alltäglicher Krankenhausalltag, der sich Tag für Tag abspielte, als wäre es eine in sich geschlossene, eigene Welt.
In dieser ganz eigenen Welt öffnete sich nun die Bürotür von Gerrits Arzt wieder, ein kurzes Handschütteln, schon war er wieder auf dem Weg nach Hause. Gedankenverloren trottete er den Weg zurück, den er gekommen war. Es gab keine Besserung, im Gegenteil, sein Zustand hatte sich leicht verschlimmert. Gerrit erlitt erneut einen Rückschlag, wie viele mussten den noch kommen? Nach der mittlerweile schon monatelangen Therapie hatte er gehofft, dass es endlich bergauf ginge, doch das Schicksal schien es nicht gut mit ihm zu meinen.
Er ließ die Gedanken schweifen, ließ alles Revue passieren, zum bestimmt 100. Mal. Es hatte vor Monaten angefangen. Gerrit bekam Husten, zur gewohnten Herbstzeit. Eigentlich nichts, worüber man sich Gedanken machen musste. Er maß dem keine Bedeutung bei, dachte es würde bald vergehen. Doch er hustete sich durch die gesamte Vorweihnachtszeit. Schließlich beschloss er doch zum Arzt zu gehen. Dieser diagnostizierte Bronchitis und verschrieb ihm standardmäßig Antibiotika und schleimlösende Tabletten.
Gerrit schluckte alles brav, in der Hoffnung, dass dieser Spuck bald ein Ende haben würde. Doch es wurde und wurde nicht besser. Der Arzt forderte ein Lungenröntgen an, mit dem der Stein schließlich ins Rollen gebracht wurde. Gerrits Lungenbefund war auffällig. Gerrit, der seit seiner Jugend rauchte, rutschte das Herz in die Hose. Sofort kam ihm der Verdacht Krebs in den Sinn, was sein Arzt auch nicht ausschließen konnte und eine Reihe weiterer Untersuchungen anordnete.
Zur weiteren Abklärung wurde Gerrit zur Lungenambulanz geschickt. Lange Wochen lagen vor ihm. Er hatte Angst, riesengroße Angst, dass er Lungenkrebs hatte. Was sollte er nur tun, wenn es so war? Es war mitunter eine der aggressivsten Krebsarten, die nur schwer zu heilen war, wenn man sie nicht früh genug entdeckte. Diese Zeit war für Gerrit die Hölle, schon wieder. Er konnte in dieser Zeit kaum schlafen, aß nur unregelmäßig, war zu kaum etwas fähig. Er hoffte inständig, dass es einen anderen Befund gab, als er ihn befürchtete.
Nach zahlreichen Tests und Wochen bangen Wartens erhielt er die Diagnose, Sarkoidose. Kein Krebs, das war für Gerrit die Hauptsache. Eine Horrorvorstellung für ihn, die zum Glück nicht eingetreten war. Sarkoidose hatte gute Chancen komplett ausgeheilt zu werden. Es war eine Erkrankung des Bindegewebes, die meistens die Lunge befiel, so auch bei ihm. Eigentlich war er schon fast zu alt für diese Krankheit, da meist Menschen im frühen bis mittleren Erwachsenenalter daran erkrankten, doch er musste ja bekanntlich bei allem ‚hier‘ schreien.
Gerrit musste sich strikt schonen, bekam Kortisontabletten und einige Begleitmedikamente, wie etwa Magenschutzmittel. Einige Zeit musste er im Krankenhaus bleiben, um auf die richtige Kortisondosis eingestellt zu werden. Als er damals nach der Einstellung entlassen wurde, übermannten ihn wieder seine Gedanken und die Suche nach dem Warum begann. Ein genauer Auslöser dieser Krankheit wurde bis heute noch nicht ausgeforscht, somit fragte sich Gerrit, warum ausgerechnet er daran erkranken musste.
Als hätte er in den letzten Wochen, Monaten und Jahren nicht schon genug Leid erfahren, als müsste er nicht schon mit genug Schicksalsschlägen fertig werden. Und dann das. Es würde mindestens 6 Monate dauern, bis deutlich Besserung eintrat, mindestens ein Jahr, bis er wieder komplett belastbar war, so wurde es ihm gesagt. Schon wenige Treppen ließen ihn aus der Puste kommen, da seine Lunge nicht genügend Kraft hatte, um 100% geben zu können.
Es war ein Schlag für ihn, als er erfuhr, dass er keinen Sport mehr machen durfte, dass er sämtliche anstrengenden körperlichen Aktivitäten einstellen musste. Das Gewebe brauchte Ruhe, um sich erholen zu können, sonst blieben eventuell Narben zurück, die seine Lungenleistung dauerhaft beeinträchtigen würden. Er musste auch seine Rauchergewohnheiten massiv einschränken. Das alleine fiel ihm schon schwer genug. Kaum Sport, kein Rauchen zur Ablenkung, er war an daheim gebunden. Für ihn, der ständig auf Achse war und viel unternahm, war das ein nicht minderschwerer Schock gewesen. Auch wenn ihm öfter die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, er wollte wieder gesund werden, also tat er, was verlangt wurde.
Um die Zeit tot zu schlagen, begann er wieder zu malen. Ein Hobby, das er schon viele Jahre ausübte, mal mehr, mal weniger, wie es seine Zeit erlaubte. Und da er von jener nun genug hatte, beschloss er wieder den Pinsel zu schwingen. Es machte ihm Spaß, er konnte sich fokussieren, musste nicht tiefgründig nachdenken. Doch es fehlte ihm etwas. Das Malen war eine schöne Tätigkeit, doch es konnte nicht seine gesamte freie Zeit füllen. Und da er auch in der Arbeit eingeschränkt war, weil er sich schonen musste, war noch mehr von diesem Ticktack übrig, das einfach nicht vergehen wollte.
Der Wind frischte auf, Gerrit begann es zu frösteln. Die Blätter begannen schon von den Bäumen zu fallen, die Luft wurde immer kühler. Er zog die Lederjacke zusammen und machte den Reißverschluss zu. Er konnte es nicht gebrauchen sich jetzt auch noch zu erkälten. Er ließ das Geschehene weiter Revue passieren.
Damals begann Gerrit wieder vermehrt in Zeitschriften zu lesen, um die Zeit beim Verstreichen zu unterstützen. Und in einer dieser Zeitschriften flog es Gerrit dann, Reiki. Er las kurz über einen Artikel, der sich damit beschäftigte, schüttelte den Kopf und las weiter. Eigentlich hatte er mit Esoterik nichts am Hut, doch dieses Reiki schien ihn regelrecht zu verfolgen.
Einmal hörte er einen Beitrag im Fernsehen, als er gerade nach einem vernünftigen Programm Ausschau hielt, dann wieder kam ihn ein Flugblatt unter die Nase. Da seine Freunde ihm Yoga für den Ausgleich empfohlen hatten, Gerrit das aber nicht zusagte, begann er das Internet zu durchforsten, schaden könnte es ja wohl kaum. Gerrit fand bei sich in der Nähe einen Reiki-Meister, bekam eine Schnupperstunde und war seitdem mindestens einmal in der Woche dort.
Die Feuerwehrsirene riss Gerrit aus seinen Gedanken. Mit lautem Geheule und Blaulicht für sie an ihm vorbei zum nächsten Einsatz. Gerrit bog um die Ecke und ging über den gerade grün gewordenen Fußgängerübergang. Eigentlich wollte er noch nicht nach Hause, doch es wurde schon dämmrig, und in der Dunkelheit spazieren gehen war nichts, was ihn momentan Freudesprünge hätte machen lassen.
Er griff zum Handy, keine Anrufe in Abwesenheit, keine neuen Nachrichten. Mit einem Mal fühlte Gerrit sich schrecklich einsam. Kurz schlich sich der Gedanke ein seine Mutter anrufen zu wollen, den er aber schnell wieder verdrängte. Dass sie seit Jahren nicht mehr am Leben war, hinderte ihn nicht daran solche Gefühle zu empfinden, den Wunsch mit ihr zu reden und sie um Rat zu fragen. Etwas, das er eigentlich nicht tun sollte. Der Psychologe hatte ihm geraten nach vorne zu schauen, und dazu gehörte das Momentane loszulassen. Seine Mutter war tot, er sollte nicht übermäßig an ihr festhalten, dass es seinen Alltag beeinflusste, sich nicht in der Vergangenheit halten, nur weil es zu schmerzlich war die Gegenwart wahrzunehmen.
Gerrit hatte sich bemüht das einzuhalten, und es war ihm einigermaßen gelungen. Doch in Momenten wie diesen wünschte er sich einen Anker, an dem er festhalten konnte, der ihm Halt gab. Er vermisste seine Mutter schrecklich und beschloss kurzerhand sie zu besuchen. Sein Handy wieder verstauend bog er in die Seitenstraße ein. Der Dunkelheit trotzend machte er sich auf den Weg zum Friedhof.
Wolken zogen auf, durchtränkt vom orange-violetten Licht der untergehenden Sonne. Ein schönes Bild, wenn sich die Sonne zur Ruhe begab und die Nacht Einzug hielt. Gerrit liebte diesen Moment, wenn danach nur die Dunkelheit nicht wäre. Er liebte den Tag, die Helligkeit, das Licht, das ihn erfüllte, wenn er die warmen Strahlen auf seiner Haut spürte. Früher hatte er die Nacht zum Tag gemacht, war ständig unterwegs, hatte Bars abgeklappert, sich die Kante gegeben, nach Lust und Laune geflirtet. Doch er hatte in den letzten Jahren gelernt den Tag und dessen Vorzüge zu schätzen. Seit jeher hatte die Nacht etwas Befremdliches für ihn.
Zügig betrat er den Friedhof, denn das Licht schwächte sich immer mehr ab. Zielstrebig ging er zum Grab seiner Mutter und betrachtete lange den Grabstein. Tränen stiegen ihm in die Augen, rannen über seine Wangen und verdunkelten kleine Stellen des Bodens. Wieder quälten Gerrit Fragen nach dem Warum. Er hatte von seinem Reiki-Meister gelernt, dass alles einen Hintergrund hatte, dass nichts ohne Grund passierte. Doch welchen Grund möge es geben, der es rechtfertigte ihm solches Leid zuzufügen, immer und immer wieder, über mehrere Jahre? Er konnte es einfach nicht verstehen.
Plötzlich durchfuhr ihn ein warmes Gefühl, das sich von seinem Bauch ausgehend im ganzen Körper ausbreitete. Ein wohliges Gefühl der Geborgenheit, das ihn durchströmte und erfüllte, ihn gleichzeitig stärkte, als würde jemand hinter ihm stehen und ihn mit der Hand im Rücken stützen. Wohlwissend, dass niemand hinter ihm sein konnte, drehte er sich um. Wie erwartet sah er niemanden, doch auf einmal huschte ein Schatten in einigen Metern Entfernung vorbei. Gerrit kniff die Augen zusammen, versuchte scharf zu stellen, um in der Düsternis etwas erkennen zu können, doch er erbklickte nichts. Auch zu hören war nichts, doch er bildete sich fest ein die Silhouette eines Menschen erkannt zu haben.
Leicht irritiert wandte es sich wieder der Ruhestätte seiner Mutter zu. Erneut durchfuhr ihn ein erfüllendes, warmes und kribbelnden Gefühl. Er schloss die Augen und ließ es einfach zu. Es war zu angenehm, um sich dagegen zu wehren. Beruhigend wirkte diese Wärme, die augenscheinlich aus dem Nichts kam, gerade dann, wenn er sie so dringend brauchte. Er ließ es geschehen, fühlte sich dadurch gestärkt und gestützt. Allmählich klang das wärmende Gefühl ab, er öffnete die Augen. Seine Lippen formten ein zaghaftes Lächeln, er strich mit den Fingern über den auf dem Grabstein eingravierten Namen seiner Mutter, empfand unendliche Dankbarkeit für all jene, die für ihn da waren und es immer noch sind.
Mit einem Mal sah er seine Situation nicht mehr so ausweglos wie noch Minuten zuvor. Schließlich war diese eine Untersuchung nur eine von vielen. Womöglich hatte er sich in den letzten Wochen einfach nicht genug Ruhe gegönnt, um seiner Lunge die nötige Grundlage zu geben gesund werden zu können. Oder es musste erst geringfügig schlimmer werden, bevor sich sein Zustand erheblich bessern konnte. Vielleicht würde die nächste Kontrolluntersuchung dafür zufriedenstellender ausfallen, als man es erwarten würde.
Er versuchte nicht mehr schwarz zu sehen, er hatte genug davon. Ständig diese Frustration, die sich in eine deprimierende Stimmung wandelte, er hatte es satt. Er fühlte sich wieder widerstandsfähig, stark und voller Energie. Da schlich sich plötzlich der Gedanke an den Schatten wieder in seine Gedanken, den er zuvor glaubte gesehen zu haben. War es vielleicht doch keine Einbildung? Aber wer sollte um diese Uhrzeit über den Friedhof schleichen, ohne gesehen werden zu wollen? Achselzuckend legte er diesen Gedanken beiseite. Vermutlich hatten seine Sinne ihm nur einen Streich gespielt, indem sie ihm eine Person vorgetäuscht hatten.
Gerrit verabschiedete sich von seiner Mutter, blickte kurz gen Himmel, und machte sich schließlich auf den Heimweg, wissend, dass alles gut werden würde, die Zeit würde es mit sich bringen.