Habe wieder eine Geschichte fertig bekommen, die ich euch nicht vorenthalten möchte, viel Spaß beim Lesen:
Du gehörst doch zu mir
Betroffen starrten wir uns an, Kirkitadse war gerade im Büro aufgetaucht und hatte uns mitgeteilt, dass unser K11 mit einem anderen Kommissariat zusammengelegt werden sollte. Natürlich wegen Einsparungsmaßnahmen, versteht sich wohl von selbst.
Ungehalten schüttelte ich den Kopf, fasste ich es doch noch immer nicht, dass es meinen Arbeitsplatz in wenigen Wochen nicht mehr geben würde. Denn es würde auch Personal eingespart werden, und Gerrit, Michael, Robert und ich würden auf andere Dienststellen aufgeteilt werden. Am meisten erstaunte mich, dass mich meine alte Dienststelle, von der ich mich vor Jahren hierher nach München hatte versetzen lassen, wieder zurücknehmen wollte. Ich würde also wieder zurück nach Osnabrück ziehen, obwohl ich mir in den letzten Jahren hier in München bereits einiges aufgebaut hatte. Es störte mich nur, dass ich alles wieder zurücklassen sollte oder musste. Immerhin hatte ich mich in der Großstadt rascher eingelebt, als ich es für möglich gehalten hatte, und auch Freundschaften geschlossen. Dass alles sollte ich jetzt also wieder zurücklassen.
Wieder wanderte mein Blick zu den Kollegen und ich schaute in betroffene und verschlossene Gesichter. Meine Jungs – wie ich sie immer wieder nannte - schwiegen noch immer. Die Mitteilung unseres Staatsanwaltes hatte sie genauso getroffen wie mich selbst. Die Ruhe um uns herum wurde schlimmer, als ich es ertragen konnte. Deshalb sprang ich auf, begann nervös auf und ab zu laufen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich eigentlich viel zu laut war. Kurzfristig starrte ich aus dem Fenster, versuchend, meine Gedanken wieder zu ordnen. Es gelang mir jedoch nicht. Schwungvoll wandte ich mich wieder um und bemerkte Michaels vorwurfsvollen Blick auf mir ruhen. Ungehalten schüttelte er den Kopf, denn er fühlte sich durch meine Bewegungen gestört. Im Gegensatz zu mir schien er die Ruhe zu genießen. Irgendwie fühlte ich mich durch diesen Blick angegriffen, konnte aber nicht sagen, warum das so war. „Ich muss hier raus.“, knurrte ich. „Kommt jemand mit?“ Erwartungsvoll schaute ich in die Runde, stieß auf ablehnende Gesichter. „Na dann eben nicht ...!“, brummte ich nur und verließ fast fluchtartig den Raum. Dass ich verwirrte Kollegen zurückließ, ignorierte ich einfach.
Noch immer ziemlich geschockt saß ich auf meinem Sessel und starrte vor mich hin. Ich konnte und wollte einfach nicht begreifen, was Kirkitadse uns vor wenigen Augenblicken um die Ohren geschleudert hatte. „Mist ...!“, rief ich vor mich hin und schlug mit der flachen Hand auf meinen Schreibtisch, sodass Gerrit und Robert mich erschrocken anschauten. „Michael, es hilft doch nichts. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass unser Kommissariat mit einem anderen zusammengelegt wird.“, meinte Gerrit leise. An seinem Tonfall merkte ich, wie nah ihm das Ganze ging. „Mich stört es, dass wir auseinander gerissen werden, Gerrit, immerhin sind wir ein eingespieltes Team.“, stellte ich fest und schluckte hart. „Aber darauf wird ja in Zeiten wie diesen keine Rücksicht mehr genommen.“, brummte Gerrit ungehalten vor sich hin und überging meinen stechenden Blick geflissentlich. „Es ärgert mich an der ganzen Geschichte nur eines gewaltig, und zwar, dass ich wieder nach Düsseldorf zurückversetzt werde, immerhin wollte ich mir hier etwas aufbauen.“, gab ich zu, beschämt wich ich dem Blick meiner Kollegen aus. Entgegen einer Abmachung hatte ich mich nun doch verraten.
Robert und Gerrit beobachteten mich interessiert, schienen nicht zu wissen, was sie von dem Gehörten halten sollten. Robert schüttelte verständnislos den Kopf. „Was um alles in der Welt meinst du damit?“, wollte er, neugierig geworden, wissen. Meine erste Reaktion auf seine Frage war eine wegwerfende Handbewegung, da ich im ersten Moment keine passende Antwort parat hatte. Gerrit hörte dem kurzen, etwas einseitigen Gespräch schweigend zu. Plötzlich grinste er vor sich hin. „Ist da vielleicht eine Frau im Spiel?“, erkundigte er sich neugierig. Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her, hatte aber eigentlich keine Lust, wirklich eine Antwort zu geben. „Ist doch jetzt auch egal, Leute, das ist nicht unser Problem. Alex und ich werden in andere Dienststellen versetzt, die in unseren Heimatorten sind.“, resümierte ich und schluckte, als mir wieder bewusst wurde, dass ich auch von Menschen getrennt werden sollte, zu denen ich eine wunderbare Freundschaft aufgebaut hatte. „Ich habe Angst, dass wir uns aus den Augen verlieren könnten.“, fuhr ich nachdenklich fort, schaute zu Gerrit hinüber, der in den letzten Jahren mein bester Freund geworden war. Ich musste zugeben, dass ich Angst um diese Freundschaft hatte. „Dann lassen wir es einfach nicht soweit kommen, Michael, so weit liegt Düsseldorf von München auch wieder nicht entfernt ... Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden werden.“, bemerkte Gerrit, ein wenig wehmütig, wie ich zu erkennen glaubte. Langsam nickte ich, denn ich wusste, dass er Recht hatte. „Wir werden eine Lösung finden ...!“, wiederholte ich seine letzten Worte, für mich klang es wie ein Versprechen.
Seit einiger Zeit lief ich wie traumatisiert in der Nähe des Kommissariats herum, ohne etwas wahrzunehmen. So kam es, dass ich mit unzähligen Leuten zusammenstieß, ohne dass es mir wirklich bewusst geworden war. Ich murmelte zwar immer wieder Entschuldigungen vor mich hin, konnte im Nachhinein aber gar nicht mehr sagen, ob sie auch angekommen waren.
Erst das Klingeln meines Handys brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ziemlich ungeschickt nestelte ich an meiner Hosentasche herum, es dauerte eine Weile, bis ich das kleine Telefon in der Hand hielt. Gerade noch rechtzeitig meldete ich mich, ehe mein Gesprächspartner auflegen konnte. „Alex ...!“, hörte ich eine mir wohlbekannte Stimme. „Willst du nicht wieder ins Büro zurückkommen?“ Wenige Sekunden dachte ich über diese Frage nach. „Ich komme, aber nur dann, wenn du mir Kaffee kochst.“, verlangte ich und hörte ein leises Lachen am anderen Ende der Leitung. „Das klingt fast nach einer Erpressung.“, stellte er belustigt fest. „Aber du weißt, dass ich für dich alles tue, Liebelein!“ Leise kicherte ich vor mich hin. „Ich weiß ... ich weiß, aber wie schaut es nun aus, bekomme ich meinen Kaffee?“, hakte ich nach. „Klar doch, Alex, ich möchte doch, dass du bald wieder hier bei mir bist.“, bemerkte er, aus seiner Stimme konnte ich so etwas wie Vorfreude heraushören. Geschmeichelt verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg ins K11. Plötzlich freute ich mich wieder darauf, ins Büro zu kommen, ging doch mit einem Male für mich dort die Sonne auf.
Tatsächlich wartete im K11 eine große Tasse mit heißem Kaffee auf mich mit laktosefreier Milch, so wie ich sie immer bekommen hatte. Michael hielt sie mir mit einem strahlenden Lächeln entgegen. „Danke ...!“, brachte ich nur hervor, das Blau seiner Augen zog mich wiederum in seinen Bann. Ich vergaß auf die Menschen um mich herum, für mich war im Augenblick nur er wichtig, und so erwiderte ich sein Lächeln ebenso strahlend, ehe ich den ersten Schluck meines Kaffees trank, Michael nicht aus den Augen lassend. Ich spürte das Knistern zwischen uns, das durch ein leises Räuspern unterbrochen wurde. Irritiert wandte ich mich von Michael ab und blickte Gerrit strafend an.
„Sollte es dir entgangen sein, dass du hier vielleicht auch ein wenig arbeiten solltest?“, wollte er belustigt wissen. „Ich weiß, Gerrit, ich weiß.“, nuschelte ich nur, ging schließlich doch zu meinem Schreibtisch. „Aber ich werde vorher noch den Kaffee austrinken, denn kalt schmeckt er nicht besonders.“ „Wieso habe ich das gewusst?! Du weißt aber schon, dass wir diesen Berg Akten hier erledigt haben sollten, ehe ...!“, murmelte Gerrit, bis ihm plötzlich wieder zu Bewusstsein kam, dass es dieses Kommissariat in wenigen Wochen nicht mehr geben würde. Betroffen schluckte er und sah uns treuherzig an. Er schien nicht zu wissen, was er weiter sagen sollte, deshalb schwieg er vorsichtshalber und erwartete auch von uns keine Antwort. „Du kannst es ruhig aussprechen, Gerrit, uns ist bewusst, dass wir in ein paar Wochen in alle Windrichtungen verstreut sein werden, auch wenn wir gute Arbeit gemacht haben.“, sagte Michael dann doch nach wenigen Minuten. „Komm mir nicht damit, Michael, du siehst doch selbst, dass so etwas nicht mehr zählt.“, konnte Gerrit sich nicht verkneifen zu sagen. Wir alle wussten, dass er Recht hatte, es bedurfte keinerlei Worte mehr.
Schweigend arbeiteten wir weiter, sollten wir doch hin und wieder ein Wort wechseln, dann nur über die geplante Auflösung. Es beschäftigte uns auch noch die restliche Zeit, die wir noch gemeinsam verbrachten. Nur in unserer Freizeit vermieden wir dieses Thema. Wir wollten die gemeinsamen Stunden einfach nur genießen ohne die Zeit im Nacken zu haben.
Niemand schien zu bemerken, dass sich zwischen Alex und mir mehr entwickelt hatte, als in der derzeitigen Situation wirklich gut war, doch diese Tage und Wochen waren dennoch die schönsten in meinem Leben, obwohl ich mit Wehmut an die Zeit dachte, in der wir wieder getrennt sein würden. Wir konnten uns nämlich nicht darauf einigen, gemeinsam in eine der beiden Städte zu ziehen, in der wir in Zukunft auch arbeiten würden.
Der Zeitpunkt der Trennung, egal ob nun im beruflichen oder im privaten Bereich, kam schneller, als mir lieb war. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass es vollkommener Unsinn war, mit ihr eine Beziehung zu beginnen, aber es hatte sich einfach so ergeben, und es war dennoch wunderschön gewesen.
„Sehen wir uns heute Abend noch?“, fragte ich vor Dienstschluss, als ich gerade mit Alex alleine im Büro war. „Natürlich, welche Frage, ich möchte unseren letzten Abend doch noch genießen.“, gestand sie ein wenig beschämt und lächelte schüchtern zu mir auf. Langsam, aber auch bedächtig nickte ich vorerst nur. „Hast du wirklich nur heute Zeit, Alex?“, wollte ich wissen, mein Blick wurde bittend. „Leider ...!“, bedauerte sie und zwinkerte mir leicht zu. „Morgen Vormittag kommt doch der Umzugswagen.“ Ich seufzte kurz auf. „Ich habe gedacht, dass wir noch ein Wochenende miteinander verbringen. Immerhin ist es unser letztes.“, stellte ich betrübt fest. „Tut mir Leid, Micha, ich kann den Termin nicht mehr absagen.“, murmelte Alex und wagte nicht, mir in die Augen zu schauen. Sekundenlang schwieg ich, überlegte mir, was ich darauf überhaupt antworten sollte. „Dann lass uns zu mir gehen, damit wir die letzten Stunden noch genießen können.“, brachte ich endlich mühsam hervor. Alex nickte nur, befolgte meine Bitte rascher als ich gedacht hatte.
Dieser Abend war der schönste meines Lebens gewesen, und ich hatte ihn auf das ganze Wochenende ausgedehnt. Ihm hatte ich eingeredet, dass mir der Fahrer dieses Umzugswagens abgesagt hatte, in Wahrheit war es eine Ausrede gewesen, um mir die Trennung nicht noch schwerer zu machen, als sie ohnehin schon war.
Wider Erwarten hatte ich mich rasch wieder in Osnabrück eingearbeitet, die alten Kollegen hatten mich mit offenen Armen aufgenommen. Noch wohnte ich bei meiner Mutter, während ich nach einer geeigneten Wohnung suchte. Frustriert stellte ich fest, dass es ebenso schwierig war wie in München, eine geeignete zu finden, die auch zu meinem bescheidenen Gehalt passte. „Mach dir keine Gedanken, Alex, du weißt doch, dass du hier bleiben kannst, so lange du möchtest.“, beruhigte Anette mich immer wieder, wenn ich am Boden zerstört vor ihr saß. „Mama, das weiß ich doch auch, danke für deine Hilfe.“, brachte ich nur mühsam hervor. „Das ist doch wohl selbstverständlich, Alexandra.“, erwiderte meine Mutter. „Aber mir macht nur eines Sorgen ...!“ Erstaunt schaute ich sie an, versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, es gelang mir nicht. „Was genau meinst du damit?“, hakte ich deshalb vorsichtig nach. Der Blick meiner Mutter wurde ernst, sie musterte mich eingehend. „Weißt du, Alex, in den letzten Wochen hast du dich ein wenig verändert. Frage mich aber nicht, wie ... ich weiß nur, dass dein Körper weiblicher geworden ist.“, bemerkte Anette. „Schau mich nicht so an, außerdem bist du mir viel zu ruhig und zu nachdenklich. Ich kenne dich so nicht, Alex.“ Leicht schockiert über das Gehörte starrte ich sie aus großen Augen an. Ich wusste im Moment nicht, wie ich auf ihre Äußerung reagieren sollte. Ich wusste zwar, dass ich ruhiger geworden war, aber ich führte das auf meine geänderten Lebensumstände zurück und tat es mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Es hat sich in den letzten Wochen soviel geändert, Mama, weshalb wunderst du dich über meine Veränderungen? Du weißt, dass ich mich in München sehr wohl gefühlt habe, von den vielen Freunden dort möchte ich gar nicht reden.“, brachte ich schließlich langsam hervor, verschwieg ihr aber, dass ich mit einem Kollegen eine Beziehung begonnen hatte, nicht allzu lange bevor ich von meiner Versetzung erfahren hatte. Ich konnte meine Mutter in dieser Beziehung nicht wirklich einschätzen, sollte sie dann doch davon erfahren.
In diesem Augenblick läutete mein Telefon, und ich konnte gar nicht sagen, wie mich das gerade in diesem Augenblick freute. Ich fischte es aus meiner Hosentasche und meldete mich. Erfreut nahm ich wahr, dass gerade die Person anrief, die mir in den letzten Wochen am meisten gefehlt hatte. „Michael ...!“, flüsterte ich, während ich mich erhob und den Raum verließ. Ab und zu hatten wir schon miteinander telefoniert, dabei hatte ich immer wieder festgestellt, wie sehr er mir fehlte. Gebannt hörte ich ihm zu, ab und zu warf ich einige Worte ein, wenn ich es für angebracht hielt. „Du fehlst mir ...“, hörte ich mich plötzlich sagen und erschrak, denn das hatte ich eigentlich nicht zugeben wollen. Diese Worte waren mir einfach so herausgerutscht.
Geschmeichelt hörte ich ihre Worte und lachte leise vor mich hin. Als mir bewusst geworden war, was genau sie damit meinte, hielt ich kurz die Luft an, als ich feststellte, dass es mir im Grunde genommen genau so ging. Bisher hatte ich es gekonnt verdrängt. „Bist du noch da?“, fragte Alex, da ich viel zu lange geschwiegen hatte. „Ja, Liebelein, ich habe über deine Worte nachgedacht.“, gab ich zu. „Was ist dabei herausgekommen?“, wollte sie neugierig wissen. „Kannst du dir das nicht denken, Alex? Du fehlst mir in allein Bereichen.“, gestand ich. „ ... vor allem fehlst du mir als Freundin und Geliebte.“ Wieder war es still, Alex war über mein Geständnis so erstaunt, dass sie schlichtweg sprachlos war. Und das war sogar für mich neu, denn das war nie vorgekommen, solange ich sie kannte. „Es gefällt mir noch immer nicht, dass wir in verschiedenen Städten arbeiten und leben.“, fuhr ich fort und musste einige Zeit auf eine Antwort warten. „Und wir beide wollen keine Fernbeziehung.“, bemerkte Alex leise, ich hörte ein kurzes Seufzen. „Ich weiß ... vielleicht sollten wir uns etwas überlegen.“, schlug ich vor. „Wir sollten uns dafür nicht allzu lange Zeit lassen, Michi.“, erwiderte Alex langsam. „Ich befürchte, dass es sonst zu spät sein wird ...“ Ich musste ihr natürlich Recht geben, und sagte ihr das auch.
Das Gespräch dauerte nicht mehr lange, eigenartigerweise hatten wir uns nichts zu sagen, obwohl ich noch immer nicht von Alex gehört hatte, wie es ihr so ging. Diesem Thema war sie gut aus dem Weg gegangen, auch wenn ich sie auf ihr Befinden angesprochen hatte. Ich konnte nur nicht verstehen, warum sie mir nicht antworten wollte oder konnte, und so beendeten wir unser Gespräch, nicht ohne dem Anderen das Versprechen abgenommen zu haben, sich wieder beim jeweils Anderen zu melden.
Als ich mich wieder umwandte, um zurück ins Wohnzimmer zu Anette zu gehen, merkte ich, dass sie bereits in der Tür stand und unwillig den Kopf schüttelte. „Was soll das, Alex?“, fragte sie ungehalten. „Warum gehst du in die Küche, wenn du telefonierst?“ Verlegen blickte ich in ihre Augen, wusste ich doch nicht, was ich antworten sollte. Rasch dachte ich darüber nach, was ich sagen sollte. Am besten würde es wohl sein, dass ich es mit der Wahrheit probierte. „Also ...?“, brummte meine Mutter, es schien sie zu ärgern, dass ich solange schwieg. Ihr Blick wurde stechend. „Weißt du, Mama, das war ein Kollege aus München ...“, begann ich und wusste plötzlich nicht mehr, ob ich überhaupt weitersprechen sollte. „Und warum machst du aus diesem Gespräch so ein Geheimnis?“, wollte sie fassungslos wissen. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Es war doch so viel mehr als nur ein Kollege, Mama, mehr als nur ein Freund.“, erzählte ich plötzlich, und da ich nun einmal den Anfang gemacht hatte, redete ich immer weiter, je länger ich das tat, umso leichter fiel es mir. Ich merkte rasch, dass es mir gut tat, mir meine vermeintlichen Probleme von der Seele zu reden. Meine Mutter hörte mir nur schweigend zu, sie stellte keinerlei Fragen, und darüber war ich ihr sogar überaus dankbar. Erst als ich mit meiner Geschichte fertig geworden war, konnte sie sich ein sachtes Kopfschütteln dann doch nicht verkneifen.
Einige Minuten starrte sie mich mit schief gelegtem Kopf schweigend an. „Was hast du jetzt eigentlich vor, Alex. Ich merke doch, dass du dich veränderst. Seit du hier bist, bist du so anders geworden.“, bemerkte Anette nachdenklich, ohne zu merken, dass sie sich wiederholte. „Bist du dir sicher, dass es keinen Streit gegeben hat, den du noch nicht verarbeitet hast?“ Erschrocken schüttelte ich den Kopf. „Mama, du hast Ideen ...! Wir wollten doch nur keine Fernbeziehung führen und haben uns getrennt, ehe wir uns bei unseren neuen Dienststellen gemeldet haben.“, antwortete ich leise. „Das ging doch auch ohne Streit.“ Ich schluckte hart, denn ich spürte die aufsteigenden Tränen. Erst durch dieses Gespräch merkte ich, wie sehr er mir tatsächlich fehlte, so viel mehr noch, als ich zugeben wollte. Ich senkte den Blick, da ich meiner Mutter nicht in die Augen schauen wollte. Immerhin hatte ich das Gefühl, dass sie in mich hineinschauen konnte. „Ist das der Grund, warum du dich in den letzten Monaten so verändert hast?“, fragte Anette plötzlich, nachdem sie einige Zeit über meine Geschichte nachgedacht hatte. Aus großen Augen starrte ich sie erschrocken an und zuckte schließlich hilflos mit den Schultern. „Das kann möglich sein, Mama.“, murmelte ich vor mich hin, hoffte, dass sie mich nicht weiter ausfragen würde.
Dieses Telefonat machte mir plötzlich klar, dass es so auf keinen Fall weitergehen konnte, und ich nahm mir zum wiederholten Mal vor, dass ich etwas daran ändern sollte. Nur war mir bisher noch nichts Brauchbares eingefallen. Das ärgerte mich immer mehr, je länger ich darüber nachdachte.
Erst mein Sohn Mike machte mir klar, dass ich mich zu meinem Nachteil verändert hatte. Er saß wie so oft in den Wochen, in denen ich wieder in Düsseldorf lebte, in meinem Wohnzimmer neben mir und versuchte, mit mir ein vernünftiges Gespräch zu führen. „Was ist mit dir los, Papa? Seit du wieder von München zurückgekommen bist, hast du dich arg verändert, erkläre mir, warum das so ist!“, bat Mike mich und musterte mich ziemlich forschend, genau so, als wollte er in mich hineinschauen. Mein Blick wanderte unruhig durch den Raum, ich fühlte mich in diesem Augenblick so hilflos und blickte meinem Kind vorerst nur schweigend in die Augen, ohne wirklich zu wissen, was ich eigentlich sagen sollte. Immerhin war es mir noch nie leicht gefallen, über meine Gefühle zu reden. „Na, Papa was ist jetzt? Hat es dir die Sprache verschlagen?“ erkundigte sich Mike mit einem spitzbübischen Grinsen auf den Lippen. „Natürlich nicht, Mike ... du stellst vielleicht Fragen.“, nuschelte ich nur, in meinen Ohren klang es sogar ein wenig vorwurfsvoll. Aber da Mike nur noch breiter lächelte, war es für ihn nicht so schlimm, wie ich es selbst empfunden hatte. „Also dann rede endlich, Papa, ich bin einfach nur neugierig, warum du so anders bist. Seit du wieder in Düsseldorf bist, hast du dich voll verändert, damit du das jetzt endlich mal weißt.“, meinte der Junge wieder ernst, obwohl es in seinen Augen nur so glitzerte und funkelte. Also war dieses Gespräch doch nicht so ernst, wie es sich anhörte. „Unsinn ...“, brummte ich nur. „Du reimst dir das doch nur zusammen, Mike. Schau mich nicht so an ...!“ Mein Blick wurde bittend, jedenfalls redete ich mir das ein. Meinem inzwischen erwachsenen Sohn machte ich natürlich nichts mehr vor, und so schien er mich auch bald zu durchschauen. „Weißt du, Papa, so wie du dich jetzt verhältst, tust du es nur, wenn es sich um Frauen handelt, an denen dir irgendetwas liegt.“, stellte der Junge fest. Erschrocken schaute ich Mike an, wusste ich doch, dass er vollkommen recht hatte. Aber ich hatte absolut keine Lust, ihm von Alex und mir zu erzählen. Diese kurze Liebesbeziehung war doch schon ein paar Wochen vorbei, aber sie fehlte mir noch immer, unsere endlosen Diskussionen und Gespräche, die wir immer wieder geführt hatten. Von den wenigen Nächten, die wir miteinander verbracht hatten, träumte ich noch immer, waren sie doch etwas ganz besonderes gewesen. Immer wieder fragte ich mich, warum unsere Dienststelle so einfach aufgelöst und Alex und ich an verschiedene Dienstorte versetzt worden waren.
Während ich über die letzten Wochen in München nachdachte, beobachtete Mike mich schweigend. „Papa ... was geht in deinem Kopf vor?“, wollte er erstaunt wissen, als er aus mir nicht schlau zu werden schien. Hilflos zuckte ich vorerst nur mit den Schultern. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Mike. Vielleicht kann ich dir das irgendwann einmal erzählen, ich muss mir über meine Gedanken doch erst selbst noch klar werden. Verstehst du das?“, erkundigte ich mich neugierig und musterte Mike erwartungsvoll. Gedankenverloren wiegte er den Kopf hin und her, schwieg einige Sekunden. „Nicht ganz, Paps, aber ich werde darauf warten, dass du es mir vielleicht mal erzählst.“, versprach Mike endlich, während er mir eine Weile in die Augen schaute. Zu seinen letzten Worten konnte ich nur noch nicken und nahm mir vor, ihm irgendwann doch von meinem „Problem“ zu erzählen. Auch wenn es eigentlich keines war, im Grunde wäre es sicherlich einfach gewesen, es zu lösen. Ich hätte nur mehr darüber nachdenken müssen.
Ich wusste genau, dass mir nicht nur die Trennung von Michael zusetzte, aber noch wollte ich keinem erzählen, dass unsere Beziehung Spuren hinterlassen hatte, denn vorerst sollte ich zu einem Arzt gehen, der mir mein kleines Geheimnis auch bestätigen konnte.
Verträumt lächelte ich vor mich hin, als ich wieder einmal an die Kürze unserer gemeinsamen Zeit dachte. Sie war die schönste in meinem Leben gewesen, und ich musste mir eingestehen, dass ich diese Beziehung durchaus fortsetzen würde, sollte sich eine Gelegenheit dafür bieten. „Woran denkst du denn gerade?“, hörte ich meine Mutter fragen. Erschrocken bemerkte ich, dass sie mich schon einige Zeit beobachtet haben musste. „Ich denke an die Monate, die so schön waren, dass ich sie nicht missen möchte. Nur meine Versetzung hat sie beendet, Mama!“, erwiderte ich versonnen. Aber darüber haben wir doch schon gesprochen!“ „Ich weiß, Alex, ich weiß, aber ich wollte wissen, worüber du nachdenkst.“, gestand Anette freundlich lächelnd. Es kam mir vor, als wollte sie mich von meinen trüben Gedanken ablenken. Ganz ließ ich es nicht zu, es tat mir unheimlich gut, an ihn zu denken, an die Wochen, in denen wir zusammen waren. Ich konnte keinem sagen, wie sehr er mir fehlte, auch wenn wir ab und zu telefonierten. Diese Gespräche konnten ihn jedoch nicht ersetzen.
„Ich habe noch einen Termin.“, sagte ich meinem Kollegen, während ich meinen Rechner herunterfuhr. „Und ich werde heute nicht mehr ins Büro kommen.“ Heftig schüttelte Gerhard den Kopf. „Das geht gar nicht, Alexandra, du weißt, dass in einer Stunde eine Besprechung ist. Jemand muss hier im Büro bleiben.“, erklärte er mir erregt. Mitleidig schaute ich ihm in die Augen. „Schön und gut, aber ich habe einen Arzttermin, den ich trotz der Besprechung wahrnehmen werde. Du wirst dir jemand anderen suchen müssen.“, stellte ich fest und wunderte mich noch immer, dass er mich mit „Alexandra“ angesprochen hatte, obwohl er genau wusste, dass ich das absolut nicht wollte, ja sogar hasste. Gerhard war der Einzige, der das einfach ignorierte und mich ab und zu damit auf die Palme brachte. Ich merkte, dass mein Kollege wütend an seiner Lippe herumkaute und schließlich aufsprang, um mir zur Tür zu folgen, an der ich bereits stand. Irritiert verfolgte ich sein Tun. „Komm mir nicht so, Gerhard ... du weißt, dass ich vor keiner Arbeit zurückschrecke, aber ich halte meine Termine auch gerne ein.“, erklärte ich ernst. „... auch das ist kein Geheimnis. Und jetzt noch einen schönen Abend!“ Wider Erwarten wandte sich Gerhard von mir ab und stapfte zurück zu seinem Schreibtisch. An seinem Gang merkte ich, dass er noch immer wütend darüber war, dass ich ihn seiner Meinung nach im Stich ließ. Aber an diesem Nachmittag störte es mich absolut nicht, und so blieb ich hart, verschwand rasch, ehe ich die Tür lauter ins Schloss zog, als unbedingt notwendig gewesen war. Das ich einen ziemlich verunsicherten Gerhard zurückließ, war mir nicht bewusst. Hätte ich es gewusst, wäre es mir egal gewesen, denn ich war stolz darauf gewesen, hart geblieben zu sein, wusste ich doch, dass es Gerhard immer öfter schaffte, mich von meinen Vorhaben abzubringen.
Beim Arzt musste ich zu meinem eigenen Erstaunen nicht allzu lange warten. Im Wartezimmer saß niemand, es war leer, was mich sehr wunderte. Immerhin genoss der Arzt in Osnabrück einen ausgezeichneten Ruf.
„Frau Rietz, was kann ich für Sie tun?“, wollte Doktor Baumann nach einer kurzen Begrüßung wissen. „Ihre Kontrolle ist doch erst zwei, drei Monate her, da war doch noch alles in Ordnung.“, fuhr er fort, als ich schwieg, da ich nach den richtigen Worten suchte. Während er sprach hatte er auf seinen Bildschirm gestarrt und einige Male auf der Tastatur herumgedrückt. „Das ist richtig ...!“, begann ich und erzählte stockend, warum ich so kurz nach meinem letzten Arztbesuch schon wieder gekommen war. Ohne näher auf meine Geschichte einzugehen, begann er mir Fragen zu stellen und bat mich schließlich mich frei zu machen. Gebannt verfolgte ich die Untersuchung, und langsam dämmerte mir, was mir genau fehlte. Noch wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, wollte aber darauf warten, was der Arzt sagte. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis mir Doktor Baumann das Ergebnis der Untersuchungen mitteilte. Es war genau das, was ich mir gedacht hatte. Langsam verzogen sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen, denn ich begann mich auf das Kind zu freuen, das in mir heranwuchs.
Lange Zeit wartete ich vergebens darauf, dass Alex sich bei mir meldete. Leider tat sie es aus irgendwelchen Gründen nicht, und ich war deshalb enttäuscht, konnte niemanden sagen, wie sehr. Oft genug beschwerte ich mich bei Gerrit darüber, obwohl er nicht genau wusste, wovon ich genau sprach. Natürlich sagte ich ihm nicht, dass ich von meiner Liebe zu Alex redete. Gerrit verstand nur, dass es um sie ging. Aus irgendeinem Grund hinterfragte er meine Geschichte nicht, nahm sie einfach zur Kenntnis. Vermutlich hörte er mir einfach nur zu, vielleicht auch nur deshalb, um nicht selbst etwas sagen zu müssen. Doch bevor wir das Gespräch beenden konnten, fiel mir ein, dass ich nur von mir gesprochen hatte. Rasch holte ich nach, was ich in den letzten Minuten verabsäumt hatte und ließ mir von Gerrit erzählen, was in München so vor sich ging. Es dauerte seine Zeit, bis er schließlich zum Ende kam. Im Grunde hatte ich nur begriffen, dass sein Kontakt zu Robert völlig abgerissen war und Kirkitadse ihm ab und zu über den Weg lief. Ich konnte mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, als ich an unseren Staatsanwalt dachte. Also ließ ich mir von Gerrit berichten, wie es ihm ging und bat ihn endlich, Kirkitadse von mir grüßen zu lassen. Da somit nun doch alles gesagt worden war, beendeten wir das Gespräch rasch.
Langsam legte ich mein Handy vor mich auf den Tisch und lehnte mich nachdenklich zurück, starrte vor mich hin. Meine Gedanken wanderten wieder zurück zu dem Gespräch, das ich vor kurzem noch mit Gerrit geführt hatte. Ich stellte fest, dass mir die Zeit, die ich in München verbracht hatte, unheimlich fehlte. Immerhin hatte ich mich mit den Kollegen immer gut verstanden, sodass wir auch viel Freizeit miteinander verbracht hatten. Ich konnte nicht begreifen, dass es hier in Düsseldorf nicht so sein sollte. Obwohl man mich hier mit offenen Armen aufgenommen hatte, fühlte ich mich dennoch wie ein Außenseiter und verbrachte daher viel Zeit alleine mit einem Glas Bier in irgendwelchen Kneipen oder in meinem Wohnzimmer. An diesem Abend saß ich deshalb wieder alleine zu Hause, zwar ohne Bier, aber alleine, wie so oft in der letzten Zeit ...
„Komm, Alex, setze dich wieder zu mir. Du kannst mir endlich erzählen, warum du in der letzten Zeit so nervös bist.“, bat meine Mutter und klopfte auf die Sitzfläche neben sich. Irritiert schaute ich zu ihr hinüber, denn ich stand wie so oft in der letzten Stunde vor dem Fenster, wo ich auf meiner Wanderung durchs Zimmer stehen geblieben war. „Na, komm schon, mein Kind ... ich möchte doch wissen, was in dir vorgeht.“, erklärte Anette. Ich merkte, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen schlich, und es schien mir, als sollte es mich beruhigen. Noch gelang es meiner Mutter nicht, aber ich wusste, dass sie nichts unversucht lassen würde, es so oft wie nötig zu versuchen.
Etwas an ihrem Blick sagte mir, dass es besser sein würde, ihrer Bitte Folge zu leisten. Langsam kam ich auf sie zu und nahm neben ihr Platz. Krampfhaft überlegte ich, wie ich ihr sagen sollte, dass sie wieder Großmutter werden würde. Ich hob den gesenkten Kopf und schaute Anette in die Augen. Noch sagte ich nichts, denn ich wusste noch immer nicht, was es sein sollte. „Mama ...“, begann ich und wusste mit einem Male nicht mehr weiter, meine Gedanken wirbelten durch den Kopf. Ich musterte ihr Gesicht, versuchte darin zu lesen. Enttäuscht stellte ich fest, dass ich es an diesem Abend einfach nicht konnte. Geduldig wartete Anette darauf, dass ich endlich weiterredete. Es dauerte jedoch noch einige Zeit, bis ich die richtigen Worte gefunden hatte. Endlich sprudelte es aus mir heraus, all die Gefühle und Gedanken, die ich mir gemacht hatte. Ich wunderte mich darüber, dass meine Mutter schwieg, immerhin wusste sie, dass ich alleine war, mich und mein Kind alleine durchschlagen würde müssen.
„Alex, was hast du nun vor?“, fragte sie, nachdem sie überlegt hatte, was sie von dem eben Gehörten halten sollte. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung, Mama, ich schaffe es schon irgendwie. Ich bin doch nicht die Erste, die ihr Kind alleine großzieht.“, meinte ich nach kurzem Überlegen. Plötzlich hob ich meinen Kopf und schaute meiner Mutter mit einem breiten Lächeln in die Augen. „Aber ich weiß, dass du mir vielleicht helfen wirst.“, fuhr ich fort. Bedächtig nickte Anette, erwiderte mein Lächeln an diesem Tag besonders liebevoll. „Natürlich, mein Kind, natürlich, welche Frage. Ich habe Ela bisher auch geholfen, wo es nur ging, also werde ich das auch bei dir tun.“, versprach sie. Behutsam streichelte sie über meine Wangen, wieder lächelte sie mir begütigend zu. Bestätigend nickte ich, wusste ich doch, dass meine Mutter seit der Geburt meiner Nichte ihre begrenzte Freizeit mit der Kleinen verbrachte. Anette wollte damit meine Schwester entlasten, jedenfalls erzählte sie mir das immer wieder. „Ich freue mich auf dein Kind.“, stellte Anette plötzlich fest, und ich glaubte ihr jedes Wort, zu sehr strahlte sie mich an.
Ich genoss meine Schwangerschaft in vollen Zügen. Kopfzerbrechen bereitete mir nur, wie ich diese Tatsache Michael beibringen sollte. Immerhin wurde er wieder Vater und hatte das Recht, es auch zu erfahren. Nur wusste ich nicht, wie ich das tun sollte. Am Telefon erschien es mir unpassend, und mein Dienstplan ließ es nicht zu, mehrere Tage nach Düsseldorf zu fahren, um ihm davon zu erzählen. Auch seine Zeit ließ es nicht wirklich zu, zu mir zu kommen. Also telefonierten wir nur miteinander, sagten uns zwar, dass wir einander fehlten und uns so sehr vermissten. Jedoch zu einer Veränderung kam es nicht, da keiner je wirklich dazu die Kraft besaß.
Inzwischen hatte ich mir eine äußerst kleine Wohnung genommen, um meiner Mutter nicht länger zur Last zu fallen. Sie widersprach mir zwar, ich ließ mich aber nicht von meinem Vorhaben abbringen. Ich konnte keinem sagen, wie glücklich ich war, wieder alleine zu leben, ich genoss es unheimlich. Deshalb verbrachte ich viel Zeit in meinem kleinen Wohnzimmer, pflegte mich und mein Kind, das noch in mir heranwuchs. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ich es im Arm halten würde, und ich freute mich jeden Tag mehr darauf, dass es endlich da war. Und nach und nach besorgte ich Dinge, die ich in wenigen Wochen benötigen würde.
Anette ließ es sich jedoch nicht nehmen, mich in den Tagen vor dem errechneten Geburtstermin zu umsorgen. Mit Mühe konnte ich verhindern, ihr klar zumachen, dass ich das eigentlich gar nicht wollte, und so ließ ich mich bemuttern. Erst als die Wehen einsetzten, wusste ich ihre Anwesenheit zu schätzen. In diesem Augenblick tat sie genau das Richtige. Bald schon raste die Rettung mit mir in die kleine Klinik, die ich mir für die Geburt ausgesucht hatte und wusste, dass Anette mir mit einem Taxi folgte, denn sie wollte doch dabei sein, wenn ihr Enkelkind ihren ersten Schrei tat. Meine Tochter hatte es jedoch ausgesprochen eilig und kam bereits im Rettungswagen zur Welt. Meine Mutter war sichtlich enttäuscht darüber, wollte sie doch ihrer Enkelin selbst in diese Welt helfen. Belustigt beobachte ich Anette dabei, wie sie das kleine Mädchen reinigte, wog und auch abmaß. Schließlich zog sie Emilie, wie ich meine Tochter nennen wollte, an. Anette strahlte, als sie mir mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm zu mir trat und sie mir auf meinen Körper legte.
Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen las ich einen kleinen Zeitungsausschnitt, in dem erzählt wurde, dass ein kleines Mädchen in einem Krankenwagen zur Welt gekommen war. Erst als ich den Namen der Stadt gelesen hatte, in dem sich diese Geschichte abgespielt hatte, fiel mir Alex ein, und ich stellte fest, dass wir einander schon lange nicht mehr gehört hatten. Traurig stellte ich fest, dass sich in den letzten Monaten keiner die Mühe gemacht hatte, den jeweils anderen zu besuchen. Nie hatte ich geglaubt, dass dieses Sprichwort: „Aus den Augen aus dem Sinn!“ bei uns zutreffen würde. Ich seufzte kurz auf, die Erinnerung an die schöne Zeit mit Alex tat noch immer weh. Bisher hatte ich nämlich immer geglaubt, dass sie so etwas wie mein Lebensmensch gewesen war, inzwischen wusste ich, dass es eine Täuschung gewesen sein musste. Ich trank den letzten Schluck meines Frühstückkaffees aus und erhob mich, um mich fürs Büro fertig zu machen. Ich tat dies mit einem Anflug von Widerwillen, da ich mich auf meiner Dienststelle nicht so wohl fühlte, wie es eigentlich sein sollte.
Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz lief Mike an mir vorbei. Erstaunt nahm ich das zur Kenntnis und grinste ihn schief an, als er mich endlich bemerkte. „Was willst du denn hier?“, fragte er mich verwundert, während er mich eingehend musterte. Mitleidig lächelte ich Mike an. „Ich fahre zur Arbeit, Mike, und ich fragte mich, was du um diese Zeit hier machst. Die Schule fängt doch heute erst um neun Uhr an.“, bemerkte ich. Seit ich wieder in Düsseldorf lebte, wusste ich sogar, um welche Zeit der Unterricht begann. Immerhin verbrachte ich unzählige Stunden mit Mike, ich muss zugeben, dass es mir unheimlich viel bedeutete, mit dem Jungen zusammen zu sein. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. „Weißt du, Papa …!“, begann er und schwieg plötzlich wieder. Er sah mir kurz in die Augen, schien nicht zu wissen, was er überhaupt sagen sollte. Nach kurzem Zögern, das er zum Nachdenken nutzte, gab er mit einem Male zu: „Ich war bei einem Mädchen!“ Irritiert erwiderte ich seinen Blick. „Schau mich nicht so an, Papa, Mama weiß noch gar nicht, dass ich überhaupt nicht zu Hause war. Sie ist nämlich über Nacht nicht hier in Düsseldorf.“, bekannte Mike endlich, wagte nicht, mir weiterhin in die Augen zu schauen. Ich wurde ein wenig misstrauisch, schaute ihn von der Seite her an und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, das jedoch auf mich wie versteinert wirkte. Es gelang mir aber nicht. So schüttelte ich nur den Kopf, konnte ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Mike erinnerte mich zu sehr an meine eigene Jugend, stellte ich fest. Immerhin hatte ich auch oft genug versucht, ohne dem Wissen meiner Eltern bei Mädchen über Nacht zu bleiben. An die Strafen, die darauf folgten, wollte ich gar nicht mehr denken …
„Ach, deine Mutter ist gar nicht in der Stadt?“, fragte ich verwundert. „Sie hat mich gar nicht gebeten, nach dir zu sehen.“ Genau das irritierte mich besonders. In den wenigen Monaten, die ich wieder in Düsseldorf lebte, hatte sie es oft genug getan. Von ehemals gemeinsamen Freunden wusste ich, dass Ute in Köln seit kurzem einen Freund hatte. „Papa, ich habe sie gebeten, dass sie das nicht tun soll, ich bin doch schon alt genug, um alleine zu bleiben.“, gestand Mike mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen. „Ich weiß doch …!“, murmelte ich nur vor mich hin. „Ich werde dich noch rasch nach Hause bringen.“ Erfreut nickte Mike, froh darüber, dass das ursprüngliche Thema nun endgültig vom Tisch war.
Es war so eingetroffen, wie ich es mir gedacht hatte. Seit ich mit Emilie aus der Klinik nach Hause gekommen war, war Anette um mich herum und stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Ich war ihr zwar dankbar, aber ich hatte das Gefühl, durch diese Hilfe erdrückt zu werden. In den ersten Wochen wusste ich nicht, wie ich meiner Mutter klar machen sollte, dass ich diese Hilfe eigentlich nicht mehr benötigte, dann hatte ich bereits Gewissensbisse, wenn ich auch nur daran dachte, ihre Hilfe auch nur abzulehnen. Da kam mir der Anruf meines Vaters gerade recht, der darauf bestand, endlich seine Enkeltochter kennen lernen zu wollen. Natürlich entsprach ich seinem Wunsch und kündigte an, in den nächsten Tagen bei ihm vorbeizukommen. Ich spürte den missbilligenden Blick meiner Mutter auf mir ruhen, konnte nur lächelnd den Kopf schütteln.
„Willst du tatsächlich mit der Kleinen auf diesen Reiterhof fahren?“, fragte sie mich entsetzt. „Mama, warum soll ich denn mit Emilie nicht zu ihrem Großvater fahren? Bei Ela und mir waren Tiere doch auch kein Problem, warum sollte das bei Emilie eines werden? Und ich habe Papa schon ewig nicht mehr gesehen.“, bemerkte ich, fest sah ich meiner Mutter in die Augen und konnte ein Kopfschütteln nicht verhindern. Ich wusste zwar, dass sich meine Eltern seit ihrer Scheidung absolut nichts mehr zu sagen hatten, verstand jedoch nicht, warum meine Tochter ihren Opa nicht sehen sollte. „Das weiß ich doch, Alex …!“, murmelte Anette, senkte endlich beschämt ihren Blick. Ich hatte den Eindruck, als wäre sie sich ihres kleinen „Fehlers“ bewusst geworden. Verschmitzt lächelte ich vor mich hin, wusste ich doch, dass ich gewonnen hatte. In den nächsten Tagen würde ich den Kofferraum meines Autos bis oben hin vollstopfen und zu Jürgen Rietz auf seinen Pferdehof fahren. Ich konnte keinem sagen, wie ich mich darauf freute, immerhin hatte ich meinen Vater seit meiner Versetzung nach Osnabrück nicht mehr gesehen, weil mir der Weg zu ihm einfach viel zu weit gewesen war. Da ich im Augenblick unheimlich viel Zeit hatte, wollte ich zu ihm, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass es meiner Mutter nicht zu gefallen schien, dass sie einige Zeit auf Emilie verzichten musste. Sie sah jedoch ein, dass sie mich nicht daran hindern konnte, nach Bayern zu fahren.
Anette nötigte mir das Versprechen ab, sie sofort anzurufen, wenn ich bei Jürgen angekommen war. Natürlich sagte ich ihr zu, um sie zu beruhigen. „Alex … schöne Reise und melde dich.“, bat Anette, als sie zum offenen Autofenster hereinschaute und mir zärtlich über die Wange streichelte. Schüchtern lächelte ich ihr zu, ehe ich ihr antwortete: „Ich melde mich, versprochen, und jetzt lasse mich fahren, Mama, ich möchte nicht zu spät zu Paps kommen.“ Verständnisvoll nickte Anette. „Dann fahr los und sei vorsichtig.“, brachte sie endlich hervor, nachdem sie einen kurzen Blick auf Emilie geworfen hatte. „Ich werde vorsichtig sein.“, versprach ich, hoffte darauf, dass ich auf Anette beruhigend wirken würde, als ich ihr kurz zulächelte. Endlich startete ich meinen Wagen und brauste los.
Die Fahrt verlief nicht so ganz, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Auf der einen Seite kam ich in einen Stau, auf der anderen forderte Emilie ihre Rechte ein – sie wollte gewickelt und gefüttert werden. So fuhr ich auf einen Parkplatz, der zwar nicht gerade überlaufen war, aber wo ich mich doch sicher fühlen konnte. Ich parkte etwas abseits und begann, mich mit meiner Tochter zu beschäftigen und merkte, dass sie es unheimlich genoss. Sie gab Laute von sich, die ich ohne weiteres in die Kategorie „gut gelaunt“ einordnen konnte. Ich lächelte verträumt vor mich hin, als ich Emilie dabei beobachtete, wie sie heftig an meiner Brust sog, um ihren großen Hunger stillen zu können. Natürlich dachte ich wieder daran, dass ihr Vater eigentlich das Recht hatte, von ihr zu erfahren. Warum ich bisher noch nicht von Emilie erzählt hatte, konnte ich beim besten Willen nicht mehr sagen, nahm mir jedoch vor, es so rasch wie möglich nachzuholen. Nur wann ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen würde, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Immerhin hatte ich ihm in den letzten Monaten von meiner Schwangerschaft auch nichts erzählt und deshalb Angst vor seiner Reaktion.
Erschrocken fuhr ich zusammen, Emilie war so stürmisch gewesen und hatte mich in die Brust gezwickt. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf das Mädchen in meinen Armen, da sie aber noch immer trank, schien sie sich keiner Schuld bewusst zu sein. Ich konnte mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen und schüttelte leicht den Kopf. Während ich schließlich darauf wartete, dass das Mädchen ein „Bäuerchen“ machte, ging ich auf dem kleinen Parkplatz auf und ab, um mir auch ein wenig die Beine zu vertreten. Während ich auf und ab ging, schlief Emilie in meinen Armen ein. Ich merkte es erst, als ich sie in den Maxi-Cosy legen wollte. „Schlaf du nur, mein Engel, wenn du wach wirst, sind wir schon bei deinem Großvater.“, stellte ich leise fest, küsste sie sanft auf die Stirn, ehe ich mich wieder hinters Steuer setzte und losfuhr.