Und wieder mal eine neue Story von mir. Sie ist nahezu fertig, also kann ich sie zügig online stellen, ohne große Pausen. Vom Stil her ist sie ungewöhnlich, das werdet ihr schnell merken. Aber mir persönlich gefällt sie. Ich hoffe euch auch. Dass sie am Anfang ein wenig verwirrend ist, ist gewollt und schreckt euch hoffentlich nicht ab.
Münchner Freiheit
Einleitung: Längst vergessene Träume
Erschrocken wachte er auf und sah sich hastig um. Aber da war nichts. Nur die Wände seines Schlafzimmers. Die Heizung rauschte ganz leise, verbreitete dabei eine Wärme und Gemütlichkeit, die nicht zu dem passte, was er im Traum gerade durchlebt hatte. Langsam ließ er den angehaltenen Atem entweichen und zog sich die Decke höher, bis unter das Kinn. Er fühlte überdeutlich die Wärme, den weichen Stoff seines T-Shirts und des Lakens, das bequeme Kissen. Wäre er auf einem kalten Steinfußboden aufgewacht, mit dem Kopf auf alten Zeitungen und einer alten, zerrissenen Decke über dem zitternden Körper, wäre er jetzt wesentlich ruhiger gewesen. Denn das hätte irgendwie besser gepasst. Der Traum der letzten Nacht hatte ihn dorthin entführt, wo er lange nicht mehr gewesen war. In die Vergangenheit. Zurück auf die Straßen von München, wo er groß geworden war. Zurück in die Kälte, die Einsamkeit, die Angst, die er durchlebt hatte. Jede Nacht. Aber damals war er nie in einem weichen Bett aus seinen Alpträumen aufgewacht. Er strich sich über das schweißnasse Gesicht und schloss die Augen. In dem Moment klingelte sein Wecker und riss ihn endgültig in die Realität. Er sah das Gerät böse an und stellte es aus. Der Wecker hatte ja Recht. Er musste aufstehen, sich fertig machen. Heute war ein wichtiger Tag. Er würde die Stelle wechseln, neue Kollegen bekommen und damit die Möglichkeit, noch mehr aus sich zu machen. Wieder dachte er an seinen Traum und damit an seine Vergangenheit. Wenn die einer seiner Vorgesetzten kennen würde, hätte er keine Arbeit. Dann dürfte er seinen Job überhaupt nicht ausüben. Aber er war ja nicht dumm. Die Fähigkeit, die ihm ermöglicht hatte, nach Jahren auf der Straße den Realschulabschluss und sogar das Abitur zu machen und das binnen vier Jahre, eben diese Fähigkeit hatte dafür gesorgt, dass niemals die falschen Leute erfahren hatten, wer er wirklich war. Sie kannten nur den Straßenjungen, der ständig Ärger gemacht hatte. Der mit 13 plötzlich in München aufgetaucht war und mit 17 wieder verschwand. Aber dass er dieser Junge war, wusste niemand. Und auch er selber hatte es fast vergessen. Bis zur letzten Nacht.
Langsam setzte er sich im Bett auf, fühlte wieder die Wärme um sich herum und zum ersten Mal seit Jahren genoss er diese Alltäglichkeit ganz bewusst. Es war etwas so Kostbares, doch nahezu kein Mensch nahm das wahr. Ein Dach über dem Kopf, ein Bett, eine Decke, saubere Sachen, die man sich nach Gefallen aussuchen konnte. Besaß doch jeder, oder? Ein trauriges Funkeln erschien in seinen Augen. Er wusste es besser. Viel besser. Bisher hatte er die Erinnerung immer gut verdrängen können, nachdem er von der Straße wieder ins normale Leben zurück gekehrt war, aber jetzt wollte sie unbedingt wieder nach oben. Er wusste nicht wieso, aber er ließ es zu, während er noch eine Weile im Bett saß, dann aufstand und langsam ins Bad ging. Er erinnerte sich an die Zeit, als er lernte, dass es manchmal besser war, kein Zuhause zu haben, als das, was er gehabt hatte.
"Du bist so ein Nichtsnutz, ein Tölpel und dämlich noch dazu. Du bist nicht besser als deine Schlampe von einer Mutter, du verzogener Lümmel." Mit diesen Worten schlug der Mann zu. Seine langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, während er seine Faust gegen den Kiefer seines Sohnes hämmerte, der ängstlich in der Ecke seines kargen Kinderzimmers gekauert hatte. Das furchtsame Funkeln und die Tränen in den blauen Augen des Jungen ließ ihn noch wütender werden. Er riss ihn vom Boden hoch und stieß ihn auf das Bett. Drohend baute er sich über ihm auf. "Du kannst nicht mein Sohn sein. So etwas Dämliches wie dich kann ich nicht gezeugt haben. Wahrscheinlich ist diese Hure mir fremd gegangen und ich muss jetzt aus dir einen vernünftigen Menschen machen." Er knurrte drohend. "Aber das kriege ich schon hin." Der Junge rollte sich zitternd zusammen und blickte hilfesuchend zur Tür, wo seine Mutter stand und weinte. Jedes Mal, wenn sein Vater ihn aus irgendeinem nichtigen Anlass zusammenschlug, hoffte er, dass sie ihm helfen würde. Aber jedes Mal stand sie nur ängstlich da, weinte und wartete, dass dieser Tyrann auch sie verprügeln würde. So war es immer gewesen, so lange er denken konnte. "Ich hätte ihn dir damals aus dem Leib treten sollen, so wie ich es dir angedroht habe, dann wäre uns diese Scheiße hier erspart geblieben." Langsam richtet er sich auf und stieß seine Frau zur Seite. Diese vermied es, ihm zu sagen, dass er das ja versucht hatte. Aber die Ärzte hatten den Jungen damals retten können und auch sie selber. Ob das ein Glück war, vermochte sie nicht zu entscheiden. Beide blickten in Richtung Wohnzimmer, in welchem der Hausherr verschwunden war. Jetzt war es wieder soweit. Er würde den Rohrstock holen, den er irgendwann einmal von einem freundlichen Händler auf einem Trödelmarkt gekauft hatte. Er hatte sich ganz lange mit dem Mann unterhalten, über einen Gummibaum, der eine feste Stütze brauchte. Der freundliche Händler konnte ja nicht wissen, wozu der Stock wirklich da war und dass von diesem Tag an ein kleines Kind schrecklich unter regelmäßiger Prügel leiden würde. Und in die panischen Augen des kleinen Jungen, der dort an der Hand seines Vater stand und wartete, schaute er nicht. Panik stieg in ihm hoch, als er sich vom Bett aufrappelte und zu seiner Schultasche stürzte. Er hatte eine Vier nach Hause gebracht, der Grund für den Ärger im Moment. Wie sollte er auch lernen, wenn er es kaum wagte, zu Hause zu atmen? Wenn er die meiste Zeit vor Schmerzen kaum sitzen konnte, oder dabei zuhören musste, wie sein Vater seine Mutter anbrüllte, schlug oder noch schlimmere Dinge tat. Aber heute hatte er nicht nur die Vier mitgebracht. Seine zitternden Finger schlossen sich um das kalte Metall des Taschenmessers, welches er einem Lehrer gestohlen hatte. Der Mann, der Biologie unterrichtete, hatte es für ein Experiment gebraucht und dann auf dem Tisch liegen lassen. Jetzt würde es einem anderen Zweck dienen. Als er sich langsam umdrehte, sah er seiner Mutter in die Augen. Sie wich seinem Blick aus und sah auf seine Hand mit dem Messer. Und sie lächelte und nickte ihm zu. Mehr tat sie nicht. Wie immer. Wenn ihr Mann nicht zu Hause war, half sie ihm bei den Schularbeiten, kuschelte mit ihm. Aber nie redeten sie über ihr gemeinsames Problem. Und wenn ihr Mann nach Hause kam, wurde sie zu einem Geist, der ängstlich an irgendeine Wand gedrückt in der Wohnung stand. Farblos, formlos und vor allem kraftlos. Er hasste sie dafür. Natürlich bekam sie genug Prügel ab, aber er war doch ihr Sohn. Wie konnte sie es zulassen, dass ihr Mann, dass sein Vater ihn bis zur Bewusstlosigkeit schlug. Irgendwann hatte er beschlossen, dass er nicht mehr wollte. Er wollte raus und heute war der Tag. Nicht noch einmal würde er diese Schmerzen ertragen. Heute war der Tag der Befreiung. Er hatte einen kleinen Rucksack gepackt. Mit seiner Lieblingshose, einem Pullover, seiner Jacke, etwas Unterwäsche, Strümpfen und ein wenig Essen. Jetzt musste er nur noch an seinem Vater vorbei. Einfach nur bis zur Haustür kommen und dann rennen und nie mehr anhalten oder zurücksehen. Der Mann kam nach einigen Minuten langsam und drohend, mit dem Rohrstock in der Hand, in das Zimmer und fuhr den verschüchterten Jungen an: "Hose runter, sonst mache ich es." "Nein", sagte er zitternd, aber doch mit einer recht festen Stimme. Ein donnerndes Lachen war die Folge. "Du Rotzlöffel wagst es auch noch, dich zu weigern? Sei mir gefälligst dankbar, dass ich versuche, dich zu einem guten Menschen zu erziehen." Sein Blick wurde finster, die Augen verengten sich zu Schlitzen, als er langsam auf ihn zuging. Seine freie Hand umschloss den Oberarm seines Kindes. Der Junge schrie leise auf, hatte das Gefühl, dass seine Knochen brechen würden. Doch er hatte auf genau den Moment gehofft. Mit einer von Angst und Hilflosigkeit geführten Bewegung holte er blitzschnell aus und rammte seinem Peiniger das Messer in den Arm, knapp über dem Handgelenk. Blut sprudelte aus der Wunde hervor und der Mann sank mit einem Aufschrei auf die Knie. "Du Bastard", schrie er. "Du verdammter Hurensohn. Dich bring ich um." Er wollte sich auf ihn stürzen, doch der Blutverlust war so stark, dass er taumelte und wieder hinfiel. Ängstlich lief der Junge um ihn herum und hieb ihm mit aller Kraft das Messer mehrfach in die Waden und Oberschenkel. Er wollte seinen Vater nicht töten, aber er wollte verhindern, dass der ihm folgen konnte. Er wusste, dass er einen guten Vorsprung brauchte und ein Versteck. "Nie wieder wirst du mich schlagen", sagte er zu dem halb bewusstlosen Mann, der endlich nicht mehr brüllte und zog das Messer aus der letzten Wunde. Dann nahm er seinen Rucksack auf den Rücken und drückte seiner Mutter das Messer in die Hand. "Sag den Bullen ruhig, dass ich es war. Sollen Sie mich doch suchen. Ich bin weg." Damit ging er zur Tür. "Junge." Mit Tränen in den Augen sah sie ihm nach, als er stehen blieb und sich kurz umdrehte. "Es tut mir so leid." "Zu spät", sagte er tonlos und verließ die Wohnung. Hierher wollte nie wieder zurückkehren. Er hatte jetzt kein Zuhause mehr.
*Mund offen stehen hab*.....ich bin nicht mehr in der Lage ein gescheites Kommi da zu lassen...ich hoffe meine Sprachlosigkeit ist auch als Kommi gültig ich bin echt baff
Was für ein Anfang!!! Bin echt platt. Wiss nicht was ich dazu sagen soll , außer RESPEKT. Wirklich einsame Klasse. Bin sehr gespannt wie es weitergeht und wer dieser "Junge" ist. Obwohl ich ja eine Vermutung habe.
Mich hat es soo sehr mit in dem Bann gezogen, dass ich sogar die Luft angehalten habe, als der Junge dem Vater das Messer in die Hand gestochen hat... echt toll geschrieben..
Tränen brannten in seinen Augen und er konnte die Schmerzen der Schläge jetzt noch fühlen, obwohl es mehr als 10 Jahre her war. Aber vor allem die Hilflosigkeit brannte in ihm. Er fragte sich für einen Moment, ob er heute wohl die Kraft hätte, sich zu wehren, wenn sein Vater plötzlich vor ihm stünde. Dann lächelte er und nickte. Natürlich hatte er die. Er hatte die Kraft, die Größe und den Mut. Aber damals war er eben erst 13 gewesen. Ein Kind. Seine Mutter hatte nicht die Kraft gehabt, ihn zu schützen. Was blieb ihm also anderes übrig, um sein Leben zu retten, als zu fliehen? Polizei, Jugendamt, sowas hatte er damals nicht gekannt. Und ob man ihm wirklich geholfen hätte, bezweifelte er heute noch. Denn natürlich hatten seine Lehrer bemerkt, dass er immer sehr ruhig war. Sie hatten die Verletzungen sehen müssen, es war einfach alles zu offensichtlich gewesen. Aber nie hatte ihn jemand gefragt, ob alles in Ordnung war. Nie hatte jemand versucht, ihm zu helfen. Also musste er sich selber helfen. Heute, wo er ständig mit Opfern, Tätern und wegschauenden Menschen zu tun hatte, verstand er etwas besser, was damals schief gelaufen war. Aber verstehen und Verständnis haben, sind zwei paar Schuhe. Denn Verständnis hatte er wirklich nicht. Und wer seine Vergangenheit kannte, konnte ihn dafür nicht verurteilen. Aber seine Vergangenheit kannte ja niemand der Menschen, mit denen er heute zu tun hatte. Es waren zwei Welten und es gab keine Berührungspunkte dieser Welten miteinander. Der einzige Berührungspunkt war er selber und er hatte immer geschwiegen. Langsam zog er sich aus und wand dem Spiegel den Rücken zu. Er verrenkte den Kopf und besah sich seine Haut. Einige der Narben, die die Schläge seines Vaters hinterlassen hatten, waren noch heute zu sehen. Sie begleiteten ihn und würden ihn für den Rest seines Lebens daran erinnern, dass Gewalt keine Lösung ist. Mit einem leisen Seufzen trat er unter die Dusche. Als die ersten kalten Tropfen auf seinen Körper plätscherten, konnte er mit einem Mal die Kälte und den Regen wieder spüren.
Den Regen, der ihn an seinem ersten Abend auf der Straße begleitet hatte. Der Regen, der seine Tränen weggewaschen hatte, die er aus Angst vor der Rache seines Vaters und vor Hilflosigkeit weinte. Er war 13 Jahre alt und hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte. Er hatte ein paar Kekse dabei, einige Gummitiere, die er seinem alten Herrn geklaut hatte, einige Scheiben Brot und eine Tafel Schokolade. Außerdem hatte er seiner Mutter 20 Mark aus dem Portmonee genommen. Er erinnerte sich an ihren Blick, als sie es sah. Gesagt hatte sie nichts. Aber das war egal, jetzt war er frei. Jetzt musste er irgendwo Anschluss finden, eine Art neue Familie. Leute, die ihm zeigten, wie er hier auf der Straße überleben konnte. Also ging er zu einem Abbruchhaus eine halbe Stunde Fußweg von seiner elterlichen Wohnung entfernt, wo er oft gewesen war. Er hatte sich dort herumgedrückt, weil er die Punks, die dort lebten, so cool fand. Sie hielten sich an keine Regeln, taten was sie wollten, tranken, lachten und feierten laute Partys. Sie trugen coole Klamotten und hatten bunte Haare. Ihre Welt hatte ihn fasziniert, seit er einmal an diesem Haus vorbei gelaufen war. Klatschnass kam er an dem Haus an. Er hörte sie drinnen lachen und rumoren. Flaschen klirrten. Jetzt musste er mutig sein. Er atmete tief durch und betrat das Haus. Fenster gab es im eigentlichen Sinn nicht mehr. Wo der Wind durch die zerbrochenen Scheiben rauschte, trieb er Wasser ins Haus. Der Regen vermischte sich auf dem Boden und an den Wänden mit Staub und bröckelndem Mörtel. Die Treppe, die nach oben führte, war noch aus Holz und sah alles andere als sicher aus. Er setzte einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe. Sie knarrte laut und oben wurde es augenblicklich ruhig. Zwei junge Männer in Lederjacken traten auf den Treppenabsatz im ersten Stock. "Hallo?", rief eine tiefe Stimme. Schritte kamen nach unten bis auf den Zwischenabsatz. "Ach du bist es", sagte der Punk, dessen Haare zu festen, roten Stacheln hochgegelt waren. "Komm hoch, Kleiner." Damit ging er wieder nach oben. "Ist nur der kleine, dürre Junge, der schon ein paar Mal hier rumgestrolcht ist." Er ging langsam nach oben und kam in einen Raum, wo es fürchterlich stank. Matratzen lagen auf dem Boden herum, Klamotten, Zigarettenkippen, Flaschen und Essen, was teilweise halb vergammelt war. Der Punk mit den roten Haaren schaltete die Musik wieder ein, indem er einen Knopf an dem alten Kassettenrekorder drückte, der im Raum stand. Das Gerät lief über Batterien, da es in dem Haus natürlich keinen Strom gab. "Na, Kleiner? Was suchst du hier?" Ein Mädchen, vielleicht 15, mit langen, schwarzen Haaren, dunklem Lidschatten und schwarz gemalten Lippen musterte ihn von oben bis unten. "Außer einem Handtuch." Die anderen lachten. "Du bist schon öfter hier rumgeschlichen. Ich habe dich gesehen. Aber du wolltest hier wohl kaum was klauen. Das wäre dämlich. Wir habe nichts und wir sind hier, wie man unschwer hören konnte. Und dämlich siehst du nicht aus." "Ich wollte bestimmt nichts klauen", versicherte er schnell. "Aber… ich wusste nicht wohin…" "Ich bin Raven", sagte das schwarzhaarige Mädchen und reichte ihm die Hand. "Und wie heißt du?" Er zögerte. "Das ist doch egal." "Egal ist ein blöder Name", sagte sie und nahm seine Hand. "Du bist eiskalt und verdammt dünn. Dein Alter schlägt dich nicht nur, der lässt dich wohl auch hungern?" "Mein… also…" "Ich bin Devil", sagte der junge Mann mit dem Stachelkopf. "Der Anführer hier. Und hör auf. Du kommst doch nicht fast täglich mit neuen Schrammen und blauen Flecken hier vorbei, wenn es dir zu Hause gut geht." Er nahm sein Kinn in seine Hand und drehte dessen Kopf zum Fenster hin. "Du bist nur Haut und Knochen. Wir nennen dich Bones." "Bones?", fragte er neugierig. "Es heißt Knochen, auf Englisch. Und ziemlich hart bist ja anscheinend." Er lächelte und deutete auf einen Jungen mit blauen und grünen Haaren, der dümmlich grinsend an der Wand saß und mit einer Flasche herumspielte. "Das ist Zecke, aber der ist mal wieder so besoffen, dass er wahrscheinlich noch nicht einmal mitbekommen hat, dass du da bist. Raven ist seine Freundin. Und die junge Dame dort ist Micki." Das blonde Mädchen, welches vielleicht 18 war und damit so alt wie Devil, nickte ihm zu. Sie spielt mit einer der lila Strähnen, die ihre hellen Haare durchzogen. "Ich bin Dealer", sagte der anderen junge Mann, der noch im Raum war. Sein Alter war kaum einzuschätzen, da man sein Gesicht unter dem Vorhang seiner Haare kaum sah. Er hatte sie in einer Farbe gefärbt, die schmutzig grün aussah. Dieser Typ war ihm unheimlich. Bones nickte leicht. "Hallo, Leute." Jetzt hatte er also einen Namen. Einen Namen für die Straße. Das war auch gut so. Denn sein normales Ich hatte er ja zu Hause gelassen. Er sah Devil jetzt offen an. "Kann ich ´ne Weile hier bleiben? Bis ich weiß, wohin?" "Klar. Kein Problem. Aber du musst uns helfen, Geld zu verdienen, für Alk und Essen." "Und wie?" "Schnorren. Du bist so schmal, das sollte dir helfen. Mit dir hat doch jeder Mitleid." Bones lachte böse auf. "Klar. Alle. Nur nicht mein Alter, der mich halb tot geschlagen hat, meine Mutter, die heulend daneben gestanden hat, meine Lehrer, die mich für sehr ruhig hielten." Micki nickte und zog ihn in seine Arme. "Das kenne ich. Aber glaub mir, Bones, es gibt Schlimmeres als Schläge." Er schluchzte und sah ihr in die grünen Augen. "Wie meinst du das?" "Mein Vater kam jede Nacht in mein Zimmer und hat mit mir geschlafen. Mein Mutter lag im Schlafzimmer und hat meine Hilferufe gehört, mein Schluchzen, aber auch sie ist nicht gekommen und hat mir geholfen." "Sind alle Väter so mies?", fragte er leise. Dealer lachte leise. "Mein Alter war voll cool, aber leider hat er zu viel gesoffen und vor vier Jahren ins Gras gebissen. Dann bin ich weg von meiner Alten. Die hatte einfach ständig andere Typen." Er grinste den Jungen an. "Wenn sie wenigstens Geld von den Kerlen genommen hätte." Auch die anderen lachten. Bones verstand den Witz nicht richtig, lächelte aber mit. Er würde es schon noch lernen, wovon die anderen redeten.
Das Wasser, welches über seinen Körper lief, war inzwischen warm. Die Seife, mit der er sich abrieb, duftete nach irgendwelchen Chemikalien, herb und frisch. Er fühlte sich jetzt richtig wohl hier, erwachte langsam aus dem Albtraum der vergangenen Nacht. Genauso wie er damals erwacht war, als er aus dem Alptraum seiner Kindheit ausbrach. Genauso wohl wie jetzt in seinem Bad, hatte er sich auch gefühlt, während des Herbstes, als er für zwei Monate in dem Abbruchhaus bei den Punks lebte. Bis er dann wieder gegangen war.
Devil und seine Leute hatten ihn aufgenommen wie ein Maskottchen. Natürlich wurde er schnell das mitgebrachte Essen los und auch die 20 Mark von seiner Mutter. Er bekam zwei Dosen Bier, den Rest des Alkohols kippten die anderen hinter. Um nicht als Weichei dazustehen, trank er es, obwohl er vorher noch nie Alkohol zu sich genommen hatte. Sie nahmen ihn mit auf die Straße und Devil hatte Recht gehabt. Er machte ein bemitleidenswertes Gesicht und schon bekam er Geld von den Passanten auf der Straße. Für die Fahrkarte mit dem Bus, die ihm andere Schüler geklaut hatten, für Essen, für Trinken, für ein Telefonat nach Hause. Jeden Pfennig, den er bekam, gab er Devil und der sorgte dafür, dass Bones immer zu Essen hatte. Die Mädchen kümmerte sich um sein Aussehen, zeigten ihm, wie man im Geschäft Sachen klauen konnte und zogen ihn so an, dass es nicht mehr auffiel, dass er erst vor Kurzem von Zuhause weg war. Und sie färbten ihm die schulterlangen Haare. Jede Woche hatte er eine neue Frisur, jede Woche eine neue Farbe. Mal rot, mal gelb, blau, grün, lila, bunt. Er ließ sich alles gefallen. Da er nicht mehr zur Schule ging, hatte er ja genug Zeit. Was ihm nicht gefiel war Dealer, der ständig bei ihm war, wenn er allein war. Er schaute ihn durch seinen Haarvorhang an, sprach nie mit ihm, aber immer wieder streiften ihn seine Hände. Also vermied Bones es, zu viel mit Dealer allein zu sein. Ende Oktober wurde es immer kälter. Devil hatte einen Tipp für einen Bruch bekommen und nahm die Mädchen und Zecke mit. Dealer hatte sich bei einer Schlägerei mit der Polizei verletzt und sollte auf die Sachen aufpassen und Bones sollte ihm helfen. "Hier, nimm die Pillen", bot Dealer ihm an. Es war das erste Mal, dass er direkt mit ihm sprach. "Dann ist es nicht mehr so kalt." Bones nickte und schluckte die zwei Tabletten. Er ahnte, dass es Drogen waren, aber das war egal. Er fror jämmerlich und alles, was wärmte, war gut. Er kippte ein Bier hinterher, weil ihm eine der Pillen im Hals hängen geblieben war und wartete, dass etwas passierte. Aber nichts geschah. Schweigend saßen die beiden im Zimmer, in Decken gehüllt und warteten, dass die anderen zurück kommen sollten. Die Zeit verging. Es wurde dunkler und dunkler und mit einem Mal setzte die Wirkung der Tabletten ein. Bones spürte, wie ihm heiß wurde. Ihm war schwindlig und gleichzeitig fühlte er sich so stark wie nie zuvor. In dem relativ dunklen Zimmer, welches nur von einer Kerze erhellt wurde, schien die Sonne aufzugehen. Die Flamme wurde größer und größer und leuchtete so hell, dass Bones die Augen schließen musste, um nicht geblendet zu werden. Als er sie wieder öffnete, waren die Farben sanfter geworden und er fühlte sich eingehüllt in eine rot-gelb-orangefarbene Decke. Lächelnd blickte er die triste Wand an, wo jetzt die Farben miteinander zu spielen schienen und genoss dieses Wattegefühl in seinem Kopf. Er hatte keine Sorgen mehr und keine Angst. Auch nicht als Dealer sich neben ihn setzte und anfing, ihn zu streicheln. Er spürte die warmen Hände des Mannes auf seiner Haut, der ihn langsam auszog und ihn dann auf den Bauch legte. Bis plötzlich Devil und die anderen im Raum standen. Devil zog Dealer hoch und verpasste ihm einen Kinnhaken, dann deckte er Bones vorsichtig zu. Aber das bekam der schon nicht mehr mit, denn die Drogen und der Alkohol waren zuviel gewesen. Er war fest eingeschlafen. Am nächsten Morgen war sein Bett dann leer. Er war gegangen, als er aufgewacht war und kehrte nie wieder zu der Gruppe zurück. Wieder hatte er eine wichtige Lektion gelernt. Wenn er nicht ausgenutzt werden wollte, musste er sich allein durchschlagen.
Danke für das Kommi und ja, wer sonst? Es geht ja um ihn.
3. Kapitel: Vom Kind zum Mann
Nach der ausführlichen Dusche trocknete er sich gründlich ab. Er blickte in den Spiegel. Auf seiner Stirn war immer noch die Narbe zu sehen, die er sich mit 10 zugezogen hatte, als sein Vater ihn mit dem Kopf auf die Tischkante seines Schreibtisches gehauen hatte. Aber ansonsten erinnerte nichts mehr an den hilflosen, kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. Sein Augen strahlten heute vor Selbstbewusstsein. Schlank war er noch immer, aber das lag wohl einfach in seinen Genen, denn er konnte Essen soviel er wollte und nahm nicht zu. Der Schatten seines Bartes gefiel ihm nicht. Also rasierte er sich. Er sah ja aus wie ein Strauchdieb. Und das war er ja nun nicht mehr. Während er sich in sein Schlafzimmer begab und in seinen Sachen herumwühlte, um etwas Passendes für sich zu finden, dachte er an die Zeit, als er allein gelebt hatte. Das war vom November bis zum darauf folgenden Jahr im Juli. Eine lange und sehr harte Zeit.
Zum Glück hatte er bei Devil und den anderen ein paar Tricks gelernt, um zu überleben. Sie hatten ihm gezeigt, wie man an Geldbörsen kam und auch, wie man in Läden klaute, ohne erwischt zu werden. Trotz seiner Punkfrisur, war Bones noch so kindlich und normal aussehend, dass die meisten Ladenbesitzer ihn für einen harmlosen Jugendlichen hielten, der einfach ein wenig gegen die Erwachsenen rebellierte und sich die Haare färbte, um seine Eltern zu ärgern. Dass er auf der Straße lebte, sah man ihm jedenfalls nicht an. Das Schnorren lief deshalb auch relativ gut. Aber Bones brauchte ein Dach über dem Kopf. Irgendein Ort, wo er leben konnte, wenn es draußen zu ungemütlich war. Aber wie sollte er den finden? Bisher war er ja nie aus dem Stadtteil rausgekommen, in dem er gelebt hatte. Und dorthin wollte er auf keinen Fall zurück. Also lief er einfach los. Er erinnerte sich nicht genau, was in der Nacht mit Dealer passiert war und er war nicht traurig deshalb. Da er aber unverletzt war, war Devil wohl noch zeitig genug gekommen. Er war dem Punk dankbar, dass der ihn gerettet hatte, aber er wollte möglichst weit weg von Dealer. Tagelang lief er durch die Stadt, sah sich Villenviertel an, Hochhausgegenden, Parks und Fabrikanlagen. Und hier fand er schließlich an einem Abend, an welchem eiskalter Schneeregen vom Himmel fiel, ein neues Zuhause. Wenn man ehrlich war, war es ein Loch, aber für ihn war es ein Paradies, denn es gab Einrichtung. In dem kleinen Haus am Rande eines stillgelegten Fabrikgeländes gab es einen Ofen, einen Tisch, eine alte Öllampe, Öl dafür und eine zerlumpte Decke. Hier musste ein Wachmann gewohnt haben. Bones fand in einer Kiste Aufzeichnungen darüber, wer wann auf dem Gelände ein- und ausgegangen war. Außerdem lagen dort Handschellen und eine Taschenlampe. Er nahm die Sachen an sich. Sogar ein Schloss mit Schlüssel lag in der Kiste. Hier konnte er also seine Sachen einschließen. Natürlich war das Schloss kein Hindernis für jemanden, der unbedingt an den Inhalt wollte, aber es vermittelte irgendwie Schutz. Mit den Fingern klopfte er die Kiste ab und merkte, dass der Boden hohl klang. Er versuchte eine Weile, ihn anzuheben, bis es ihm schließlich gelang. Jetzt sah er auch, dass die Kiste viel tiefer sein musste, als sie bisher von innen ausgesehen hatte. In dem versteckten Fach lagen aber zu Bones Leidwesen weder Schätze noch Bargeld, sondern nur ein paar alte Bücher. Etwas enttäuscht nahm er eines heraus. Ein Buch über einfach Mathematik. In einem weiteren wurde die englische Sprache erklärt. Es waren alles Lehrbücher. Genervt legte Bones sie wieder zurück. Wochen später dachte er wieder an sie und fing an zu lesen und zu lernen. Es war vielleicht nicht schlecht, nicht total zu verblöden. Wissen konnte einem auch auf der Straße nützlich sein.
Die Tage und Wochen vergingen, Bones magerte immer mehr ab. Um nicht zu doll zu frieren, trank er auch immer mehr und nahm hin und wieder Drogen, wenn er günstig an welche rankam. Leider war das ziemlich teuer und er bekam immer schlechter die Kohle fürs tägliche Leben zusammen. Und in den Läden wurde er inzwischen misstrauisch beäugt. Er musste sich etwas einfallen lassen. Heilig Abend war es am schlimmsten. Er lief durch die verschneiten Straßen, fror jämmerlich und konnte sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten. Er brauchte etwas Vernünftiges zu essen und irgendetwas, um sich zuzudröhnen. Traurig dachte er an Weihnachten zu Hause. Sein Vater war immer sehr lieb gewesen zu Heilig Abend. Es gab Gans und Grünkohl, Kartoffelsalat und Würstchen, Saft, Kekse und Schokolade. Tränen liefen über sein Gesicht, als er daran dachte. Er zog seine Jacke enger, während er durch ein Einkaufszentrum lief, welches zum Glück noch offen hatte. Hier war es wenigstens nicht so kalt wie draußen. Doch die glücklichen Familien sehen zu müssen, das Strahlen in den Augen der Kinder, das Lächeln ihrer Eltern, tat unglaublich weh. Ein Mann lief vor ihm her. Aus seinem Mantel schaute eine dicke Brieftasche. Bones konnte die vielen Scheine förmlich riechen. Sein Blick hing an der Geldbörse fest, so sah er sich den Besitzer nicht genau an. Und im nächsten Moment hatte er die Börse in der Hand und rannte Richtung Ausgang. Eigentlich war er immer sehr vorsichtig auf seinen Beutezügen, aber heute war er einfach nicht bei der Sache. So machte er zwei Fehler. Er stahl auf fremdem Gebiet, wo er sich nicht genau auskannte und er hatte sich den Besitzer der Geldbörse nicht angesehen. Sonst stahl er nur von alten Leuten, die ihm auf keinen Fall folgen konnten. Als eine starke Hand ihn ergriff und um eine Ecke zog, wusste er, dass er verloren hatte. Der breitschultrige Mann mit dem südländischen Aussehen sah ihn grimmig an. "Pech gehabt, Hosenscheißer. Den Boss beklaut man nicht." Bones schluckte. So redeten Leibwächter. Und das hieß, er hatte von einem Mann Geld gestohlen, der seinen eigenen Gesetzen folgte. Und der kam jetzt auch gemütlich um die Ecke geschlendert. Bones Augen wurden weit. Er kannte den Typen. Iwan der Schreckliche war ein Zuhälter und Besitzer des Purple Palace, einem Bordell in der Innenstadt. Auf der Straße kannte man ihn und jeder hatte Angst, denn mit Feinden kannte er keine Gnade. "Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für die Tat", sagte der Russe mit starkem Akzent. Bones schluckte, wollte ihm eine trotzige Antwort geben, aber es ging einfach nicht. Er war fertig mit den Nerven und hatte Todesangst. In diesem Moment brach die noch bröcklige Fassade zusammen, die er sich aufgebaut hatte und er schluchzte los. Langsam sank er auf die Knie und bettelte Iwan um Entschuldigung. Er erzählte ihm, was sein Vater mit ihm gemacht hatte und wie er auf der Straße gelandet war. Und dass er einfach Hunger hatte. Iwan nahm ihn am Arm und zog ihn auf die Füße. "Jetzt hör mal auf mit heulen, Kleiner. Wie heißt du?" "Bones." "Also Bones, hör mir mal zu. Ich habe auch auf der Straße gelebt und kenne das. Hunger und Kälte sind Scheiße, gerade an den ersten Weihnachten, ich weiß. Du kommst jetzt mal mit in meinen Club und dann werden wir dich erst mal ein wenig mästen. Wir finden schon was zu essen für dich." Schluchzend lief Bones neben dem Mann her. Er hatte immer noch Angst, aber die Kälte und seine Schwäche lähmten seine Gedanken und so versuchte er gar nicht erst, zu fliehen. Er wäre sowieso nicht weit gekommen. Im Purple Palace schließlich erlebte Bones doch so etwas wie Weihnachten und lernte gleichzeitig sehr viel über das Leben auf der Straße. Die Huren im Bordell fanden den Jungen niedlich und lebten ihre Muttergefühle an ihm aus. Sie zogen ihn aus, wuschen ihn, kleideten ihn wieder ein, fütterten ihn mit allem, was sie finden konnten und gaben ihm zu trinken. Anfangs Saft, später auch Bier und Sekt. Irgendwann setzte sich Iwan zu ihm. Die Mädchen verschwanden. "So, Kleiner, jetzt reden wir mal Klartext. Du hast zwei Möglichkeiten. Bleib auf der Straße und lerne endlich zu überleben oder geh nach Hause zu deinem Alten." "Nie im Leben", sagte Bones mit schwerer Zunge. "Auf keinen Fall." "Dann musst du dir eine Einnahmequelle suchen. Zum Klauen bist du zu auffällig mit deiner Frisur." Er musterte den Jungen kritisch, der ziemlich lange Haare hatte, die dunkel gefärbt waren. Ein grün-lilafarbener Pony hing ihm halb über die linke Gesichtshälfte. "Aber welche denn?" "Wie viel Kohle willst du denn verdienen?" "Viel." Iwan lachte. "Also wie jedes Straßenkind. Geh auf den Strich. Du siehst süß aus, bist jung und frisch. Da kannst du bis zu einigen Tausend Mark am Tag verdienen." Bones hob den Kopf und sah Iwan an. "Tausend?" "Ja." "Aber… das kann ich nicht. Ich bring das nicht, mit Typen zu schlafen." "Machs ihnen französisch. Bringt nicht so viel Kohle, aber du musst nicht mit ihnen in die Kiste." Bones schüttelte den Kopf. Er hatte es damals bei Dealer gemerkt, dass er das nicht konnte. Ihm drehte sich allein bei der Vorstellung der Magen um. "Nein, das bringe ich nicht." Iwan grübelte und nickte. "Gut. Wenn man dir ansieht, dass du dich vor den Freiern ekelst, bringt es nichts." Er musterte den Jungen eine ganze Weile schweigend. "Vielleicht kannst du etwas für mich tun. Kannst du schnell laufen?" "Ja, eigentlich schon. Heute war ich nicht in Form." "Und wenn du regelmäßig isst?" "Ich bin sehr schnell. War immer gut in Leichtathletik." "Und kann ich dir vertrauen?" Bones nickte und Iwan musste lachen. "Du hast so viel Schiss vor mir, dass ich dir sicher vertrauen kann. Ich hab einen Job für dich. 200 Mark, wenn du wieder hier bist. Du machst es morgen." "Was soll ich tun?" "Das sage ich dir morgen. Du gehst jetzt hoch in das Zimmer von Trixi und haust dich da neben dem Bett hin. Da kannst du heute Nacht pennen. Aber halt die Schnauze, wenn sie einen Freier hat." "Klar. Ich mach mich unsichtbar." Die Aussicht auf dem weichen Teppich in einem der Zimmer schlafen zu können, war wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Iwan klopfte ihm so fest auf die Schulter, dass er fast von der Couch rutschte, auf der er saß. "Wenn du das wirklich kannst, stell ich dich fest ein." Damit scheuchte er den Jungen hoch.
Bones schlief wie ein Toter in dieser Nacht und wachte nur ein Mal vom Stöhnen eines Mannes auf, der sich mit Trixi vergnügte. Er drehte sich einfach auf die andere Seite und schlief weiter, bis Iwan ihn am nächsten Morgen weckte. Er drückte ihm ein Päckchen in die Hand, versprach ihm, ihm jeden Finger zu brechen, sollte das Paket nicht ankommen und schickte ihn zu einem anderen Bordell. Der Besitzer nahm ihm das Päckchen ab und gab ihm 10 000 Mark dafür. Ungläubig schaute sich Bones das Geld an. Damit konnte er jahrelang verdammt gut leben. Er müsste nur die Stadt verlassen und sich sein Leben lang vor Iwan verstecken. Also brachte er ihm das Geld. Iwan sah ihn anerkennend an und zerriss Schein für Schein. "Das ist Falschgeld", erklärte Iwan dem Jungen lachend. "Und in dem Paket war ein Ziegelstein. Denkst du etwa, ich vertraue einem Fremden heiße Ware an oder Kohle? Aber du hast dich bewährt. War es schwer, der Versuchung zu widerstehen?" "Ja, Iwan." Bones nickte leicht. Als er die versprochenen 200 Mark von ihm bekam, lächelte er. "Ist das Geld jetzt echt?", fragte er. Der Mann lachte. "So echt, dass auch ich es nehmen würde. Kleiner, du gefällst mir. Solltest du mal Kohle brauchen, frag mich. Wenn ich einen Job für dich habe, werde ich ihn dir geben." "Vielen Dank." Den Rest des Tages lief er in der Stadt herum und sah sich die erleuchteten Fenster an. Und dieses Mal tat es ihm nicht mehr so weh. Er war vielleicht einsam, aber nicht allein. Und er hatte eine Geldquelle gefunden und einen Mann, der ihn irgendwie mochte. Einen mächtigen Mann. Ihn zu kennen, konnte für einen Straßenjungen nicht falsch sein.
Und es war auch nicht falsch für Bones Überleben. Denn einmal im Monat brachte er in der nächsten Zeit Pakete von A nach B und bekam immer gutes Geld. Iwan schenkte ihm nach einer Weile sogar eine Matratze für seine Wohnung und sofort war das Schlafen angenehmer. Er hatte das Gefühl, nie so gut geschlafen zu haben, als er am ersten Morgen darauf aufwachte. Dadurch, dass er meist Drogen transportierte, wurde er neugierig. Hatte er anfangs ein wenig LSD oder mal eine Ecstasytablette geschluckt, nahm er inzwischen regelmäßig Kokain. Iwan drohte ihm Ärger an, falls er sich mal an den Paketen vergreifen sollte, aber da die immer vollkommen unberührt und in Rekordzeit ankamen, war er nach einer Weile beruhigt. Er zahlte Bones immer mehr in Drogen aus und nicht mehr mit Geld, was den immer mehr in die Drogenszene abrutschen ließ und ihn immer abhängiger von Iwan machte.
Die Erinnerung an die Zeit war schwer zu ertragen. Er war damals so reingerutscht in die Sache mit den Drogen. Richtig körperlich abhängig war er nie gewesen, er hatte keinen Entzug gebraucht, sondern einfach aufgehört. Aber seine Psyche hätte die Zeit ohne Drogen wahrscheinlich nicht überstanden. Vielleicht aber auch viel besser. Er würde es nie erfahren. So in Gedanken versunken machte er sich Frühstück. Eine ganze Weile stand er vor dem geöffneten Kühlschrank und schaute sich den Inhalt an. Wurst, Käse, Marmelade, Joghurts. Alles, was man sich wünschte. Seit er von der Straße weg war, hatte er nie wieder hungern müssen. Und wenn es nach ihm ging, würde das auch so bleiben. Er stellte alles auf den Tisch, wollte dieses Frühstück einfach genießen. Er nahm einen Joghurt aus dem Schrank und musste lächeln. Ein sehnsüchtiges Funkeln erschien in seinen Augen. Kiwijoghurt, er hasste ihn, fand ihn eklig, aber an dieser Sorte hingen so kostbare Erinnerungen, dass er ihn immer wieder aß. Seufzend strich er über den Deckel des Bechers, während sein Blick glasig wurde und seine Gedanken wieder in die Vergangenheit abdrifteten.
Sein Leben hatte er einigermaßen im Griff, im Juli als er 14 Jahre alt wurde. Bis auf seinen ständig steigenden Drogenkonsum. Das Koks reichte ihm irgendwann nicht mehr. Er wollte mehr. Aber was gab es mehr als Kokain. Iwan hatte ihn zwar als Junkie beschimpft und ihm den Kopf gewaschen, als er ihn nach Heroin gefragt hatte, aber letztendlich hatte er ihm ein wenig verkauft. Bones wusste nicht, wo er das Zeug spritzen sollte und entschied sich für den Hauptbahnhof. Dort waren die Toiletten so sauber, wie er seine Wohnung im Leben nicht bekam. Sie waren groß und hell und immer klang aus kleinen Lautsprechern Musik. Hier wollte er sich seinen ersten Schuss setzen. Er kannte inzwischen genug Junkies, die auf Heroin waren und nicht mehr von dem Zeug wegkamen. Er hatte sie in Diskotheken kennen gelernt und sie sahen alle nicht besonders gut aus. Viele schienen irgendwie schon nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Sie jagten dem Geld nach, um ihren Stoff besorgen zu können und irgendwann starben sie dann. Es gab eine Aktennotiz bei der Polizei, dann dachte niemand mehr an sie. Natürlich hatte auch er Angst davor, zuviel zu spritzen und zu sterben. Aber die Neugier war einfach größer und das Selbstwertgefühl zu klein. Bones sah sich selber als minderwertig. Sein Dasein auf dieser Welt war in seinen Augen überflüssig. So in Gedanken versunken, lief er in Richtung der Toiletten. Er hörte eine Stimme, die ihn erschaudern ließ, als er an einem noch nicht ganz ausgebauten Korridor vorbei kam. "Zier dich nicht so, Kleine. Das wird Spaß machen." Mehrere Männerstimmen lachten hämisch. "Zumindest uns", fügte die erste Stimme hinzu. Bones schluckte und hielt inne. Er kannte den Sprecher. Es war Jacko, ein Rocker, der hier in der Nähe des Bahnhofs eine Kneipe hatte. Er dealte und Bones hatte ihm schon mehrfach Pakete gebracht. Wenn er sich hier einmischte, könnte er nicht nur Ärger mit den Rockern kriegen, sondern auch mit Iwan. Er schlich sich zu einer Ecke und spähte herum. Im selben Moment bereute er es. Zwischen den Rockern stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren und vor Angst aufgerissenen Augen. Ein Rucksack mit ihren Sachen lag auf dem Boden, geöffnet, der Inhalt zum Teil verstreut. "Lasst mich bitte gehen", flehte sie. Bones schätze sie auf sein Alter. 13 oder 14 Jahre. Und wenn er nicht eingriff, würde sie eventuell nicht älter werden. Außer ihr und Jacko standen dort noch fünf Rocker aus Jackos Gang. Sechs große, starke Männer. Was sollte er nur tun? Zwei von Jackos Jungs packten die Kleine und bogen ihre Arme auf ihren Rücken, während ihr Anführer anfing, sie zu begrabschen. "Wehr dich nicht. Dann tut es nicht ganz so weh", knurrte er. Bones wusste, dass ihn sein Eingreifen das Leben kosten konnte, aber er konnte nicht anders. Als die Kleine panisch aufschrie und um sich zu schlagen versuchte, sprang er vor und schrie: "Lasst sie in Ruhe, ihr Schweine. Sie ist noch ein Kind." Die Rocker waren im ersten Moment erschrocken und ließen die Kleine für einen Moment los. Bones riss sie an sich und schubste sie den Korridor runter. "Lauf, so schnell du kannst und blick dich nicht um", flüsterte er ihr zu. Sie war vollkommen schockiert, aber sie tat es. Panisch und blind vor Tränen rannte sie auf die große Halle zu und hin zu anderen Leuten. Bones stellte sich mit ausgebreiteten Armen hin, was ein unglaublich lachhaftes Bild abgab. Zumindest in den Augen der Rocker war es das auch. Sie fingen an zu lachen. Jacko trat auf den Jungen zu, der jetzt ängstlich zurück wich. "Unser kleiner Bote, Bones. Das war ein Fehler, mein Junge. Sei froh, dass ich nicht auf Männer stehe, so bekommst du nur meine Faust zu schmecken." Damit schlug er ihm brutal ins Gesicht. Noch nie im Leben hatte er solche Schläge und Tritte kassiert, nicht einmal von seinem Vater. Aber er spürte auch, dass die Rocker nicht vorhatten, ihn umzubringen. Während er zusammengekrümmt und mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Boden lag, dachte er an Iwan. Die Rocker hatten Angst vor ihm. Es war bekannt, dass Bones ein wenig unter seinem Schutz stand und niemand wollte Iwan erzürnen. Die Rocker wollten ihm nur eine Lektion erteilen und wenn er an die kleine Blondine dachte, musste er trotz der Schmerzen lächeln, die man ihm gerade zufügte. Die sinnlosen Schläge von seinem Vater waren nie so heftig gewesen, aber sie hatten mehr weh getan.
Irgendwann war es vorbei und die Rocker verschwanden. Blutend und kaum noch in der Lage zu atmen, lag er auf dem kalten Fußboden und erholte sich ein wenig. Langsam stemmte er sich hoch und blieb auf den Knien sitzen. Er spukte aus und blickte auf das Blut vor sich. Hastig suchte er in seinen Taschen. Sie hatten das Heroin und die Spritze gefunden, außerdem sein Geld. Aber das war egal, er lebte noch und war anscheinend nicht mal schwer verletzt. Prellungen, die noch Wochen weh tun würden, aber sie schienen ihm nichts gebrochen zu haben. Eilige Schritte näherten sich ihm und er blickte erschrocken auf. Aber es war nur das Mädchen mit der Bahnhofspolizei. Die zwei Beamten hoben Bones vorsichtig hoch. "Geht es dir gut, Junge?", fragte einer der Männer besorgt. "Wie kannst du dich mit diesen Rockern anlegen? Die hätten dich tot schlagen können." "Jaja, alles klar. War nicht so schlimm." "Sie wollten…", stotterte die Kleine panisch. "Sie…" Er sah sie an. Sein Gesicht blutüberströmt, die Augen fast zugeschwollen. "Reg dich ab, es ist ja nichts passiert." Einer der Beamten sah ihn groß an. "Nichts passiert? Schau dich mal an." "Mein Vater hat auch so zugeschlagen und das hat keinen interessiert, okay? Mir geht es gut, die Wunden heilen. Meine Knochen sind noch ganz, also machen Sie hier nicht so einen Aufstand." Die Männer sahen sich eine ganze Weile an. "Du willst keine Anzeige erstatten?" "Bestimmt nicht." "Du bist mutig, Kleiner. Geh nach Hause oder in ein Heim und mach was Vernünftiges. Leute mit so viel Mut brauchen wir." "Ja, klar", lachte Bones gequält und hielt sich mit den Händen den Bauch. "Ich werd Bulle." Er sah den beiden Männern nach und schaute dann zu dem Mädchen hinüber. "Was ist noch? Nimm deine Sachen und geh nach Hause." Sie suchte ihre Sachen zusammen und stellte ihre Tasche dann an die Wand. Sie zog ein T-Shirt und eine Flasche Wasser heraus und machte das Shirt nass. Damit näherte sie sich ihrem Retter und wusch ihm wortlos das Blut vom Gesicht. Ungläubig ließ Bones das mit sich geschehen. Er war ein wenig erstaunt, dass sie trotz ihrer Angst zurück gekommen war und sich jetzt auch noch um ihn kümmerte. Sie war zu geschockt, um sich zu bedanken, aber sie half ihm. Auch wenn ihre Hilfe ihm ziemlich weh tat. Aber er biss die Zähne zusammen und lächelte tapfer. Als er wieder einigermaßen vernünftig aussah, blickte er sie an. "Wie heißt du? Ich bin Bones." "Bones?" "Mein Spitzname. Ich lebe auf der Straße." Er straffte sich und versuchte arrogant zu wirken. "Ich… ich habe meine Identität zu Hause gelassen." "Woher kommst du?" "Osnabrück." Er sah sie eine Weile an und lächelte leicht. "Ich nenn dich Bambi, denke ich." "Bambi?" Sie sah ihn mit einer Mischung aus Empörung und Belustigung an. "Ich bin doch kein Reh." "Deine Augen, sie sind so hübsch rehbraun. Außerdem guckst du so scheu." Er rang sich unter Schmerzen ein Lächeln ab und sah erfreut, dass sie errötete und den Blick senkte. "Bambi gefällt mir." Er ging in die Haupthalle und merkte, dass sie ihm in einigem Abstand folgte. Also wartete er auf sie. "Was willst du in München?" "Ich bin in Osnabrück in den Zug gestiegen und hier rausgeschmissen worden, weil ich keine Fahrkarte hatte." "Verstehe. Du bist abgehauen. Und jetzt weißt du nicht, wohin." Sie nickte schüchtern. "Hör mal… die Typen haben mir gerade meine Kohle für die nächsten vier Wochen abgenommen. Ich kann dich nicht mit durchfüttern." "Ich hatte letzte Woche Geburtstag und habe einiges an Kohle geschenkt bekommen." Sie zeigte ihm vierhundert Mark. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. "Wie viel haben die Kerle dir geklaut? Ich ersetze es dir." "Zweihunderfünfzig… aber…" Er schüttelte den Kopf, nahm das Geld aber, als sie es ihm in die Hand drückte. "Ich wohne in einer kalten, kleinen Wohnung und lebe davon, dass ich für einen Bordellbesitzer illegale Geschäfte erledige. Willst du nicht lieber allein dein Glück versuchen?" Sie schüttelte bittend den Kopf. "Bitte. Nur ein paar Tage. Ich habe Angst, nach dem was gerade vorgefallen ist. Du hast mich gerettet und… ich danke dir dafür." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und mit einem Mal waren seine Schmerzen verschwunden. Er lächelte sie aufmunternd an. "Okay, dann bleib halt eine Weile bei mir, bis du eine Idee hast, wohin du willst." Ein wenig unsicher kratzte er sich am Hinterkopf. "Magst du was essen?" "Ja, irgendwas Leichtes. Einen Kiwijoghurt vielleicht." "Kiwiiiiiii?", fragte Bones gedehnt und verzog das Gesicht. "Komm mit, Bambi. Gehen wir einkaufen und deinen Geburtstag noch ein wenig feiern. Ich hatte auch letzte Woche. Donnerstag." "Ich am Samstag. Bin 14 geworden." "Ich auch." Gemeinsam zogen die beiden Kinder los, kauften sich etwas zu Essen und dann liefen sie zu Bones Wohnung. Bambi war geschockt, als sie das zugige Loch sah, aber auch froh, weil er sie mitgenommen hatte. In dieser Nacht schlief Bones ohne Decke auf dem kalten Boden. Es war Sommer, da ging das. Sie schlief auf seiner Matratze und als er am Morgen aufwachte und sie ansah, wusste er, dass sie nicht so schnell wieder gehen würde.
Bambi… Allein der Name tat unsagbar weh, wenn er an ihn dachte. An die junge Frau dahinter wollte er sich gar nicht erst erinnern. Aber er konnte es nicht mehr verhindern. Sie war für Jahre der einzige Mensch in seinem Leben gewesen, der ihn interessiert hatte. Erst viele Jahre später war ihm bewusst geworden, dass das Treffen mit ihr, die Schläge der Rocker und der Diebstahl, ihn davor bewahrt hatten, jemals Heroin anzufassen. Denn nachdem die Rocker ihm seinen Druck vermasselt hatten, war er nie wieder auf die Idee gekommen, sich das Zeug zu spritzen. Er seufzte und räumte seine Küche schnell auf. Er musste langsam los, wenn er nicht am ersten Tag zu spät kommen wollte. Dann nahm er seine Jacke und die Wagenschlüssel und verließ seine Wohnung in Richtung Auto. Es stand zwei Straßen weiter, so dass er auf dem Weg dahin viel Zeit hatte, zu grübeln. Vor allem über seine Zeit mit Bambi und darüber, wie aus einer flüchtigen Bekanntschaft die große Liebe seines Lebens wurde.
Während seine Tage auf der Straße bisher eher trist gewesen waren, ging in Bones Leben plötzlich die Sonne auf. Bambi riss ihn aus seinem ewig gleichen Trott aus Schlafen, Essen besorgen und Geld verdienen. Er zeigte ihr München, klaut ihr ein paar vernünftige Sachen, was sie nicht besonders gut fand und schickte sie zum Friseur. "Musst du alles klauen?", schimpfte sie mit ihm, als er ihr eine Strumpfhose und einen Jeansrock aus einem Kaufhaus mitbrachte. "Du kannst auch auf den Strich gehen und die Kohle dafür verdienen", brummte er beleidigt. "Gestern hast du dich noch beklagt, dass deine Klamotten stinken." Sie lächelte und umarmte ihn. "Tut mir leid. Du hast ja Recht. Ist echt lieb von dir. Die Sachen sind toll." Interessiert beobachtete er, wie sie sich umzog. Er hatte in Iwans Puff schon nackte Frauen gesehen, sogar einmal mit Trixi geschlafen, als er sie gebeten hatte, ihm zu zeigen, wie das so geht. Aber bei Bambi war es irgendwie anders. An ihr fielen ihm Details auf, die er bei anderen Frauen überhaupt nicht sah. Starrte er den Huren im Bordell gern mal auf den Hintern oder den Busen, fielen ihm bei ihr die Augen auf, die tolle neue Kurzhaarfrisur und ihr wunderschönes Lachen. Er genoss es einfach, wenn sie in seiner Nähe war. Und sie war immer in seiner Nähe. Ständig. Die beiden waren unzertrennlich. Sie begleitete ihn auf seinen Botengängen. Iwan konnte sie nicht ausstehen, denn der Mann plante ganz offen, sie in sein Bordell zu holen. Auch Bones fiel das auf und er ging seltener ins Purple Palace und reduzierte automatisch seinen Drogenkonsum. Zwei Monate nachdem sich die beiden das erste Mal begegnet waren, wurde Iwan dann verhaftet. Bambi freute sich darüber, ganz offen. Bones machte sich Sorgen, denn jetzt hatte er keine regelmäßige Geldquelle mehr. Und das merkte er sehr schnell. Er musste wieder betteln gehen. Bambi half ihm dabei, auch wenn es ihr anfangs sehr schwer fiel, fremde Menschen um Geld anzusprechen. Wenn sie ein wenig getrunken hatte, fiel es ihr leichter. Also besorgte er ihr immer wieder mal eine Flasche Rotwein, den sie sehr gern mochte. Er selber stand mehr auf Whiskey. Aus irgendeinem Grund mochte er den Geschmack. Drogen nahm er wesentlich seltener, seit Bambi bei ihm war. Sie mochte das nicht. Sie selber hatte Angst davor und wenn er zugedröhnt war und sie clean, verstanden sie sich überhaupt nicht mehr. Dann war es, als würden sie von verschiedenen Planeten kommen.
Die Wochen vergingen mit langen Spaziergängen. Oft waren sie tagelang in der Stadt unterwegs, schliefen nachts in Parks, wenn das Wetter schön war. In einem Freibad ließ Bambi ein Radio mitgehen. Sie wollte ein wenig Musik haben in ihrer gemeinsamen Wohnung. "Du machst es hier richtig gemütlich", sagte Bones, als sie Blumen in einen alten Blechtopf stellte, damit es in ihrem kleinen Zimmer etwas bunter wurde. "Natürlich. Es ist doch unser Zuhause." "Wieso bist du eigentlich weggelaufen?" Sie hielt in ihren Dekorationsversuchen inne und blickte aus dem trüben Fenster. "Weil meine Eltern sich nur noch gezofft haben. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Und ausgerechnet zu meinem Geburtstag sagen sie mir, dass sie sich trennen wollen." Tränen schwammen in ihren Augen. Bones hasste es, wenn sie traurig war. Er nahm sie in die Arme und streichelte ihr sanft über den Kopf. "Das ist wirklich fies. Aber ist es wirklich ein Grund, ein schönes Zuhause gegen das hier zu tauschen?" "Meine Mutter war immer sehr streng und Vater zu nett. Es mag komisch klingen, aber ich hatte es satt, der Spielball der beiden zu sein. Sie haben mich benutzt, um sich gegenseitig weh zu tun." "Willst du sie dazu bringen, wieder zusammen zu kommen, indem sie sich um dich sorgen?" Sie schüttelte den Kopf. Dann hielt sie kurz inne. "Vielleicht. Sie sollen sich einfach darüber klar werden, was sie wollen. Da störe ich nur." Bones blickte auf ihren Kopf hinab, als sie ihre Wange gegen seine Brust legte und sich dicht an ihn schmiegte. "Du hattest ein Zuhause, was ich mir immer gewünscht habe. Und trotzdem bist du an genau demselben Punkt wie ich." "So kann es kommen." Mit einem traurigen Lächeln sah sie ihn an. "War es schöner, als du hier noch allein warst? Ich meine… ich bin jetzt seit fast zwei Monaten hier. Soll ich wieder gehen?" Hastig schüttelte er den Kopf. "Nein. Bitte, Bambi, bleib hier. Ohne dich war ich ganz allein." Sie lächelte glücklich und umarmte ihn fest. "Danke, Bones. Ich glaube, ohne dich hätte ich ein echtes Problem gehabt." Er nickte und dachte wieder an die Rocker. "Ja." Sein Blick glitt nach draußen. Es war ein wunderschöner Tag und noch sehr heiß, dafür dass der Sommer fast vorbei war. "Was machen wir zwei denn heute noch? Hast du einen Wunsch?" "Ich muss mich mal vernünftig waschen. Immer diese Bahnhofswaschbecken sind eine Zumutung." Er verdrehte die Augen. Dann jedoch lächelte er. "Ich kenne eine flache, ruhige Stelle an der Isar. Dort kann man baden. Gehen wir hin?" Sie nickte, verzog dann aber das Gesicht. "Ich habe keine Badesachen." "Ich auch nicht. Na und?" Ein wenig verständnislos sah er sie an. Dann grinste er. "Wenn du dich vor mir genierst, drehe ich dir den Rücken zu, versprochen." Sie zögerte eine ganze Weile, wollte aber nicht als Spießerin dastehen. "Nein, ist schon okay. Gehen wir schwimmen." Also nahmen sie ein paar Dinge zum Essen mit und gingen los. Sie liefen zwei Stunden, bis sie den Platz erreicht hatten. Es war inzwischen Nachmittag und sehr ruhig hier. Die Gegend, obwohl mitten in der Stadt, sah ländlich aus. Wiese, Büsche, Bäume und der Fluss. Sie waren vollkommen allein. Nichts war zu hören, weder Straßenlärm noch Menschen. Nur die Vögel zwitscherten und der leichte Wind rauschte in den Bäumen. Bones zog sich hastig aus und hielt vorsichtig den Fuß ins Wasser. Er zitterte. Trotz der heißen Lufttemperaturen, war der Fluss recht kalt. Er drehte sich um und rief Bambi zu: "Komm, es ist schön…" Erschrocken riss er Mund und Augen auf, als er sie nackt vor sich stehen sah. "…heiß…", murmelte er. Sie lachte und ging an ihm vorbei. "Dann verbrenn dich mal nicht." Minutenlang beobachtete er jede ihrer Bewegungen im Wasser. Sie war längst nicht so empfindlich gegen das kalte Wasser wie er und schwamm immer wieder hin und her. "Nicht zu weit raus schwimmen", warnte er und folge ihr endlich. "Es herrscht dort eine ziemlich starke Strömung." "Okay." Sie sah ihn neugierig an. Irgendwie war es ihm unangenehm, dass sie ihn so anstarrte und er tauchte rasch unter. Eine ganze Weile planschten sie im Wasser herum und spritzten sich gegenseitig nass. Sie lachten und fühlten sich seit langer Zeit mal wieder wie Kinder. Mit dem Schmutz und dem Schweiß nahm der Fluss auch ihre Probleme mit sich mit. Keuchend umschlang Bones Bambi von hinten und hielt ihre Arme fest. "Auszeit… ich kann nicht mehr…", japste er. Sie versuchte sich aus seiner Umarmung zu befreien, was ihr natürlich nicht gelang. Bones war viel größer und stärker als sie. Außerdem waren seine Berührungen wie ein Stromschlag, als sie bewusst wahrnahm, dass er seinen nackten Körper fest an sie presste. Für eine Sekunde verspürte sie Angst, dann ein angenehmes Kribbeln. Bones würde ihr nicht weh tun. Langsam entspannte sie sich und merkte, dass sein Griff lockerer wurde. Sie drehte sich in seinem Arm herum und sah ihn lange schweigend an. Auch ihm wurde klar, dass diese Situation nicht alltäglich war, spätestens als sie sich umdrehte und er ihre Brüste auf seiner Haut spürte. Er hob unsicher die Hand und streichelte ihr zärtlich über die Wange. Seine Finger glitten über ihren Mund. Langsam senkte er den Kopf und berührte vorsichtig mit seinen Lippen die ihren. Für die beiden Jugendlichen war es ein unglaubliches Gefühl. Obwohl Bones bereits mit einer Frau geschlafen hatte, war das hier etwas vollkommen anderes, etwas viel besseres. Denn dieses Mädchen in seinen Armen liebte er wirklich. Bambi schob ihn vorsichtig zum Ufer. Sie ließen sich im seichten Wasser nieder, ohne den Kuss zu unterbrechen. Erst als ihnen langsam die Luft ausging, trennten sie sich. Ihre Blicke trafen sich und im Gesicht des jeweils anderen sahen sie die Unsicherheit, die sie selber spürten. Bones lächelte schüchtern. "Du bist so süß", sagte er, um irgendetwas zu sagen. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Bones war anders, als die Jungs, die sie bisher kennen gelernt hatte. Er war unglaublich stark und selbstbewusst, aber zu ihr war er zärtlich und liebvoll. Er begehrte sie, ohne sie zu drängen, beschützt sie und versorgte sie. "Ich mag dich total", gestand sie leise, während seine Hände über ihren Rücken glitten. "Aber… ich war noch nie mit einem Jungen zusammen." Er schüttelte den Kopf. "Hey, ich will hier nicht über dich herfallen. Ich möchte einfach nur mit dir zusammen sein. Wir haben alle Zeit der Welt." Seine Stimme war so sanft, dass er sich fragte, ob sie überhaupt zu ihm gehörte. "Aber ich habe mich irgendwie in dich verliebt." Seine Wangen schimmerten rötlich und er senkte den Blick. "Ich musste dir das einfach sagen." Als er den Blick langsam und unsicher wieder hob, sah er in ihre strahlenden Augen. Sie sah so glücklich aus, dass sein Herz einen Sprung machte. "Du darfst gern bei mir im Bett schlafen", bot sie ihm an, während ihre Finger sein Gesicht streichelten. "Ich kann es kaum ertragen, dich auf dem Fußboden liegen zu sehen. Und in deinen Armen ist es so schön. Aber… mehr als Kuscheln ist noch nicht drin." Er nickte lächelnd und küsste sie kurz. "Und Knutschen?" Sie lachte hell auf. "Knutschen ist okay." Zur Bestätigung presste sie ihre Lippen fest auf seinen Mund.
Der Winter wurde härter. Sie hatten keinen Ofen und froren jämmerlich in ihrem kleinen Zimmer. Bones klaute noch ein paar Decken, so dass sie zumindest nicht Gefahr liefen zu erfrieren, aber Bambi war trotzdem oft krank. Sie hatte nicht so eine robuste Gesundheit wie ihr Freund und die Temperaturen, in Verbindung mit der schlechten Ernährung setzten ihr sehr zu. Kurz vor Weihnachten wurde es besser. Die Weihnachtsmärkte in der Adventszeit waren immer voller sorgloser Menschen, leichte Beute für Bones, der inzwischen ein geschickter Dieb geworden war. Er brachte so viel Geld mit nach Hause zu seine kranken Freundin, dass sie gemeinsam einkaufen gehen konnten. Er besorgte ihr warme Sachen, gutes nahrhaftes Essen, Tees. So kam sie langsam wieder auf die Beine. Heilig Abend war noch etwas Geld übrig, so dass sie ins Kino gehen konnten. Es war ein wundeschöner Abend, den die beiden sehr genossen. Und es war der Abend, als sie das erste Mal miteinander schliefen. Als Bones am Morgen erwachte, war er überglücklich. Trotz der Kälte, die seinen Körper richtig steif hatte werden lassen über Nacht, fühlte er das Blut in seinen Adern rauschen. Er zog seine zitternde, noch schlafende Freundin an sich und wisperte ihr ins Ohr: "Ich liebe dich, Bambi. Ich will immer mit dir zusammen sein." Sie regte sich und wachte langsam auf. Lächelnd küsste sie ihn. "Frohe Weinachten, Bones." "Frohe Weihnachen, mein Schatz." Er griff nach hinten und reichte ihr ein flaches Geschenk, welches er in zerrissenes Geschenkpapier eingewickelt hatte. Erstaunt sah sie ihn an. "Bones. Das ist unfair. Wir wollten uns nichts schenken. Ich habe gar nichts für dich." "Versprich mir einfach, dass du bei mir bleibst." "Für immer", sagte sie mit leuchtenden Augen. Dann nahm sie ihr Geschenk entgegen. Es war eine CD der Gruppe 'Münchner Freiheit', die sie beide gern hörten. Außerdem war der Name dieser Band ihr Lebensmotto. Es war, was sie suchten. Eine Freiheit in München. Bambi legte die CD in einen Discman und reichte ihrem Freund einen der Ohrstöpsel. So lagen sie noch mehrere Stunden im Bett und hörten die Lieder immer und immer wieder. Nebenbei naschten sie noch einige der Süßigkeiten, die sie auf den Weihnachtsmärkten 'erworben' hatten. Es war wieder einer der Tage, wo sie fast vergaßen, wie schlecht es ihnen eigentlich ging.
Hastig wühlte er in seinen Taschen. Sein Autoschlüssel wollte anscheinend nicht, dass er heute pünktlich im Büro ankam. Und seine Gedanken konnte er auch kaum noch kontrollieren. Er lief durch die Gegend wie ferngesteuert. Gesteuert von den Geistern seiner Vergangenheit und seinen eigenen Erinnerungen. "Verflucht noch mal", murmelte er und schlug mit den Handflächen leicht auf das Autodach. Sein Blick fiel ins Wageninnere und er stöhnte auf. Dort lag der Schlüssel, im Fußraum vor dem Fahrersitz. "Danke", brummte er. Ihm lief die Zeit davon, er musste zu Arbeit und lief neben dem Auto immer hin und her. Wieso hatte er den Ersatzschlüssel auch am selben Bund wie den Autoschlüssel. 'Dämlicher geht´s nicht', schalt er sich gedanklich selber. Etwas auf dem Boden klirrte leise. Er senkte den Blick und sah ein Stück ziemlich verrosteten Draht vor sich liegen. Zögernd sah er sich um. Sollte er es wirklich tun? Er hatte das mal beherrscht. Ziemlich gut sogar. Er nahm den Draht hoch und sah sich erneut um. Niemand sah ihn. Und es war ja auch sein Wagen. Also wand er sich seinem Auto zu und brach es innerhalb weniger Sekunden auf. Unauffällig, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, ließ er sich auf den Fahrersitz gleiten und angelte nach dem Schlüssel. Er konnte es also noch. Trotz all der Jahre hatte er nichts verlernt. Aber er hatte genug Erfahrung im Aufbrechen von Schlössern. Schließlich hatte er jahrelang davon gelebt. Er ließ den Motor an und fuhr gedankenverloren los.
"Hey, Bones, warte mal." Der sah sich erstaunt um. Seine Hand hielt die von seiner Freundin und die beiden waren gerade auf dem Weg zu einer der zahlreichen U-Bahn-Stationen, um dort das Geld für ein Essen zusammenzuschnorren. "Devil? Lange nicht gesehen." Grinsend reichte der Punk ihm die Hand. "Kannst du laut sagen. Wie geht´s dir, Kleiner?" "Bestens, siehst du doch." Er deutete auf Bambi. "Das ist Bambi, meine Freundin." Bei diesem letzten Wort wuchs er gefühlt einen Meter. Sie grinste leicht und reichte Devil die Hand. "Hallo. Bones hat mir von dir erzählt." Der grinste. "Hi, Kleine. Wo kommst du denn her?" "Osnabrück." "Dachte mir schon, dass du nicht aus der Gegend bist." Er wand sich Bones wieder zu. "Ich hab da ´ne Möglichkeit gefunden, ein wenig Kohle zu machen. Aber ich bin ein wenig zu groß." "Was ist mit den Mädchen in deiner Gruppe?" "Die Gruppe existiert nicht mehr." Devils Augen funkelten traurig. "Dealer ist abgehauen nach der Sache mit dir. Raven hat sich vor vier Wochen ´nen Goldenen Schuss gesetzt und Zecke liegt in ´ner Entzugsklinik wegen seiner Sauferei. Sie haben ihn eingewiesen, als er auf ´ner Kreuzung zusammengebrochen ist und Blut gekotzt hat." Bones nickte verstehen. "Was ist mit Micki?" Devil winkte ab und lief in Richtung eines Burgerladens. Hier orderte er drei Hamburger und gab Bambi und Bones jeweils einen. "Hier." "Devil", hakte Bones nach. "Was ist mit Micki?" "Ich hab kaum noch Kontakt mit ihr. Sie geht auf den Strich. Seit Raven tot ist, hat sie angefangen zu fixen, die dumme Kuh." Seine Stimme zitterte vor Kummer. Er war nicht sauer, sondern total traurig. Bones war erstaunt. Devil hatte er als absolut coolen Typen kennen gelernt, aber jetzt, hier so allein, wirkte er keineswegs mehr cool und selbstsicher. Um genauer zu sein, sah er ziemlich runtergekommen aus. Seine Augen wirkten dumpf. Er fixte auch, das sah man. Die Haut war bleich und picklig, die Haare zwar rot, wie immer, aber er schien nicht mehr genug Geld für gutes Haargel zu haben. Schweigend aßen sie die ausgegebenen Burger. Dann kam Devil auf den Punkt. "Mir hat ein Hehler eine Menge Geld angeboten für einige Laptops." "Laptops?" Irritiert schaute Bambi den Mann an. "Sind das nicht so tragbare Computer?" "Genau, Kleine. Die lagern in einem Büro, im Industriegebiet West. Man kommt über einen Lüftungsschacht rein. Aber ich bin ein wenig zu groß dafür." Er sah Bones fragend an. "Du würdest reinkommen." Bones schwieg eine Weile. "Was springt für uns dabei raus?" "Wenn alles glatt geht… 500. Eine Woche später, sobald die Rechner verscheuert sind, noch mal 500." Bambi machte große Augen. "Wo ist der Haken?" "Gibt keinen. Ich habe die Wachleute wochenlang beobachtet und durch einen kurzen Job bei einer Reinigungsfirma habe ich auch mal ins Gebäude reinschauen können. Es ist ein relativ einfacher Weg. Bones muss nur den Luftschacht entlang krabbeln, im Büro das Gitter wegschieben und mich dann reinlassen. Dann holen wir die 20 Rechner raus und sind weg." "Moment… 20? Wie sollen wir die transportieren?" "Ich hab mir ´ne Karre besorgt, die lass ich danach verschwinden." Bittend sah Devil den Jungen an. "Komm schon, Bones. Du bist der einzige, dem ich vertraue. Ich brauch die Scheiß-Kohle." Bones nickte leicht. 1000 Mark waren nicht zu verachten. Davon konnten er und Bambi eine ganze Weile verdammt gut leben. Bambi träumte von einer Nacht in einem Luxushotel, okay, dann wäre die Kohle fast wieder weg, aber das war es ihm wert. "Okay. Ich mach mit bei der Sache." "Ich auch", sagte Bambi bestimmt. Als Bones etwas sagen wollte, sah sie ihn flehend an. "Bitte, Bones, lass mich nicht allein." Devil lächelte über das junge Pärchen. "Ihr seid ja süß. Klar kannst du mitkommen. Es ist gut noch ein Paar Hände zum Tragen zu haben." Er klopfte Bones auf die Schulter. "Wir treffen uns morgen gegen 20 Uhr im 'Blitz'." "Okay." Devil verschwand. Bambi sah ihm besorgt nach. "Hoffentlich kann man ihm trauen." "Devil ist in Ordnung", versichte Bones ihr. "Warum bist du dann weg von der Gruppe? Du hast doch erzählt, dass du eine Weile bei ihnen gewohnt hast?" "Weil Dealer mir Drogen gegeben hat und fast mit mir geschlafen hätte, wenn Devil nicht aufgetaucht wäre." Er senkte den Blick. Dann lächelte er seine Freundin an. "Komm, vergiss das Schnorren. Gehen wir zum Fluss und genießen den Frühling. Morgen haben wir Geld ohne Ende."
Sie trafen sich in der kleinen Diskothek in der Nähe des Industriegebiets, wo das Büro lag und tranken ein wenig. Der Bruch sollte kurz nach Mitternacht über die Bühne gehen und sie wollten in Ruhe noch einmal alles durchgehen. Bambi hielt sich aus der Planung weitestgehend raus und kuschelte sich lieber an ihren Freund. Sie machte sich immer noch Sorgen, dass etwas schief gehen könnte, oder dass Devil vielleicht doch nicht so vertrauenswürdig war, wie Bones glaubte. Allerdings reizte auch sie das Geld. Und so ging die ganze Sache schließlich doch plangemäß über die Bühne. Die Klapperkiste von Devil war zwar eine Zumutung, aber sie fuhr. Es dauerte keine halbe Stunde, dann hatten sie die Laptops eingeladen. Bones bekam die erste Rate von Devil und sie verabredeten sich für Sonntag eine Woche später im 'Blitz', wo Devil die zweite Rate mitbringen wollte. In dieser Nacht liefen die beiden zu einer der größten Nobeldiskotheken, bestachen die Türsteher und feierten bis zum frühen Morgen. Vollkommen betrunken taumelte sie nach Hause. Bones hatte noch zwei Tabletten LSD gekauft und gemeinsam gingen sie auf einen Trip.
So kam es, dass das Geld bereits nach einer halben Woche alle war. Als sie von Devil die nächste Rate bekamen, fragte Bones ihn dann auch direkt nach einem weiteren Job. Irgendetwas. Hauptsache, es brachte schnell viel Geld. Und auch Bambi hatte Blut geleckt. Das teure Leben war einfach zu schön nach all den Entbehrungen. Sie war durchaus bereit, auch etwas dafür zu tun, um an Geld zu kommen. Devil sah die beiden lange schweigend an. Schließlich erklärte er ihnen einen weiteren Plan für einen Einbruch. Derselbe Hehler, der ihnen schon die Laptops abgenommen hatte, hatte ihnen den Auftrag gegeben. Und da nur Devil mit dem Mann Kontakt hatte, kannte er die zwei Kids nicht. Das Risiko für Bambi und Bones war also relativ gering. Sie durften sich nur nicht bei ihren Taten erwischen lassen. Und das hatten sie nicht vor. Nach einigen Einbrüchen und Diebstählen, brachte Devil Bones bei, Autos und Schlösser zu knacken. So konnten sie jetzt auch Wagen stehlen und weiterverkaufen. Und auch hier lief alles über Devil. Der wusste seine kleinen Helfer zu schätzen und zahlte sie immer schnell und großzügig aus. Nach einer Weile ging er bei den Einbrüchen gar nicht mehr mit. Er ließ die beiden Jugendlichen die Drecksarbeit machen, was die aber nicht sonderlich störte. Im Gegenteil. Bei ihren Einbrüchen trugen sie immer dunkle Kombis und Strumpfmasken, dazu Lederhandschuhe. Niemals hinterließen sie Spuren, niemand kam ihnen auf die Schliche. In den Zeitungen wurden sie bald als 'Bonnie und Clyde von München' bezeichnet, obwohl niemand wusste, ob die Täter männlich oder weiblich waren. Sie fanden es cool.
Die Ampel schaltete auf rot und er musst halten. Unwillkürlich lächelte er. Es war eine wilde Zeit gewesen und heute hatte er auch ein schlechtes Gewissen wegen seiner Taten. Aber damals war er stolz auf sich gewesen. Innerhalb von zwei Jahren hatten er und Bambi einen Ruf weg, für den Verbrecher oft viele Jahre mehr brauchten. Sie wurden als Profis bezeichnet, als Unsichtbare, Geister, Phantome. Die Polizei der ganzen Stadt jagte sie, aber sie kamen ihnen nicht wirklich auf die Spur. Devil hingegen leider schon. Er wurde wegen Hehlerei verhaftet, schwieg aber eisern. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt und starb im Gefängnis an einem Leberleiden, ausgelöst durch die Benutzung von schmutzigem Spritzbesteck. Die Zeit war wie ein Rausch gewesen. Feiern, Einbrüche, Diebstähle, Luxusleben. Sie hatten so viel Geld gehabt, um sich alles leisten zu können und waren plötzlich wieder bettelarm, wenn sie mal kein Ding durchziehen konnten. Denn etwas zurücklegen für schlechte Zeiten kam für sich nicht in Frage. Egal wie groß ein Schein war, er hielt nie länger als eine Nacht. Seufzend schüttelte er den Kopf. Noch heute hatte er in einem Hefter einige der Zeitungsausschnitte gelagert, die damals über ihn und Bambi geschrieben worden waren. Aber er hatte sie merkwürdigerweise niemals gelesen. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren.
Ein Autofahrer hupte empört, als die Ampel auf grün schaltete. Er blickte sich erschrocken um, legte den Gang ein und fuhr hastig los. Er musste sich unbedingt auf den Verkehr konzentrieren. Um von der Vergangenheit ein wenig los zu kommen, schaltete er das Radio ein… und stöhnte auf. Irgendwie schien sich heute alles gegen ihn verschworen zu haben. Jeder Handgriff riss ihn zurück in die Vergangenheit und jetzt machte auch noch sein Autoradio mit. Er hatte nur die ersten Töne gehört und das Lied sofort erkannt. 'So lang man Träume noch leben kann' von der 'Münchner Freiheit'. Er und vor allem Bambi hatten diese Band geliebt. Schon allein des Namens wegen, aber auch die Lieder an sich fanden sie toll. Während andere Straßenkids in dunkle Clubs gingen und Songs hörten, die keine Melodie und auch nur wenig Text hatten, standen sie beide eben auf diese Gruppe. Sie waren sogar einmal zusammen auf einem Konzert der Band gewesen. Dieser Tag war einer der schönsten, den er in seinem ganzen Leben erlebt hatte. Auch wenn ihm heute noch schlecht wurde, wenn er darüber nachdachte, was er hatte tun müssen, um ihn zu ermöglichen. Aber das war es wert gewesen. Für das Strahlen in ihren Augen, hätte er noch viel mehr getan. Gedankenverloren schüttelte er den Kopf und spürte, wie seine Erinnerungen wieder aufflammten. Die Erinnerungen an eine folgenschwere Nacht vor 11 Jahren.
Für Bones und Bambi waren die vielen Monate des Reichtums einfach ein Traum, wenn auch mit Rückschlägen. Aber nach Devils Verhaftung ging es rapide bergab und sie mussten sich sehr einschränken. Natürlich halfen die Tricks, die der Punk ihnen beigebracht hatte, um zu überleben, aber der Luxus fehlte und sie wurden sich langsam wieder bewusst, wo sie lebten und dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Bambi dachte oft in letzter Zeit an ihr altes Zuhause, machte sich Gedanken über die Zukunft. Schließlich waren sie beide jetzt fast 16. Sie wollte weg von der Straße. Und sie wollte unbedingt ihren Freund dazu bringen, wieder Kontakt mit seiner Mutter aufzunehmen. "Auf keinen Fall", fuhr der sie an, als sie mal wieder versuchte, ihn dazu zu überreden. "Meine Mutter hat immer nur zugesehen, wenn mein Alter mich verprügelt hat. Sie hat geheult und nichts getan. Diese Frau ist mir egal, soll sie doch verrecken." Bambi streichelte ihm über den Kopf. "Das meinst du nicht so und das weiß ich." "Doch", schrie er aufgebracht. "Doch, ich meine es so." Wütend sah er sie an. "Sie war zu schwach um zu kämpfen. Sie konnte weder dich noch sich selber schützen. Vielleicht hat sie sich ja verändert." "Halt die Klappe, okay? Sie ist mir egal und wenn du mich wirklich liebst, vergisst du, dass ich überhaupt eine Mutter habe." Damit drehte er sich um und verschwand nach draußen. Seine Freundin sah ihm erschrocken nach, überrascht, dass Bones so wütend werden konnte. Das hatte sie noch nie erlebt bei ihm. Und tief in sich spürte sie die Angst, dass er vielleicht wirklich nicht wieder kommen würde.
Bones war wütend durch die Stadt gelaufen. Bereits nach einer halben Stunde hatte er keine Ahnung mehr, warum er Bambi so angeschnauzt hatte. Er war übermüdet, hatte die letzten Nächte entweder gesoffen oder gekifft. Sein Rücken schmerzte und um die Schmerzen zu betäuben, nahm er meist auch noch Tabletten. Er stritt sich zwar manchmal mit Bambi, aber es war nie etwas Ernstes. Und noch niemals zuvor hatte er sie angebrüllt. Er dachte an ihre Augen, sie war erschrocken gewesen, hatte sogar Angst vor ihm gehabt. Wie konnte er das nur tun? Er liebte diese junge Frau doch so sehr. Er wollte ihr keine Angst machen. Er wollte niemandem Angst machen, der schwächer war, als er selber. Denn er kannte diese Angst nur zu genau. Seufzend ließ er sich auf eine Bank fallen. Er wollte ihr die Welt zu Füßen legen. Ihr jeden Wunsch erfüllen. Und genau das war sein Problem. Denn dazu fehlten ihm die finanziellen Mittel und die innere Kraft. Sie hatten bald Geburtstag und Bones kannte das perfekte Geschenk für sie. Ihre Lieblingsband würde genau an ihrem Geburtstag im Olympiastadion hier in München ein Konzert geben und Bambi hatte mehrfach betont, dass sie für eine Karte einen Mord begehen würde. Sie wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als diese Karte und er wünschte sich, sie ihr schenken zu können. Aber es war unmöglich. Das Geld würde er vielleicht noch zusammen bekommen, irgendwie, aber es gab keine Karten mehr. Sie waren so schnell ausverkauft gewesen, dass Bones überhaupt nicht die Zeit gehabt hatte, sich Gedanken darüber zu machen, zwei dieser Karten zu bekommen. Und das frustrierte ihn jedes Mal wieder, wenn sie beide vor einem der Plakate standen, die überall in der Stadt hingen. "Schau an, schau an. Wen haben wir denn da?", sagte eine schmierige, sehr bekannte Stimme. Bones brauchte nicht aufzublicken, um zu sehen, wer sich da neben ihn auf die Parkbank fallen ließ. "Was willst du, Dealer? Ich hab verdammt schlechte Laune, also lass mich in Ruhe." Wütend sah er ihn von der Seite an. Dealer lachte leise. "Das sehe ich, Süßer. Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" "Nein", brummte Bones. Dann hielt er inne. Dealer machte seinem Namen alle Ehre. Aber er handelte nicht mit Drogen, wie man es vermuten könnte, sondern er besorgte auf Bestellung Sachen, die jemand brauchte. Allerdings hatte er den Ruf, hohe Preise zu fordern. "Vielleicht doch…" Er zögerte. Ein Funkeln erschien in den Augen des Mannes. "Spuck´s aus." "Das Konzert der 'Münchner Freiheit'…" "… für das es keine Karten mehr gibt…" Bones nickte. "Kannst du mir zwei Karten besorgen?" "Ich habe sie bereits." Ungläubig sah der Junge ihn an. "Wie jetzt?" "Mein Ex und ich wollten hingehen, aber er ist ja mit ´nem Kumpel ins Bett. Ich hab ihn abgeschossen… also im übertragenen Sinn." Er lachte leise. "Jedenfalls geh ich da nicht allein hin, also hab ich zwei richtig geile Karten." Bones Stimme zitterte, als er sprach. Den Blick hatte er gesenkt. "Was… was verlangst du… für die Karten?" Dealer lachte leise und legte seine Hand auf dessen Oberschenkel. "Das weißt du doch. Soll ich es wirklich aussprechen?" "Du Dreckschwein", fauchte der Junge und sprang wütend auf. Sein Gegenüber lachte nur. "Wenn du die Karten willst, kommst du in zwei Stunden in meine Wohnung. Oder versuch einfach, woanders welche zu kriegen." Er stand auf und tippte sich leicht gegen das Kinn. "Ach nein, es gibt ja keine mehr." Er warf Bones eine Visitenkarte vor die Füße. "In zwei Stunden. Und eine zweite Chance kriegst du nicht."
Würgend stand Bones an eine Wand der alten Fabrikhalle gelehnt, in deren Nähe sich das kleine Haus befand, wo er und Bambi wohnten. Er hatte Schmerzen und fühlte sich hundeelend. In der Dunkelheit konnte er das flackernde Licht der Kerzen erkennen, die sie angezündet hatte. Er konnte nicht fassen, was er getan hatte. Aber die Drohung, die er Dealer an den Kopf geworfen hatte, als er aus dessen Wohnung gestürmt war, tat gut. "Wenn etwas mit den Karten nicht stimmen sollte, bring ich dich um", hatte er ihm ins Gesicht gesagt. "Und zwar sehr langsam." Der Mann war regelrecht zusammengezuckt und hatte ihm versichert, dass seine Ware immer sauber war und von allererster Güte. Er sah hinüber zu dem kleinen Wächterhäuschen, wo die Tür aufging. Bambi trat heraus und sah sich suchend um. Sie wischte sich über die Augen, sah sich erneut um und ging wieder hinein. Bones spürte einen Stich in seinem Herzen. Er hatte sie zum Weinen gebracht. Aber das würde er wieder gut machen. Und zwar jetzt. Lächelnd ging er auf die Tür zu und öffnete sie. Bambi sah ihn erschrocken an, dann erleichtert. Sie fiel ihm schluchzend um den Hals. "Da bist du ja endlich. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich dachte schon, du kommst wirklich nicht wieder." Er verschloss ihre Lippen mit einem innigen Kuss. Als sie etwas ruhiger geworden war, löste er sich von ihr. "Es tut mir leid, mein Schatz. Ich hab total übertrieben. Ich weiß ja, dass du es nur gut gemeint hast, aber du hast echt einen sehr wunden Punkt erwischt." Er küsste sie erneut. "Ich liebe dich", versicherte er ihr. "Niemals würde ich dich verlassen. Niemals. Ohne dich bin ich doch gar nicht lebensfähig." Sie schluchzte leise und lächelte ihn an. Dann stutzte sie. "Was ist mit dir passiert? Du hast geweint…" Bones senkte den Blick und schüttelte den Kopf. "Ich habe dir eine Geburtstagsgeschenk besorgt. Aber du darfst mich niemals fragen, wie ich es bezahlt habe, okay?" Sie streichelte seine Wange und zwang ihn mit leichtem Druck, ihn anzusehen. "Du hast aber niemanden umgebracht, oder?" "Bambi… ich bitte dich…", sagte er empört. "Das würde ich nie tun." "Dann werde ich nicht fragen." Neugierig sah sie ihn an. "Muss ich bis zu meinem Geburtstag warten, oder bekomme ich es jetzt?" Er grinste. "Du bekommst es jetzt schon." Mit diesen Worten zog er die Karten aus der Innentasche seiner Jacke und hielt sie Bambi unter die Nase. Diese nahm sie verwirrt und las sie. Langsam zog sie die Mundwinkel nach oben. Ihre Augen wurden groß. Dann fiel sie ihrem Freund mit einem Aufjauchzen um den Hals und küsste ihn stürmisch. Bones spürte die Tränen auf ihren Wangen, das Lachen und als er sich von ihr trennte, sah er ihre strahlenden Augen. So mies er sich gefühlt hatte, das war es wert gewesen. Bambi lachen zu sehen, war in seinem Leben das Schönste was es gab. Dafür würde er wirklich alles tun, das wusste er in diesem Moment.
Am Tag des Konzerts war Bambi kaum zu bändigen. Sie hüpfte schon um 5 Uhr morgens durch die kleine Wohnung, obwohl das Konzert erst 20 Uhr stattfinden würde. Bones gab ihr zwei Valiumtabletten, damit sie noch etwas schlief und hielt sie tatsächlich bis zum frühen Nachmittag im Bett. Danach gab es für das Mädchen kein Halten mehr. "Los, los, los… ich muss mich noch fertig machen. Wir wollten doch noch Baden gehen vor dem Konzert. Komm schon, Bones." Wortlos stand er auf und folgte ihr. Jedes falsche Wort würde sie an die Decke bringen, also tat er, was sie wollte. Sie gingen zu einer Stelle an der Isar, wo sie einigermaßen ans Wasser rankamen und wuschen sich gründlich. Bambi machte ihre Haare, war nie richtig zufrieden und gegen halb sechs gab sie es schließlich auf. Sie fuhren mit der U-Bahn in die Innenstadt und liefen dann zum Olympiapark. "Ach du Scheiße", murmelte Bones plötzlich und deutete nach vorn. Dort standen lauter Polizeiwagen. "Eine Bullenstation." "Ganz ruhig. Keiner kennt uns", sagte Bambi, aber auch ihre Augen blickten ein wenig unsicher. "München ist so groß und wir latschen direkt an der Polizeistation vorbei." Er grinste leicht und legte den Arm um ihre Hüfte. "Das ist entweder total bescheuert oder total cool." Den Kopf hielt er allerdings gesenkt, während sie schweigend direkt am Haupteingang vorbeiliefen. Bones spürte, das sein Herz doppelt so schnell schlug wie sonst und er atmete erleichtert auf, als sie an dem Gebäude endlich vorbei waren. In dem Moment, als sich die Hand auf seine Schulter legte, schien sein Herz allerdings stehen zu bleiben. "Wartet mal kurz", sagte eine tiefe Stimme. Sie drehten sich ganz langsam um und sahen einen sehr jungen Mann in Uniform vor sich stehen, der sie freundlich anlächelte. Er bückte sich und hob die Bierdose hoch, die Bambi vor Schreck hatte fallen lassen und gab sie ihr zurück. "Geht ihr zufällig zu dem Konzert im Olympiapark?" Wortlos nickten sie. "Gut. Ich weiß nämlich nicht, wo das ist. Bin nicht von hier. Könntet ihr mir zeigen, wie ich da hin komme?" Wie in Zeitlupe wand Bones den Blick seiner Freundin zu. Sein Gesicht schien zu sagen: 'Spinn ich oder haben wir echt so viel Glück?' Vorsichtig fragte er den Uniformierten: "Woher kommst du, dass du das Stadion nicht kennst?" "Düsseldorf. Ich mach grad meine Ausbildung und darf für acht Wochen lernen, wie die Kollegen hier in München arbeiten. Ich soll das Konzert mit im Auge behalten." Seine blauen Augen funkelten. "Es gibt schlechtere Jobs, auch wenn die Musik nicht ganz mein Ding ist." Bambi grinste verstohlen. "Na dann komm mit uns mit. Es ist nur die Straße runter, dann ist man eigentlich schon da." Bones entsetzten Blick ignorierte sie. Der rang sich ein breites Lächeln ab. "Ja, dann komm halt mit." Er wand sich um und zog sie ein Stück weg. "Bist du wahnsinnig?" "Wo sind wir sicherer als bei ´nem Bullen?", zischte sie. Über ihre Schulter hinweg rief sie: "Wie heißt du?" "Michael." "Dann komm, Michael. Sonst verpassen wir noch das Konzert."
Sie verabschiedeten sich von dem Polizisten, als sie ihn bei seinen Kollegen abgeliefert hatten und brachen in schallendes Lachen aus, als sie außer Hörweite waren. Es dauerte Minuten, bis sie sich wieder eingekriegt hatten. Beide hielten sich die Bäuche und japsten nach Luft. "Der Typ ist wie wir, entweder total dämlich oder absolut cool. Ich glaub, das ist der erste Bulle, den ich mag." Bambi wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Bones nickte hastig. "Den mag ich auch. Vor allem, wenn er wieder in Düsseldorf ist. Austauschbullen… ich fass es nicht." Jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit mit den zwei Joints gespielt hatte, die er in seiner Jackentasche mit sich herumtrug. Ob Michael ihm die auch zurück gegeben hätte, wenn er sie fallen gelassen hätte? Bambi hakte sich bei ihm ein. "Ich wollte auch immer Polizistin werden", erzählte sie ihm. "Menschen helfen, Verbrecher fangen." "Jetzt stehen wir auf der anderen Seite", sagte er leise, während sie vor einem der Eingänge warteten. "Ich glaube nicht, Bones. Vielleicht gibt es doch noch ein Zurück." Sie schmiegte sich an ihn. "Ich freue mich irrsinnig auf das Konzert. Danke, mein Schatz. Es war ein tolles Geschenk." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Er grinste und zog sie in seine Arme. "Hab ich gern gemacht." Als sie an der Reihe waren, war ihm doch etwas mulmig, ob die Karten wirklich echt waren. Sollte Dealer ihn hereingelegt haben und Bambi den Geburtstag vermasseln, war er auf dieser Welt nicht mehr sicher. Doch es ging alles gut und sie waren drin. Im Stadion suchten sie ihre Plätze und Dealer hatte sein Wort gehalten. Es waren tolle Plätze. Sie hatten eine wunderbare Sicht auf die Bühne und Bambi wurde immer hibbeliger. Sie strahlte über das ganze Gesicht und steckte damit jeden an, der sie auch nur kurz ansah. Eine Stunde später kam die Vorband. Sie heizten die Stimmung an und nach einer weiteren Stunde begann dann endlich das eigentliche Konzert. Die Stimmung war unglaublich. Es war inzwischen dunkel geworden, die Nachtluft war angenehm kühl, der Sound war fantastisch und mitreißend und die Menschen sangen die Lieder laut mit. Wunderkerzen und Feuerzeuge wurden geschwenkt und bei den bekanntesten Songs schien es, als wolle die Stimmung überkochen. Bones strahlte irgendwann auch mit. Er war so glücklich, dass es schon fast weh tat. Seine Arme um Bambis Schultern gelegt, das Kinn auf ihrem Kopf, hielt er sie fest an sich gedrückt und lauschte den Liedern. Bis irgendwann der letzte Song erklang. Leider zog das Lied ihn ein wenig runter. Es war: 'So lang man Träume noch leben kann'.
Ein Jahr ist schnell vorüber, wenn der Regen fällt, ein Meer voller Fragen. Ich steh` dir gegenüber, in Erinnerung vergangener Tage.
Das große Ziel war viel zu weit, für uns`re Träume zu wenig Zeit. Versuchen wir es wieder, so lang` man Träume noch leben kann.
Es machte ihn nachdenklich. Bambi hatte noch Träume, sie äußerte sie in letzter Zeit ständig. Sie wollte wieder zur Schule, eine richtig Wohnung, einen Job. Sie wollte eine Zukunft mit ihm. Aber was wollte er? Er war noch nicht so weit. Und Ziele hatte er nicht mehr in seinem Leben. Eigentlich war er im Moment zufrieden, wie es lief. Gerade jetzt, wo seine Traumfrau an ihn gelehnt dastand, bei einem Ereignis wie diesem, war doch alles perfekt. Hatte er überhaupt mal Träume gehabt? Ein bitteres Grinsen legte sich über seine Lippen. Ja, die hatte er gehabt. Er hatte Polizist werden wollen, genau wie Bambi. Aber nicht um anderen zu helfen, sondern um sich zu helfen. Er hatte als kleiner Junge immer davon geträumt, Polizist zu werden und seinen Vater ins Gefängnis zu stecken. Bambi regte sich in seinen Armen und seufzte leise. Dadurch wurde er in die Wirklichkeit zurück geholt. Er hörte noch die letzten Liedzeilen:
Du weißt genau, dass irgendwann einmal ein Wunder geschehen kann. Versuchen wir es wieder, so lang` man Träume noch leben kann. Versuchen wir es wieder, so lang` man Träume noch leben kann.
Vielleicht sollte auch er noch einmal einen Versuch unternehmen, sein Leben zu kontrollieren. Vielleicht… morgen oder nächste Woche. Aber nicht heute Nacht.
Er stellte sein Auto auf dem Parkplatz ab und wischte sich über die Augen. Sein Handrücken wurde feucht. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte er es eigentlich geschafft. Auf seine Weise hatte er für die Verbrechen gebüßt, die er begangen hatte. Vielleicht hatte er so mehr für die Gesellschaft getan, als wenn man ihn damals eingesperrt hätte. Wer konnte das sagen? Langsam zog er den Schlüssel ab und lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. Er riss erstaunt die Augen auf. Das Gebäude, vor dem er jetzt stand, war genau die Polizeistation, an welcher er am Abend des Konzerts mit Bambi vorbei gekommen war. Landshuter Allee… natürlich… Hier waren sie damals diesem netten Polizisten begegnet, diesem Michael aus Düsseldorf. Was wohl aus ihm geworden war? Seine Gedanken schweiften wieder ab. Selig lächelnd dachte er an den Anfang vom Ende seiner Beziehung zu Bambi, an die Nacht nach dem Konzert.
"Heute ist der schönste Tag meines Lebens." Durch den warmen Nieselregen, der über München niederging, liefen sie Hand in Hand in Richtung Englischer Garten, weil sie dort übernachten wollten. Bambi hatte die Arme ausgebreitet und lief hin und her. Bones ließ sie nicht los, damit sie ihm nicht noch abhob. Es hätte ihn nicht gewundert, so überglücklich wie sie war. Sie drehte sich im Kreis und stieß lachend gegen ihn. Zärtlich küssten sie sich. "Warum bist du so nachdenklich? Hat es dir nicht gefallen?" "Es war ein unglaubliches Erlebnis, Bambi. Ich werde mich mein Leben lang an diesen Tag erinnern." Er zog sie dicht an sich heran. "Das letzte Lied hat mich etwas nachdenklich gemacht. Aber hey, das ist okay." Sie nickte und schlang ihre Arme um seine Hüften. Schweigend gingen sie so nebeneinander her. Die Stadt war ruhig in dieser Nacht. Kaum ein Auto fuhr, so dass sie stellenweise einfach auf der Straße liefen. Nach etwas über einer Stunde waren sie dann am Ziel. Sie liefen einfach quer über die Wiesen. Bones sah, dass auch seine Freundin ein wenig wehmütig wurde und wollte sie auf andere Gedanken bringen.
Ich will mich nicht verändern, um Dir zu imponier'n will nicht den ganzen Abend Probleme diskutier'n, aber eines geb' ich zu: Das, was ich will, bist du!
Leise sang er den ersten Teil der ersten Strophe von: 'Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein'. Sie grinste ihn an und vollendete die Strophe.
Ich will nichts garantieren, das ich nicht halten kann, will mit Dir was erleben, besser gleich als irgendwann und ich gebe offen zu: Das, was ich will, bist du!
Den Refrain sangen sie dann beide zusammen, ziemlich laut und verdammt schräg.
Ohne dich schlaf' ich heut' nacht nicht ein Ohne dich fahr' ich heut' nacht nicht heim Ohne dich komm' ich heut' nicht zur Ruh' Das, was ich will, bist du!
Lachend fielen sie unter einer großen Eiche ins weiche Gras. Bambi lag auf ihrem Freund und sah ihn von oben an. Die Laterne in der Nähe sorgte dafür, dass sie sein Gesicht erkennen konnte und das Funkeln in seinen Augen. "Ich will heute Nacht gar nicht schlafen", flüsterte sie und küsste ihn innig. Auch er war nicht müde. Gierig suchte er sich einen Weg unter die Kleidung seiner Freundin, rollte sie auf den Rücken und zog sich selber aus. Ohne Angst, dass sie hier jemand sehen könnte, schliefen sie miteinander, genossen ihre Jugend und die Glücksgefühle, die der Abend hinterlassen hatte. Ausgepowert lagen sie hinterher im nassen Gras. Es schmiegte sich kühl an ihre erhitzten Körper. Der Regen hatte aufgehört und der Vollmond kam langsam hinter den Wolken hervor. Bambi lag an Bones gekuschelt und nippte an ihrem Bier, während er einen der Joints rauchte. Sie zog einmal dran und ließ ihren Kopf dann wieder auf seine Brust sinken. "Das ist eine tolle Nacht", murmelte sie. "So geheimnisvoll und still." Er nickte und streichelte ihr über die nassen Haare. "Ja. Eine Nacht, in der alles passieren kann."