Nach längerer Zeit gibt es hier wieder eine Geschichte von mir, viel Spaß beim Lesen.
Hoffnungslos
Das Telefon läutete, es kam ihm vor, als wäre es noch schriller als gewöhnlich. „Naseband …“, meldete er sich. Interessiert hörte er sich an, was sein Gesprächspartner zu sagen hatte. Michaels Blick wanderte zu Alex, seine Augen schauten mitleidig auf die fleißig arbeitende Frau, die ihren Kopf trotz des eben geführten Telefonates nicht hob, und es war auch gut so, fand Michael. Das eben Gehörte war nicht für ihre Ohren bestimmt, noch nicht. Früh genug musste sie davon erfahren, und er fürchtete sich jetzt schon davor, ihr davon erzählen zu müssen. „Gerrit, wir haben einen Einsatz …“, sagte er nur, winkte dem jüngeren Kollegen zu, ihm zu folgen, und wartete gar nicht darauf, dass Gerrit irgendwie reagierte. Michael hoffte einfach, dass seiner Bitte Folge geleis-tet wurde.
Kaum hatte er die Bürotür hinter sich geschlossen, wurde sie auch schon wieder aufgerissen und ebenso rasch wieder zugemacht. Eilige Schritte folgten ihm. An der Bewegung erkannte er, dass Gerrit seinem Befehl – wenn man es so nennen wollte – verstanden hatte. „Was soll das denn?“, wurde Michael angefahren, „warum machst du es so geheimnisvoll?“ „Ich werde es dir im Auto erklären, wir haben eine längere Reise vor uns.“, erklärte er, „Schau mich bitte nicht so vorwurfsvoll an. Im Moment möchte ich nicht, dass Alex uns hören kann.“ Mit einer Handbewegung brachte er Gerrit dazu, vorerst einmal zu schweigen, da er Schritte hörte, die eindeutig die von Frauen waren. Außerdem wollte er im Vorhinein verhindern, dass Alex vorzeitig mitbekam, um was es sich bei ihrem neuen Einsatz überhaupt handelte. Aus irgendeinem Grund nahm Michael an, dass sie ihnen folgte, doch nichts dergleichen geschah, er hatte sich einfach nur geirrt.
Er lief eiliger, als es eigentlich notwendig war, zum Wagen, öffnete und stieg ein, annehmend, dass Gerrit ihm genauso rasch folgte. Während er sich bereits anschnallte, startete er das Auto und warf seinem Kollegen einen raschen Blick zu, fuhr mit quietschenden Reifen davon, kaum dass Gerrit die Tür geschlossen hatte.
Einige Zeit fuhren sie schweigend durch die Stadt. Michael wusste noch immer nicht, wie er mit der Geschichte beginnen sollte, die er Gerrit eigentlich erzählen wollte. Erst dessen lautstarkes Räuspern riss ihn aus seinen Überlegungen. „Ich weiß, dass ich dir noch eine Erklärung schuldig bin, Gerrit und ich kann dir nicht sagen, wie ich anfangen soll“, murmelte Michael vor sich hin, überlegend kratzte er sich über sein Kinn. „Fang einfach von vorne an. Du hast doch eine längere Autofahrt angekündigt, also hast du alle Zeit der Welt, um mir diesen Fall zu schildern“, stellte Gerrit endlich fest. Sein Freund und Kollege nickte bedächtig, warf ihm einen kurzen Blick zu, als der inzwischen schwächer gewordene Verkehr es zuließ. „Diese Geschichte reicht in eine Zeit zurück, in der du noch nicht bei uns im K11 warst. Fast genau auf den Tag sind es fünf Jahre her, als Alex‘ Tochter Antonia verschwunden ist. Eine Freundin ist noch gemeinsam mit ihr im Bus gefahren, Antonia ist in der Nähe ihres Wohnhauses ausgestiegen und von da an verliert sich jede Spur“, fasste Michael den Fall so zusammen, wie er sich Jahre zuvor abgespielt haben musste. Im ersten Augenblick war es ausgesprochen ruhig im Inneren des Fahrzeuges, noch schien Gerrit nicht begreifen zu wollen, was er eben gehört hatte. Doch ehe er irgendetwas sagen konnte, fuhr Michael fort: „Man hat unweit von München Knochenreste gefunden, menschliche Kno-chen, Gerrit! Nicht weit davon ist auch noch ein Schulbuch gelegen, das aus der damaligen Zeit stammen könn-te.“
Gerrit schwieg noch immer, seine Gedanken arbeiteten fieberhaft, ohne sie jedoch ordnen zu können. „Und wie willst du wissen, dass diese Knochen ausgerechnet zu Alex' Antonia gehören müssen?“, brachte er schließlich mühsam über die Lippen. Er konnte nicht sagen, wie sehr ihn die Geschichte seines Kollegen schockiert hatte. Solche Dinge waren doch sein tägliches Brot, stellte er leicht irritiert fest, aber vermutlich lag es daran, dass er einen Teil der darin vorkommenden Personen kannte. „Natürlich weiß ich das nicht, und ich möchte es auf alle Fälle herausfinden. Aber ich kann Alex dabei absolut nicht gebrauchen, da sie alle möglichen Dinge hin-eininterpretieren könnte. Daher werde ich hauptsächlich mit dir und Robert zusammenarbeiten“, erklärte Mi-chael ernst. „Verständlich …“, murmelte Gerrit nur vor sich hin, verbissen starrte er aus dem Wagen, wusste einfach nicht mehr, was er hätte sagen sollte.
Er war gedanklich so weit weg, dass er gar nicht merkte, dass Michael in einen sehr heruntergekommenen Hof einbog, erst dessen lautstarkes Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Irritiert schaute sich Gerrit um und warf seinem Kollegen einen erstaunten Blick zu. „Hier ...?“, wunderte er sich schließlich, mit dem fast ausgestreckten Arm deutete er einen Halbkreis an. „Ja, hier, Gerrit. Ein Spaziergänger, dessen Hund seinen Ball aus dem Keller geholt hat, hat uns angerufen und den Knochenfund gemeldet“, wiederholte Michael. Bestätigend nickte Gerrit. „Das hast du schon gesagt, ich wusste nur nicht, dass es in einer derart heruntergekommenen Gegend ist“, gab er leise zu und schwang seine langen Beine aus dem Fahrzeug, kaum dass Michael den Wagen abgestellt hatte, froh darüber, dass er sich endlich wieder die Füße vertreten konnte.
Großräumig war der Fundort abgeriegelt worden, man wartete nur noch auf den Doc. Während des Wartens ließen sich Gerrit und Michael die inzwischen bekannten Einzelheiten erzählen, besahen sich den Fundort des Skeletts. „Es ist verdammt wenig, was wir hier haben …“, meinte Gerrit bekümmert, bestätigend nickten alle Umstehenden, die ihm zugehört hatten. Auch der Gerichtsmediziner war keine allzu große Hilfe. „Die Fahrt hierher hätte ich mir sparen können, Leute …“, murrte er aus diesem Grund, „die Knochen hättet ihr mir doch auch vorbeibringen können!“ Michael und auch Gerrit konnten den Unmut des Gerichtsmediziners zwar verstehen, wussten aber auch, dass er sich auch abfällig darüber geäußert hätte, wäre er nicht an den Tatort gerufen worden. Wie sie es auch gemacht hätten, es wäre auf keinen Fall in Ordnung gewesen.
Auch wenn kaum Spuren vorhanden waren, taten die Leute der Spurensicherung ihr Bestes, wenn auch ohne nennenswerten Erfolg. Ziemlich am Boden zerstört fuhren sie wieder zurück. Michael hatte alle mitarbeitenden Kollegen ausdrücklich gebeten, die Ergebnisse ausschließlich ihm oder Gerrit auf den Tisch zu legen und überlegte fieberhaft, ob er den fragenden Blick der Männer ausweichen sollte oder nicht. „Es könnte sein, dass es sich um die vermisste Tochter einer Kollegin handelt. Solange wir nicht wissen, ob es auch tatsächlich so ist, möchte ich sie nicht mit irgendwelchen bruchstückhaften Ergebnissen belästigen“, erklärte er dann schließlich doch. In den Gesichtern der anderen konnte er so etwas wie Verständnis herauslesen.
Es kam schlimmer, als er es befürchtet hatte. Tage nach dem Knochenfund kamen endlich die Ergebnisse der DNA-Analyse und des Zahnbildes. Natürlich handelte es sich um Alex‘ Tochter Antonia. „Ich hätte es wissen müssen …“, murmelte Michael vor sich hin, wurde zusehends nervöser. Nun sah er sich mit dem Problem konfrontiert, Alex von dieser Tatsache erzählen zu müssen, und er konnte beim besten Willen nicht sagen, wie er das tun sollte, da er ihre Reaktion absolut nicht einschätzen konnte.
Sie starrte ihn vorerst nur aus großen Augen an, schüttelte den Kopf, erst langsam und sachte, dann immer wilder. „Nein …“, flüsterte sie, wurde immer lauter, bis sie endlich so laut schrie, ja brüllte, bis einige wenige Kollegen aufgeregt in den Raum gelaufen kamen. Erst jetzt fragte er sich, warum er so dumm gewesen war, es ihr hier im Kommissariat zu erzählen. Was, um alles in der Welt, hatte er denn eigentlich erwartet?
Alex beruhigte sich auch nicht, als der eine oder andere verdattert vor ihr stehen blieb, sie anzusprechen versuchte, ohne von ihr wahrgenommen zu werden. „Verschwindet …“, donnerte sie endlich in einem Ton, der einem einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Michael saß auf seinem Sessel, starrte sie entgeistert an und wusste noch immer nicht, was er mit einer derart aufgelösten Alex anfangen sollte. Dass es nicht einfach werden würde, ihr von der Tragik ihres Falles zu erzählen, ihr gestehen zu müssen, dass er es für besser gehalten hatte, ohne sie die Sache zu bearbeiten, war ihm von vornherein klar gewesen, aber dass es so schlimm werden würde, erschreckte ihn dann doch.
Inzwischen hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie nur mehr stumm vor sich hin weinte, ab und zu laut schniefte sie. Michael hielt es für besser, nach wie vor zu schweigen. Im Augenblick konnte er sie absolut nicht einschätzen, er wusste, dass sie sich in den letzten Jahren an die Hoffnung geklammert hatte, Antonia wäre nur irgendwo abgetaucht und würde irgendwann einmal wieder bei ihr erscheinen, und genau das hatte er jetzt auf die brutalste Weise zerschlagen müssen. Ein wenig konnte er ihren Schmerz sogar verstehen.
Betont langsam erhob er sich, ging auf leisen Sohlen zu ihrem Schreibtisch hinüber und schaute aus mitleidigen Augen auf sie herab. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann …“, begann er, verstummte aber sofort wieder, als ihren vernichtenden Blick bemerkte. „Warum verschwindest du nicht einfach?“, fuhr sie ihn nur an, ohne sein entsetztes Gesicht zu bemerken, denn genau das wollte er in diesem Moment so absolut nicht, wollte ihr doch nur helfen, sie einfach nur trösten. Aber es sah so aus, als wollte sie das alles gar nicht. Je länger er sie beobachtete, umso hilfloser fühlte er sich, auch wenn er selbst nicht verstand, warum das so war.
Da sie absolut keine Anstalten machte, sich auf irgendeine Art und Weise ihm zuzuwenden, schlich er wie ein getretener Hund zu seinem Platz zurück. Warum er sich plötzlich so am Boden zerstört fühlte, wusste er nicht zu sagen, erkannte nur, dass sie ihm wichtig genug war, um seine Hilfsbereitschaft auf den Plan zu rufen. Seufzend setzte er sich, seine Kollegin wieder schweigend beobachtend und darauf hoffend, irgendein Wort von ihr zu hören. Da nichts in dieser Richtung kam, widmete er sich wieder seiner Arbeit, schließlich wollte er den Menschen finden, der Alex und vor allem Antonia das angetan hatte, noch ahnte er nicht, dass genau das nicht so einfach werden würde.
Alex war den restlichen Tag ruhiger, als er es von ihr gewohnt war und erwartet hätte. Er akzeptierte es einfach und sah in ihren wenigen Blicken, die sie ihm zuwarf, wie dankbar sie ihm deshalb war, und so vergrub er sich einfach in seine Arbeit, versuchte ohne ihrer Hilfe weiterzukommen. Brauchte er eine solche, deutete er mit einer Kopfbewegung seinen Kollegen an, ihm einfach zu folgen, besprach außerhalb des Büros dringende Details.
„Ihr braucht mich nicht von eurer Arbeit ausschließen“, stellte sie plötzlich fest, als die Männer den Raum wieder betraten. Erstaunt schauten sie Alex an, entschlossen sich in stiller Übereinkunft diese Bemerkung einfach zu ignorieren, stattdessen meinte Michael nur: „Hast du Lust, mit uns auf einen Kaffee oder ein Bier zu gehen? Vielleicht lenkt es dich ab.“ Bittend schaute er in die rehbraunen Augen, darauf hoffend, dass sie diese Bitte nicht einfach abschlagen konnte. Doch sie schüttelte den Kopf, erst ein wenig zögerlich, aber bald schon ziemlich heftig. Enttäuscht seufzte Michael auf. „Ich möchte dir doch einfach nur helfen, Alex, warum lässt du es denn gar nicht zu?“, wollte er bekümmert wissen. Neugierig geworden beobachtete er sie dabei, wie sie ihren Computer herunterfuhr, sich schließlich an ihm und den Kollegen vorbei drängte und die Tür lautstark hinter sich ins Schloss zog. Sehr irritiert blieben die Männer zurück, zuckten hilflos mit den Schultern, keiner der Drei wusste, wie er richtig reagieren sollte. Sie fühlten sich einfach machtlos ihrem Verhalten gegenüber. Michael reagierte nach wenigen Sekunden als Erster, er lief rasch hinter ihr her, von dem Wunsch beseelt, sie noch am Wagen einholen zu können.
Er schaffte es gerade noch zu sehen, wie sie die Tür hinter sich zuschlug. Alex saß mit an dem Lenkrad gelehnten Kopf im Wagen und schluchzte herzzerreißend. Unbeholfen starrte er kurz auf sie hinab, endlich kam wieder ein wenig Leben in ihn. „Setz dich auf den Beifahrersitz, ich fahr dich nach Hause“, schlug er vor, mit sanfter Gewalt versuchte er, sie vom Fahrersitz wegzuschieben und wunderte sich, dass sie es widerspruchslos mit sich geschehen ließ. In dem Augenblick, als er das Auto startete, entschloss er sich, sie einfach zu sich in seine Wohnung zu nehmen und einfach zu versuchen, mit ihr zu reden.
Zu seinem Erstaunen ließ sie in ihrer Gemütslage alles mit sich geschehen, sie schaute sich nur kurz erstaunt um, als sie in das Haus gingen, in dem Michaels Wohnung lag. Mit hängenden Schultern trottete sie neben ihm her, schniefte noch ab und zu kurz auf, aber die Tränen waren im Großen und Ganzen bereits versiegt. Behutsam schob er sie in sein Wohnzimmer, drückte sie auf den nächstbesten Sessel nieder und meinte, als er bereits auf dem Weg zur Küche war: „Möchtest du vielleicht ein Glas Wein, ich habe einen hervorragenden hier!“ Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, schließlich kannte er ihre Vorlieben, auch wenn sie sich seit dem Verschwinden ihrer Tochter ziemlich abgeschottet hatte. War ihr jedoch alles zu viel geworden, war sie nicht mehr zu bremsen gewesen.
Doch der Knochenfund am Rande von München hatte den ganzen Rest an Hoffnungen zunichte gemacht. Michael schien es, als wäre all das in ihr zusammengebrochen, an das sie sich noch geklammert hatte. So nach und nach schien ihr bewusst zu werden, dass Antonia nie wieder nach Hause kommen würde, doch begreifen wollte sie es noch nicht.
Zaghaft nahm sie das Glas entgegen, sah ihm dabei dankbar in die Augen. „Danke …“, murmelte sie leise, kaum verständlich. Behutsam nippte sie am Wein, während sie ihn dabei beobachtete, wie er sich ihr gegenüber auf dem Sofa niederließ und sie abwartend anschaute. „Keine Ursache, Alex“, meinte er. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er hätte sagen wollen, während der Fahrt hierher war ihm so vieles eingefallen, über das er mit ihr hätte reden wollen. Jetzt war alles einfach weg. Auch er trank einen kleinen Schluck vom Wein, stellte zum wiederholten Maße fest, dass Bier ihm um einiges lieber gewesen wäre …
„Warum habt ihr mich nicht mitarbeiten lassen?“, hörte er sie in die angenehme Stille fragen. Erstaunt, aber auch ein wenig irritiert, schaute er ihr in die Augen. „Fragst du mich das jetzt im Ernst?“, wollte er wissen und fuhr fort, als sie nur sachte nickte: „Ich wollte dich nicht unnötig belasten, Alex, weil ich doch wusste, wie sehr du dich an ihre Heimkehr geklammert hast und wollte dir diese Hoffnung nicht ganz zerstören. Leider ist mir das nicht gelungen …!“ Betroffen senkte er den Blick, konnte einfach nicht mehr in die unendlich traurigen Augen seines Gegenüber schauen, zu sehr machte ihn dieser Schmerz selbst betroffen. Denn er konnte sich durchaus vorstellen, was in Alex vorgehen musste. Es machte ihn verrückt nicht zu wissen, wie er ihr helfen konnte, wie er an sie herankommen sollte. Er spürte durchaus, wie stabil die Mauer war, die sie sich in den letzten fünf Jahren um sich herum aufgebaut hatte, noch schien Alex nicht zu wissen, ob sie diese nun einstürzen lassen sollte oder nicht. Auf Michael machte sie den Eindruck, als hielte sie sich am Weinglas fest, das sie im Moment behutsam zum Munde führte und einen besonders großen Schluck daraus trank.
Ungehalten schnaubte sie erst jetzt auf seine Antwort. „Das wollte ich nicht hören …“, knurrte sie böse, merkte selbst, dass ihr das Sprechen ein wenig schwer fiel und konnte nicht sagen, worauf sie das zurückführen sollte, denn sie hatte ihr Glas noch nicht geleert. Nach und nach merkte sie, dass ihre Augen zu brennen begannen. „Das weiß ich doch, aber stell dir mal vor, ich habe Rücksicht auf dich genommen, und das ist der Dank dafür“, erwiderte Michael langsam, beobachtete sie mit schiefgelegtem Kopf. Alex machte eine wegwerfende Handbewegung, schien ihm nicht glauben zu wollen. „Ach was … diesen Zug kenne ich gar nicht an dir, mach mir also nichts weiß“, fuhr sie ihn an, wagte ihm nicht in die Augen zu schauen, da sie bereits eine kurze Zeit gegen die Tränen in den ihren ankämpfte. Sie spürte jedoch auch, dass sie sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Aus reiner Verlegenheit und nur, um sich abzulenken, nahm sie den letzten Schluck Rotwein, trank ihn rascher, als es ihr eigentlich gut tat und hielt ihm das leere Glas entgegen, ihr Blick wurde bittend, sodass Michael ihr nicht mehr widerstehen konnte.
Während sie auf ihn wartete, starrte sie gedankenverloren vor sich hin. Und plötzlich kam ihr die ganze Tragweite des Geschehens wieder in den Sinn, das ihre Kollegen so gut vor ihr geheim gehalten hatten. Die Tatsache, dass die gefundenen Knochen die ihrer Tochter waren, schlug mit einer Heftigkeit, die sie erschütterte, auf sie ein, dass sie die mühsam zurückgehaltenen Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Sie begann so heftig zu weinen, dass es auch Michael im Raum nebenan mitbekommen musste. Tatsächlich veranlassten ihn die eigenartigen Geräusche dazu, wieder zu Alex in den nebenan liegende Zimmer zu gehen. Erschrocken blickte er auf die Frau, deren Schultern durch das Weinen stark bebten, hinab. Rasch ging er auf sie zu, stellte das gefüllte Glas achtlos auf den Tisch und setzte sich an die Lehne des breiten Sessels. Behutsam umarmte er sie, streichelten anfangs sehr zögerlich über die zitternde Gestalt und merkte, dass sie kaum merklich zusammenzuckte. Deshalb wusste er nicht wirklich, wie er weiter reagieren sollte, doch er beließ es dabei, sie einfach nur sanft zu liebkosen und zu schweigen – mit weinenden Frauen konnte er eindeutig nichts anfangen, stellte er mit Entsetzen fest, auch dann nicht, wenn er mit ihnen befreundet war. Im Augenblick sah er sich eher als Freund denn als Kollege.
Erstaunt beobachtete er Alex dabei, wie sie ihren Kopf an seinen Körper lehnte. Er konnte das Beben spüren, dass den ihren noch immer erschüttern musste. Sein Blick musterte sie mitleidig, konnte gerade noch sein Seufzen unterdrücken, um ihr nicht zu zeigen, dass er sich ein wenig überfordert fühlte. Aber er hatte sich in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen, also würde er es bis zum Schluss durchhalten. Und er begann seine Vorhaben mit einer Energie durchzuziehen, die seine Freunde immer wieder mit einem Anflug von Anerkennung bemerkten.
Nach und nach merkte er, wie sie sich beruhigte, die Tränen schienen an diesem Abend endgültig zu versiegen, auch wenn er wusste, das es noch eine sehr lange Zeit dauern würde, bis sie über diesen Schmerz hinweg gekommen sein würde. „Alex …“, begann er das vor Minuten eingeschlafene Gespräch fortzuführen. Es dauerte Sekunden, bis sie auf ihren Namen reagierte. Besonders langsam, ja fast schon zaghaft hob sie den Kopf und schaute in seine Augen, ihr Blick wurde fragend. Er verstand es, dass sie absolut keine Lust hatte, mit ihm zu sprechen, aber er wollte ihr unbedingt sagen, was ihm wichtig schien. „Weißt du, Alex, du solltest auf alle Fälle wissen, dass ich in der nächsten Zeit für dich da sein werde, ich möchte dir helfen, wieder auf die Beine zu kommen“, stellte er sein Anliegen dar, machte sich im Stillen auf eine abwertende Reaktion gefasst. Als sie seiner Meinung nach viel zu lange schwieg, befürchtete er schon, dass sie nicht verstanden haben könnte, was er gesagt hatte. Doch sie reagierte rascher als er es für möglich gehalten hatte. Er sah, wie sich Falten auf ihre Stirn legten und sie über sein Ansinnen nachzudenken schien. „Das würdest du echt für mich tun?“, hinterfragte sie sein Angebot. Bedächtig nickte er. „Würde ich es dir sonst vorschlagen? Immerhin sind wir Freunde“, bemerkte er, „und die sind doch dafür da, dem anderen zu helfen!“ „Ich weiß … aber ich habe Angst, dass es dir vielleicht zu viel werden könnte“, hielt sie dagegen.
Kaum merklich seufzte er vor sich hin, weil er genau wusste, dass ihre Befürchtung durchaus zutreffen könnte, aber er hütete sich, genau das zu sagen. Deshalb schüttelte er leicht den Kopf. „Was du schon wieder denkst … aber es gibt doch so viele Menschen, die dich lieben und aus diesem Grund für dich da sein werden“, stellte Michael fest, „du siehst, du bist nicht allein, Alex …“ Er schwieg plötzlich, da er mit einem Male nicht mehr weiter wusste. Außerdem hatte er unheimliche Angst, sich um Kopf und Kragen zu reden. Alex schien das gar nicht zu merken, sie schien über seine Worte angestrengt nachzudenken, Michael beschloss für sich, ihr alle Zeit der Welt dafür zu geben. „Aber du bist der einzige meiner Freunde, der jederzeit kommt, wenn ich ihn brauche“, murmelte sie, „und dafür bin ich dir unheimlich dankbar, auch wenn ich vermutlich ein hoffnungsloser Fall sein werde …“