Hihi, Flo ist genauso ein fauler Sack wie ich. Ich mach auch immer alles aufn letzten Drücker. Zum Glück hat er Kai, der ihn ein bissl "antreibt".
Er schrieb sich in einen zusätzlichen Kurs ein, wo es um Sportjournalistik ging. Es war ein übergreifender Kurs, was heißt, dass in diesem Kurs Studenten aus allen Jahrgängen saßen. Kai hatte nicht allein hingehen wollen und ihn deshalb mitgeschleift. "Wieso Richtung Journalismus?", hatte Florian ihn noch gefragt, doch Kai hatte nur mit den Schultern gezuckt - Und somit ist das neue Journalisten Duo geboren.
Die ersten Monate vergingen wie im Flug. Florian lernte mehr Leute kennen, freundete sich mit einigen an. Aber das waren alles eher oberflächliche Freundschaften. Bei Kai war es anders. Zu ihm hatte er seine Freundschaft immer mehr vertieft. Kai hatte ihn sogar einmal übers Wochenende mit zu seinen Eltern genommen. Sie verbrachten fast ihre gesamte Freizeit gemeinsam und Kai half Florian auch mit dem Schulstoff, so weit er es konnte. Sylvester feierten sie in der Mensa. Kai hatte eigentlich nach Hause zu seinen Eltern fahren wollen, aber Florian wollte nicht zu sich heim. Also war er auch geblieben. Sie feierten mit einigen anderen Studenten, tanzten, tranken. "Komm mal mit", sagte Kai mit etwas schwerer Zunge und zog Florian von der Tanzfläche und nach draußen. "Mir ist schwindlig", beklagte sich Florian, bekam dabei das letzte Wort nicht mehr ganz raus und lachte. "Du bist besoffen." Verständnislos blickte Florian ihn an. "Ja. Ich sag doch: Mir ist schwindlig." Lachend gingen sie ins Wohnheim und stiegen die Stufen nach oben. Verwundert bemerkte Florian, dass sie höher stiegen, als bis zu der Etage, in der sie wohnten. Schließlich standen sie vor einer Tür. Kai räusperte sich und setzte einen sehr wichtigtuerischen Blick auf. "Lieber Mitstudent. Ich weihe dich heute..." Als Florian loslachte, sah er ihn streng an. "Ich bitte um Ruhe. Ich weihe dich heute in das Geheimnis unseres Wohnheimes ein. Die älteren Studenten haben sich hier oben auf dem Dachboden eine kleine Oase der Ruhe erschaffen. Es gibt nur ein paar Schlüssel, die von Student zu Student weitergegeben werden. Kein Lehrer hat diesen Dachboden je betreten, auch wenn alle wissen, dass wir Studenten uns hin und wieder hier oben treffen." Umständlich steckte Kai einen ziemlich alt aussehenden Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn um. Es quietschte leise, als er die Tür aufschob. An der Wand war ein Lichtschalter, den Kai jetzt anknipste. Dann schob er Florian in den Raum. Verblüfft sah der sich um. "Was ist denn..." Sein Blick schweifte über den weitläufigen Dachboden. Die Balken, die hier zu sehen waren, waren mit dunkler Farbe hervorgehoben worden. Die Wände dazwischen trugen einen Farbton, der irgendwie leicht Orange-Braun aussah und unglaublich warm und behaglich wirkte. Überall auf dem Boden lagen Kissen herum. Es gab bequeme Sofas und Sessel. Dazwischen standen Topfpflanzen, die alle gut gepflegt aussahen. Tücher teilten den Raum auf einer Seite in Nischen. Und im Dach waren Fenster eingelassen, die einen wunderbaren Blick auf den Sternenhimmel zuließen. Kai wartete, bis Florian alle Eindrücke in sich aufgenommen hatte und deutete dann zum hinteren Teil des Raumes. "Komm, ich zeige dir noch ein wenig mehr." Er führte ihn an den Tüchern vorbei und sie kamen zu einem kleinen Kühlschrank. "Jeder, der einen Schlüssel hat, sorgt dafür, dass immer etwas im Kühlschrank ist. Und jeder darf sich nehmen, was er will." Kai öffnete die Tür. Es gab darin Knabbereien, Bier, alkoholfreie Getränke, Schokolade, aber auch Obst. In einem Gefrierwürfel auf dem Kühlschrank lag haufenweise Eis. "Das ist... unglaublich", flüsterte Florian fast ehrfurchtsvoll. "Hier oben lernen wir für wichtige Prüfungen. Es gibt auf dem ganzen Campus keinen ruhigeren Ort. Hier oben treffen sich auch einige mit ihren Freundinnen oder Freunden." Kai grinste. "Wenn jemand allein sein will, hängt er draußen ein Tuch an den Türgriff. Drüben auf der anderen Seite steht eine Musikanlage. Es ist natürlich verboten, hier eine Party zu feiern." Sie gingen rüber und Florian besah sich die Schallplatten und Kassetten. Es waren meist sehr ruhige Titel, einiges an Klassik und aufgenommene Naturgeräusche, wie Meeresrauschen und so weiter. Wieder sah er sich um. Ja, hier oben konnte man lernen. Es war ruhig und gemütlich, man konnte sitzen oder einfach laufen. Er lauschte. Kein Ton der Party, die gar nicht mal so weit weg stattfand, drang hier herein. "Danke, dass du mir den Raum gezeigt hast." "Du hast zwar noch keinen eigenen Schlüssel, aber wenn ich die Schule verlasse, bekommst du meinen. Die älteren Schüler geben ihren immer an einen jüngeren ihres Vertrauens weiter. Und ich vertraue dir. Erzähle niemandem von diesem Raum, den du hier oben noch nicht gesehen hast." "Versprochen." Kai lächelte und zog Florian mit sich mit hinter die Musikanlage. "Wenn du hier diese Holzplatte zur Seite schiebst..." Er tat es und ein Fenster kam zum Vorschein. Es war Florian von unten schon aufgefallen, weil es an der einen Seitenwand des Wohnheimes war und irgendwie nicht zum Treppenhaus zu gehören schien. "Das ist ein Fenster, was man nachträglich hat einbauen lassen. Keine Ahnung, wofür man den Dachboden mal nutzen wollte. Aber schau mal raus." Der Blick, der sich dem jungen Mann hier bot, war einfach atemberaubend. Man blickte über den dunklen Campus, über den Park, bis hinüber zum Dom. Die Stadt, die unzähligen Lichter, es war ein Traum. Florian blickte schweigend hinaus, mit der Schulter lehnte er an der Mauer. In seinen Augen spiegelten sich die Lichter der Stadt wieder, als Kai zur Tür zurück ging und das Licht ausschaltete. Es war sternenklar in dieser Nacht und ein heller Vollmond leuchtete über Köln. Er spiegelte sich auf dem Schnee wieder, der in den letzten Tagen gefallen war und ließ ihn silbern glitzern. Hin und wieder sah man Raketen in den Himmel steigen. Etwas klirrte leise und Kai trat hinter Florian. Er schob einen Arm um seinen Körper und hielt ihm ein Glas Sekt vor die Nase. Damit holte er ihn in die Wirklichkeit zurück. "Entschuldige, wenn ich deine Gedanken störe, aber ich würde gern mit dir anstoßen. Gesundes, neues Jahr, Flo." Der blickte auf seine Uhr. War es wirklich schon Mitternacht? Offensichtlich. Lächelnd nahm er das Glas und stieß mit Kai an. "Gesundes, neues Jahr, Kai." In seinen Augen glänzten Tränen, als er sich wieder dem Fenster zuwandte. Er spürte Kai, der immer noch dicht hinter ihm stand. "Tust du mir einen Gefallen?" "Welchen?", fragte Kai vorsichtig. "Bleib einfach so stehen." Kai schaute Florian überraschte an, zuckte dann leicht mit den Schultern und tat es. Er trank einen Schluck von seinem Sekt, schob dann den Arm um Florians Bauch und zog ihn ein Stück an sich heran. Er spürte, dass Florian sich gegen ihn fallen ließ, sah im hellen Mondlicht Tränen über sein Gesicht laufen. Er wollte ihn fragen, was los war, unterließ es aber. Stattdessen schaute er nach vorn, wo jetzt nach und nach Raketen in den Himmel stiegen. Die Kölner verließen ihre Häuser und Wohnungen, um das neue Jahr mit Funkenregen und Böllern zu begrüßen.
Tjaaa, sieht ganz so aus, als wäre da was im Busch, hm? Journalismus....ohne Angabe von Gründen. Was will Kai denn damit? Wo wir doch alle wissen, dass seine Karriere so GAR NIX mit Journalismus zu tun hat ...^^ oder die von Flo, wo wir grade dabei sind ...
Dieses kleine geheime Studentenversteck ist genial, absolut traumhaft. Da könnte man so schön schreiben, da oben. Der Witz ist, ich war heute in ner Bibliothek, da gabs oben ein Lernstudio, das sah genau so aus, wie du den Raum hier beschrieben hast, nur ohne Kühlschrank und ohne Abtrennungen....aber sonst....*schwärm* Ich könnt da glatt einziehen (den Kühlschrank bring ich dann selber mit).
Dann mal frohes neues Jahr unseren beiden Lieblingsstudenten. Bin ja mal gespannt, wie sich das noch entwickelt, mit den beiden. Weil nur Freundschaft ist was anderes, oder? Und Flo scheint ja im Moment nicht gerade fröhlich gestimmt zu sein. Neujahrsmelancholie, hm?
Florian wachte am Mittag mit Kopfschmerzen auf. Sein Mund fühlte sich pelzig an. Er blickte sich verwirrt um. Im schummrigen Licht, welches durch die kleinen Dachfenster fiel, konnte er sehen, dass er sich immer noch auf dem Dachboden befand. Verwirrt versuchte er, sich daran zu erinnern, was gestern Abend vorgefallen war, aber er hatte einen Blackout. Dann hörte er ein Seufzen, was ihn aus seinen Gedanken riss. Erschrocken drehte er sich um. Kai lag hinter ihm und hatte den Arm um seine Hüfte gelegt. Mit einem gewissen Maß an Erleichterung stellte Florian fest, dass sie beide normal angezogen waren. Wahrscheinlich waren sie einfach betrunken hier eingeschlafen. Ja, das musste es sein. Oder? Er hatte schon länger das Gefühl, dass Kai mehr von ihm wollte als nur Freundschaft, aber so konkret hatte er ihm gegenüber nie eine Andeutung gemacht. Dass Kai durchaus auch auf Männer stand, wusste Florian inzwischen, das war ein offenes Geheimnis hier auf dem Campus. Ihm war auch klar, dass einige Leute über ihn tuschelten, wenn er ständig mit Kai herumhing, aber das war ihm eigentlich egal. Er grübelte, ob er mit Kai mal über dieses Thema reden sollte, als der die Augen aufschlug, aber sofort wieder schloss und sich an den Kopf fasste. "Nie wieder so viel trinken", nuschelte Kai. "Zumindest nicht bis zum nächsten Anlass?" Florian grinste, als Kai die Finger spreizte und ihn ansah. "Genau. Morgen." Seine Stimme klang rau und tief. "Morgen." Langsam erhob sich Kai von den Kissen, bis er schließlich vor Florian saß. Er blickte ihn schweigend an, sah die Unsicherheit und seufzte innerlich. "Du hast gestern während des Feuerwerks geweint. Und danach warst du so müde, dass ich dich hier her gebracht habe. Eigentlich wollte ich dich in dein Zimmer bringen, aber du hast gesagt, du willst hier bleiben. Zumindest klang es so." Er grinste etwas schief. "Als ich gehen wollte, hast du mich gebeten, zu bleiben." "Ja." Florian lehnte sich gegen einen Sessel und zog die Beine an den Körper. "Sylvester ist nicht ganz mein Ding, weißt du." "Das habe ich gemerkt. Schon auf der Party. Du hast zwar getanzt wie die anderen, aber mehr getrunken. Und zwar immer dann, wenn du vorher ein wenig ruhiger geworden warst. Ich dachte, ich bring dich lieber hierher, bevor du noch Blödsinn machst." Im Schneidersitz saß Kai auf den Kissen. "Willst du reden?" "Weißt du..." Florian rang mit sich. "Meine Eltern waren immer nett zu mir, keine Frage. Aber es war eine distanzierte Höflichkeit. Ich habe von ihnen nie erfahren, was Liebe ist, Zuneigung und Wärme. Hatte ich Probleme, hat mein Vater gesagt: Löse sie, später hilft dir auch keiner. Hatte ich Ärger mit anderen Kindern, hieß es: Damit musst du allein klarkommen. Als ich anfing, Fußball zu spielen, war er eine Weile sehr stolz, hat mich rumgezeigt auf Feiern. Als er merkte, dass ich zwar gut war, aber nie so gut, um damit richtig viel Geld zu verdienen, meinte er immer wieder, ich soll mich um die wichtigen Dinge im Leben kümmern." Er seufzte traurig. "Als Kind hat mir ihre Zuneigung gefehlt. Also bin ich, als sich die Chance bot, aufs Internat gegangen. Ich war eher ruhig, aber durch den Sport fand ich doch sowas wie Freunde. Freunde, wie hier an der Hochschule." Er hob den Blick und sah Kai eine ganze Weile an. "Ich dachte zumindest, es wären Freunde. Doch eigentlich hatte ich in meinem ganzen Leben nur einen einzigen wirklichen Freund. Und das ist mir letzte Nacht klar geworden. Ich war immer allein, einsam. Mich hat nie jemand in den Arm genommen. Einfach mal so." Kai zog eine Augenbraue hoch. "Mit dem einen Freund meinst du mich?" "Ja." "Ich fühle mich... geehrt." Ein wenig verlegen schaute Kai in der Gegend herum. "Dass es schwer war, so aufzuwachsen, glaub ich dir sehr gern, Flo. Mein Vater unterscheidet sich nicht so viel von deinem, habe ich das Gefühl. Aber Mutter ist anders. Sie ist herzlich und stellte die Familie über alles. Das hast du ja gemerkt." Florian nickte lächelnd. "Dass du mich als echten Freund siehst, wundert mich ein wenig, ehrlich gesagt. Okay, wir sind viel zusammen gewesen, aber wir kennen uns doch erst seit vier Monaten." Florian zuckte mit den Schultern. "Das hat nichts zu bedeuten. Was ich dir gerade erzählt habe, habe ich noch nie jemandem erzählt. Ich vertraue dir, Kai. Deshalb habe ich es getan." Kai rieb sich über die Stirn, hinter der irgendwelche Männchen saßen und mit kleinen Hämmerchen gegen seine Schädeldecke klopften. "Du kannst mit mir über alles reden und es bleibt auch unter uns, versprochen. Aber können wir erst mal was essen gehen, bevor wir uns weiter deiner Vergangenheit widmen? Ich glaube, mir wird sonst schlecht, von der schweren geistigen Kost." Lachend stand Florian auf und reichte Kai die Hand. Der ergriff sie und ließ sich von seinem Freund auf die Beine ziehen. "Klar. Ich bin auch fast verhungert. Gehen wir irgendwo hin?" Kai grübelte und erinnerte sich an ein kleines Bistro. Er war sich sicher, noch vor kurzem ein Schild gesehen zu haben, dass es auch über die Weihnachts- und Sylvesterfeiertage geöffnet hatte. "Ich weiß auch, wohin wir gehen." Er strich sich über das Kinn. "Nur noch kurz duschen und rasieren, okay?" "Immer." Als Kai die Tür öffnen wollte, hielt Florian ihn kurz fest. "Danke fürs Zuhören." "Dafür musst du dich nicht bedanken, Flo. Dafür hat man nämlich Freunde."
Ganz genau. Dafür hat man Freunde. Fürs Zuhören und Vertrauen und Reden und Aufbauen. Und zum Witze machen *grins* Schön, dass Flo und Kai dieses Konzept begriffen haben, auch, wenn sie ganz offensichtlich beide mit ein wenig mehr auch kein Problem hätten.
Flo tut mir leid - so aufzuwachsen, muss schrecklich sein. Da bin ich gleich doppelt froh, dass ich einigermaßen vernünftige Eltern erwischt habe *kicher*
Ich mag diese Story wirklich ... die frühen Jahre sind doch immer so interessant. Bin mal gespannt, wie das weitergeht. Was zu essen könnt ich jetzt auch vertragen...
In dem Bistro war es sehr ruhig. Die Bedienung sah aus, als hätte sie die Nacht durchgefeiert, was wohl auch der Wahrheit entsprach. Aber ihr Kaffee war köstlich und die Crepes, die sie den beiden Studenten zubereitete, weckten ihre müden Lebensgeister. "Erzähl weiter", forderte Kai Florian auf. Der wischte sich etwas Puderzucker von der Oberlippe und blickte Kai an. "Was willst du wissen?" "Mich interessiert, was du zu erzählen hast. Egal was." "Mmm", machte Florian und aß eine Weile schweigend. "Ich war in den ganzen Jahren, die ich in Stuttgart im Internat war, nur zwei Mal im Jahr zu Hause. Und leider hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass ich gestört habe. Dabei habe ich mich echt immer gefreut, meine Eltern zu sehen." "Ich bin mir sicher, sie haben sich auch gefreut, dich zu sehen. Vielleicht können sie es einfach nicht zeigen, was du ihnen bedeutest." "Bei jedem anderen hätte das jetzt unglaublich schnulzig geklungen. Bei dir hingegen habe ich einfach ein sehr gutes Gefühl, wenn du es sagst. Ich möchte dir fast glauben." Er seufzte leise. "Ich glaub, ich rufe sie nachher an und wünsche ihnen ein gutes, neues Jahr." "Gute Idee. Ich werd auch mal nach Hause telefonieren." Kai grinste. "Wie war es auf dem Internat?" "So wie hier auf der Hochschule. Nur mit mehr Regeln. Und mit mehr Sport." "Du meinst aktivem Sport?" "Ja. Hier habe ich noch nicht so viel gefunden, außer dem Joggen mit dir und unseren Schwimmstunden." Er blickte aus dem Fenster. "Ich mag Köln total, aber mir fehlen die Berge. Vom Internat aus sind wir oft zum Skifahren in die Berge gefahren." Kai horchte interessiert auf. "Skifahren tu ich auch gern, aber ich habe es seit Jahren nicht mehr gemacht." Er sah sich um und bestellte sich noch eine heiße Schokolade, als die müde Bedienung seinen Blick erwiderte. "Bevor ich den nächsten Abhang runter düse, nehme ich noch mal ein oder zwei Stunden." Florian grinste hintergründig, zog seine Brieftasche aus der Hose und zog einen kleinen Ausweis hervor. Diesen schob er Kai über den Tisch hinweg zu. "Ich nehme auch nicht viel." "Was? Du bist ausgebildeter Skilehrer?" "Ja. Wir konnten das nebenbei mit machen und ich habe die Chance genutzt. Ich kann wirklich gut fahren. Also wenn du mal was lernen willst..." Kai grübelte. "Wir haben ab dem 28. Februar Semesterferien. Wieso fahren wir nicht in die Alpen und du bringst mir mal wieder ein wenig bei?" Begeistert nickte Florian. "Klasse Idee. Ich bin dabei." Er verdrehte die Augen. "Aber vorher muss ich noch den Vortrag vorbereiten, von dem ich dir erzählt habe. Wenn ich den verpatze, sinkt meine Note um mindestens drei Punkte." "Wann ist der dran?" "Am 14. Februar. Wie kann man nur an einem Feiertag Studenten zwingen, Vorträge zu halten?" Mit gespielter Empörung sah er sein Gegenüber an. "Sowas gehört verboten, jawohl." Lachend winkte Kai die Kellnerin zu sich und bezahlte das Essen. "Valentinstag ist leider kein anerkannter Feiertag. Aber wir können ja nach dem Unterricht noch was unternehmen, ist eh freitags." "Unbedingt. Wir schreiben in der nächsten Zeit ständig irgendwelche Arbeiten und haben Zwischenprüfungen für Scheine, die ich für das nächste Jahr brauche. Bis Ende Februar hab ich kaum mal Zeit, Luft zu holen." Kai nickte leicht. "Geht mir nicht anders. Wir haben jetzt die letzten Zwischenprüfungen und müssen uns ein Thema für die Abschlussprüfung aussuchen. Und im nächsten Semester muss ich die Abschlussarbeit schreiben und verteidigen. Ich fürchte, da habe ich dann nicht mehr so viel Zeit für gemeinsame Unternehmungen." Florian sah Kai traurig an, nickte aber verständnisvoll. "Weißt du schon, was du nach dem Studium machst?" "Ich ..." Kai schwankte. "Ich sag es dir im Urlaub, okay? Es steht noch nicht fest und irgendwie will ich nicht darüber reden. Warum auch immer." "Okay." Florian trank seinen Kaffee aus und sie verließen das Lokal. Dicke Schneewolken hingen jetzt über der Stadt und vereinzelt fielen Flocken auf den Boden. "Aber im Urlaub sagst du es mir, ja?" "Versprochen. Und danke, dass du nicht sauer bist." "Sauer?" Verwirrt sah Florian ihn an. "Nein. Warum sollte ich?" "Nur so." Kai zog seine Jacke enger um seine Schultern. "Ich hau mich noch 'ne Weile aufs Ohr, wenn wir wieder im Wohnheim sind. Ich hab irgendwie zu wenig geschlafen letzte Nacht." "Ich werde deinem Beispiel folgen. Aber eigentlich habe ich sehr gut geschlafen." Er grinste leicht verlegen. "Muss wohl an deiner Anwesenheit gelegen haben." Den Rest des Weges schwieg er beharrlich.
"Hey, Kai." Max fing ihn vor seinem Zimmer ab. Er blickte hinüber zu Florians Tür und senkte die Stimme. "Daniel meint, er hat euch vorhin vom Dachboden kommen sehen… Habt ihr, oder habt ihr nicht?" Kai verdrehte die Augen. "Geht dich einen Scheißdreck an." "Och komm schon. Ich krieg ´ne Menge Kohle, wenn ich bei der Wette richtig liege." Max war etwas überrascht, als Kai ihn hart am Arm packte und in sein Zimmer zog. "Aua, was hast du denn?" "Hör mir mal gut zu. Normalerweise habe ich keine Probleme, das Tratschthema von euch zu sein. Aber mit Flo… Wir sind nur Freunde, klar? Ja, wir haben auf dem Dachboden übernachtet. Ja, zusammen. Und nein, es ist überhaupt nichts passiert. Er war schlecht drauf und ich wollte ihn nicht allein lassen, wir haben gesoffen und sind irgendwann eingepennt. Ganz harmlos." "Mist." Max verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. "Liebst du ihn?" Kai, der während seiner Wutrede zu seinem Schrank hinüber gegangen war und in seinen Sachen herumgewühlt hatte, blickte an der geöffneten Schranktür vorbei und fixierte Max. "Was?" "Ob du ihn liebst?" "Wie kommst du darauf?" Unsicher sah Kai ihn an. "Ach komm schon, Kai. Seit du hier an der Uni bist, siehst du jemanden, machst dich an ihn oder sie ran, kriegst ihn oder sie in die Kiste und das war´s dann. Seit wann schließt du hier echte Freundschaften? Und dann noch mit Leuten, wo dir Herzchen in den Augen rumschwirren, wenn du ihn ansiehst. Du bist doch total verknallt in ihn." Eigentlich wollte Kai etwas sagen, Max rauswerfen oder ihm eine reinhauen. Wobei ihm die dritte Idee am verlockendsten vorkam. Stattdessen widmete er sich wieder seinen Sachen, ohne jedoch noch zu wissen, was er gesucht hatte. "Wir sind nur Freunde, Max, klar? Einfach nur Freunde." "Klar. Wir sehen uns am vierten in der Vorlesung." Max verschwand grinsend. Kai hingegen wollte wütend die Schranktür zuknallen, ließ es aber lieber bleiben. Erstens wollte er Florian nebenan nicht aufschrecken und zweitens würde der altersschwache Schrank so eine Attacke wahrscheinlich nicht aushalten. Stattdessen ging er zum Fenster, setzte sich auf die Schreibtischkante und blickte hinaus. Max hatte schon Recht. Er hatte jedes Mal Schmetterlinge im Bauch, wenn er den blonden Schwaben sah, aber sie waren Freunde. Florian hatte hier noch nicht ein einziges Mal Interesse an einer Frau gezeigt und Beziehungen waren zwischen ihnen sonderbarerweise auch nie ein Gesprächsthema gewesen, aber Kai war sich irgendwie sicher, dass Florian nichts mit Männern anfangen konnte. Zumindest nicht in dem Bereich. Er sah in ihm nur einen Freund… okay, seinen besten Freund. Grübelnd strich er mit dem Finger über die Heizung, zuckte zurück, als das heiße Metall ihm fast die Fingerkuppe verbrannte und drehte den Temperaturregler etwas runter. Er dachte an eine Party vor ein paar Wochen. Florian und er waren dort gewesen, zusammen mit einigen anderen Bekannten. Zwei von ihnen waren ein bekennendes schwules Paar und hatten das auch nicht versteckt. Kai waren die Blicke, mit denen Florian die beiden immer wieder gemustert hatte, nicht entgangen und irgendwie hatte er ziemlich… Kai überlegte, wie er den Blick deuten konnte, aber irgendwie schien kein Wort richtig zu passen. Es war Florian jedenfalls nicht egal gewesen, was er gesehen hatte. Es war ihm aufgefallen und er hatte die beiden sehr bewusst beobachtet. Und Kai interessierte, wieso. Aber aus irgendeinem Grund konnte er mit Florian über jedes Thema dieser Welt sprechen, aber nicht über dieses eine, was ihm mehr und mehr auf der Seele brannte.
Die letzten Tage vor dem wichtigen Vortrag hatte Florian Kai fast jeden Tag um den Schlüssel für den Dachboden gebeten, weil er sich dort oben einfach am besten konzentrieren konnte. Und nach der Vorlesung kam er strahlend aus dem Hörsaal. Kai hätte es nicht gewundert, wenn Florian über den Flur gehüpft wäre, aber dazu war er einfach zu zurückhaltend. "Volle Punktzahl. Eins mit Sternchen", sagte er sofort. "Mein Gott, bin ich erleichtert." Er strahlte über das ganze Gesicht. "Danke, danke, danke, Kai." Der sah ihn verwirrt an, weil er sich eigentlich keiner Beteiligung an der guten Note bewusst war. Bei dem Thema, um was es ging, hatte er Florian nicht weiter helfen können, außer dass er sich einige Stunden lang immer wieder dessen Ausführungen und Erörterungen angehört hatte, um so Logikfehler in Florians Gedanken zu finden. "Was hab ich getan?" "Der Schlüssel. Der Dachboden. Wenn ich da oben nicht die Ruhe gefunden hätte, die ich gefunden habe, wäre ich nie so gut gewesen." "Dafür ist er da. Wie gesagt, es ist kein Partyraum, sondern ein Ort der Ruhe und Konzentration." Kai blickte sich um. "Ich hab in drei Stunden noch ein Vorbereitungsseminar. Essen wir gemeinsam?" "Ja, lass uns in die Mensa gehen und gucken, womit sie uns heute vergiften wollen." Als sie das Gebäude verließen, schauten sie sich erstaunt um. Am Morgen war es noch eisig und grau gewesen, aber jetzt schien die Sonne von einem strahlenblauen Himmel auf die Studenten herab. Bäche von schmelzendem Schnee flossen über die Wege und Tropfen fielen von den Dächern herab. Der Wind war richtig warm geworden. Kai hob die Nase und schnupperte. "Es riecht nach… Frühling." Florian lachte und zog ihn in Richtung Mensa. "Nein. Es riecht nach Hackbraten, Fisch und Nudelauflauf. Komm, ich habe Hunger und muss in einer Stunde in der nächsten Vorlesung sitzen."
Als Kai nach seiner Vorlesung das Gebäude verließ, stand Florian vor der Tür. Er hatte sich in eine dicke Jacke gewickelt, denn inzwischen war es dunkel und wieder ziemlich kalt geworden. "Hey." "Hey." Kai sah sich um. Der Campus sah ziemlich verlassen aus, nur in der Mensa war Party angesagt. "Willst du feiern gehen?" "Ehrlich gesagt, nein. Ist auch so ein Trauma wie Sylvester." Er blickte auf den Boden und scharrte ein wenig nervös mit dem Schuh in einem matschig-grauen Schneehäufchen. "Ich hab vorhin nachgesehen, die meisten sind auf der Party oder wollen hin. Gehen wir hoch auf den Dachboden?" "Okay. Können wir machen. Ich will nur kurz meine Tasche bei mir im Zimmer abstellen." Kai grinste innerlich, weil er dort noch etwas für Florian hatte. Sie gingen hoch und Florian verschwand kurz in seinem Zimmer. Fünf Minuten später trafen sie sich wieder auf dem Flur und stiegen gemeinsam zum Dachboden hoch. Niemand war hier, was den beiden auch ganz Recht war. Florian schaltete ein paar der bunten Stehlampen ein, die es hier gab. Es war so zwar nicht hell genug zum Lesen und Lernen, aber das wollten die zwei ja auch nicht. "Hast du was gegen etwas Musik?" "Nein. Ganz im Gegenteil." Kai legte eine der Schallplatten auf und drehte sich dann um. Vor ihm stand Florian, grinste etwas verlegen und hielt ihm ein kleines Päckchen hin. "Alles Gute zum Valentinstag." "Danke." Kai musste lachen, wickelte es aus und besah sich das Plastikkärtchen. "Was ist das?" "Eine spezielle Chipkarte zu einem Skigebiet, wo nicht jeder hin darf. Mein Vater hat sie mir geschickt, man glaube es kaum. Dort können wir die Semesterferien über hinfahren. Es ist wunderschön dort und nicht so überlaufen." "Vielen Dank." Kai steckte das Kärtchen ein, ging zu einem der Sessel, die neben der Tür standen und nahm das Päckchen, was er im Hereinkommen dort abgelegt hatte. Er reichte es Florian. "Hier, das ist für dich." Der war ziemlich überrascht, freute sich aber genauso wie Kai. Hastig öffnete er das Paket. "Pralinen. Wie süß." "Meine Mutter hat mir früher von ihren Geschäftsreisen aus Amerika immer Pralinen für Kinder mitgebracht. In Tierform. Irgendwann hab ich mich beschwert, dass ich dafür schon zu alt bin und nach der nächsten Reise kam sie mit den Dingern an." Florian hielt die Packung ins Licht und grinste. "Rennautos?" "Ja. Sie war in Indianapolis und da sind ja die Indy 500. Dort gibt es alles in Autoform. Die Dinger sind mit Cocktailfüllungen. Ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber ich bin regelrecht süchtig danach. Sie schmecken ganz toll." "Und wie kommst du da ran?" Florian öffnete die Packung und schob sich eine der Pralinen in den Mund. Er reichte Kai die Schachtel. "Ein Geschäftspartner von Ma hat sie mir geschickt." Florian schüttelte sich kurz und verzog das Gesicht, dann jedoch grinste er. "Also die Kombination von Cocktail mit Schokolade ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Aber es schmeckt." Er nahm sich noch eine und schüttelte sich erneut. "Die Kombination von zwei Cocktails mit zwei verschiedenen Schokoladen ist dann doch etwas viel." Kai lachte und ging zum Kühlschrank. "Willst du was mit oder ohne Alkohol?" "Mit. Ich muss meine gute Note schließlich feiern. Ist noch was von diesem Cremelikör da, den Max mitgebracht hat?" "Ja, fast noch eine ganze Flasche." Kai nahm sie aus dem Kühlschrank und brachte noch eine Flasche Whiskey mit. Er mischte die beiden Getränke und bot Florian ein Glas an. "Mmmm", machte er. "Das schmeckt ja total lecker. Ich bin eigentlich kein Fan von so harten Sachen, das ist mir immer zu scharf, aber der Kontrast zu dem Cremelikör." Kai nickte. "Genau. Das gibt dem ganzen erst den richtigen Pfiff."
Sie saßen stundenlang auf einem der gemütlichen Sofas. Irgendwann waren die Flaschen leer, die Pralinenschachtel auch. Florian hatte wieder eine Depriphase und erzählte Kai ein paar Geschichten aus seiner Vergangenheit. "Es war echt beschissen", schloss er müde. "Ich hab dieses Mädel wirklich geliebt und sie …" "Sie hat dich nur ausgenutzt und wollte Kohle. Flittchen." Kai hatte zum ersten Mal von Florian etwas zum Thema Beziehungen erfahren. Und es machte ihn nicht gerade froh, dass er sich etwas über ein 15-jähriges Mädchen anhören musste. Florian lachte bitter. "Genau. Flittchen." Er streckte sich, stemmte sich vom Sofa hoch und schwankte. "Mein Gott, war ich damals jung und dumm und naiv." Mit unsicheren Bewegungen tastete er nach der Brusttasche an seinem Hemd. Er zog zwei Zigaretten hervor. Kai nahm eine, sah sie sich genauer an und zog eine Augenbraue hoch. Es war keine normale Zigarette. Es war ein Joint. Er stand auf und zog Florian zum Fenster. "Nicht hier im Zimmer, nur hier am Fenster. Das riecht man sonst tagelang und sollte doch mal ein Lehrer hier hoch kommen, nehmen sie uns den Dachboden weg." Florian sah Kai eine Weile an, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die Joints an. "Keine Kommentare, keine Vorwürfe. Du machst sogar mit." Er zog an seinem, hielt eine Weile die Luft an und blies den Rauch dann nach draußen. "Ich bin nicht dein Vater. Du weißt selber, was du tust und ich weiß es auch. So besoffen bin ich nicht." Kai nahm ebenfalls einen tiefen Zug. "Es ist auch nicht mein erster, obwohl ich diese Phase eigentlich weit hinter mir gelassen habe." "Ich kiffe auch nicht oft. Vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr. Aber heute hatte ich richtig Lust. Und als ich vorhin noch mal kurz in der Stadt war, ist mir ein Dealer über den Weg gelaufen." Er lachte und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen. "In Stuttgart war es schwieriger, an Gras ranzukommen. Außerdem mussten wir da ständig Drogentests machen." "Wie hast du die bestanden?" "Gar nicht. Sie haben mich zwei Mal erwischt, aber die Menge war so gering, dass ich immer sagen konnte, es wäre schon ewig her, es wäre ein Ausrutscher gewesen und ich würde das bestimmt auch nie wieder machen." Schweigend rauchten sie die Joints, löschten die Reste mit Wasser und Kai wickelte sie in ein Stück Alufolie, welche auf dem Gefrierwürfel lag. Er würde die Beweise ihrer kleinen Eskapade in den nächsten Tagen unauffällig im Klo entsorgen. Als er sich umblickte, stand Florian immer noch am Fenster. Langsam ging er auf ihn zu, betrachtete ihn eingehend von oben bis unten und fand, dass sein Freund noch nie besser ausgesehen hatte. 'Scheiß Drogen', dachte er. Ihm fiel jetzt auch wieder ein, warum er jahrlang die Finger von dem Zeug gelassen hatte. Unter dem Einfluss von Gras, hatte er manchmal ein wenig die Kontrolle über seine Handlungen verloren. Und er mochte es nun mal, die Dinge wissentlich zu steuern, die er tat. Florian spürte den Blick, drehte den Kopf und sah Kai an. Als der vor ihm stand und ihn einfach wortlos in den Arm nahm, war Florian anfangs ein wenig erstaunt. Aber es fühlte sich so gut an. Er schloss die Augen und lehnte sich gegen Kai. Auch als der ihn zu einem der Kissenlager führte, öffnete er die Augen nicht. Er lag da, auf dem Rücken, die Lider geschlossen. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Die Welt um ihn herum schien sich zu drehen. Als Kai ihn plötzlich vorsichtig küsste, wollte er im ersten Moment die Augen aufreißen und ihn von sich wegstoßen, aber er tat es nicht. Er konnte es nicht. Aus irgendeinem Grund blieb er einfach liegen. Er erwiderte den Kuss anfangs nicht, ließ ihn einfach nur geschehen. Er fühlte das Streicheln von Kais Händen auf seinem Körper. Da er die Augen nicht öffnete, waren seine anderen Sinne übersensibel. Als Kai ihm das Hemd öffnete und zur Seite schob, als die Finger seines Freundes zu seinen Hosen hinab glitten, wurde sein Atem hastiger. Er spürte in sich den Drang, aufzustehen und wegzulaufen. Aber er tat es nicht, hielt einfach nur die Augen geschlossen. Denn er wusste eins. In dem Moment, wo er die Augen öffnete und sah, was hier gerade geschah, würde die Freundschaft zwischen ihm und Kai zerstört sein. Als Kai ihn erneut küsste, erwiderte er die zärtliche Geste und schlang die Arme um dessen Nacken.
Wie beim letzten Mal, als Florian hier oben auf dem Dachboden aufgewacht war, nach einer Nacht voller Alkohol, trauriger Geschichten und einem Fast-Blackout, lag Kais Arm auf seiner Hüfte. Nur diese Mal waren sie beide nackt und Florian konnte sich sehr gut erinnern, dass etwas passiert war. Er presste hart die Lippen zusammen, stand auf und zog sich an. Er fühlte, dass Kai wach war und ihn ansah, aber er konnte den Blick nicht erwidern. Er konnte jetzt nicht sprechen und er konnte den Mann nicht ansehen, mit dem er letzte Nacht geschlafen hatte. Eilig zog er sich sein Hemd über und verschwand. Kai sah ihm nach. Traurig, ein wenig verwirrt. Aber er hoffte, dass Florian und er darüber reden konnten. Worüber auch immer. Dass es seinem Freund gefallen hatte, war deutlich zu sehen und zu spüren gewesen. Und dass es ihm jetzt furchtbar unangenehm war, sah man ebenfalls. Aber was genau ihm unangenehm war, das verstand Kai nicht.
Das ganze Wochenende ging Florian Kai aus dem Weg. Er war verwirrt und wurde zunehmend ärgerlich. Er hatte das nicht gewollt. Er hatte nur einen Freund gesucht und fühlte sich von dem jetzt ausgenutzt. Tief in sich wusste er, dass das Unsinn war, aber so war es einfach leichter zu erklären. Wütend und aufgeregt lief er in seinem Zimmer herum, als Kai am Sonntagabend leise klopfte. Er öffnete die Tür, blickte ihn an und drehte sich um. "Flo, ich würde gern mit dir reden." Florian blickte aus dem Fenster, als die Tür langsam ins Schloss fiel. "Worüber? Du hättest vielleicht vorher mit mir reden sollen, was du wirklich von mir willst." Kai war erstaunt über die Heftigkeit, mit der Florian die Worte aussprach. "Okay, ich fand dich von Anfang an niedlich und anziehend, aber das hat mit unserer Freundschaft nichts zu tun." "Du wolltest mich von Anfang an ins Bett kriegen." "Ja", gab er zu. "Und warum hast du mir das nie gesagt?" "Weil wir sehr schnell Freunde geworden sind." Florian verschränkte die Arme vor der Brust und brummte giftig. "Freundschaft… Du hast meine Lage ausgenutzt, das tun Freunde nicht." "Wie bitte?" Kai glaubte, sich verhört zu haben. Er wusste aber auch, dass eine Diskussion jetzt nichts bringen würde, deshalb ging er zu Florian, zog ihn am Arm herum und blickte ihn fest an. "Jetzt hör mir mal genau zu, Flo. So besoffen warst du nicht, sonst hättest du keinen mehr hoch bekommen. Und das hast du. Und ich habe dich auch zu nichts gezwungen, klar? Okay, ich habe dich verführt, weil ich dich wollte, aber wenn du auch nur ein einziges Mal 'Halt' gesagt hättest, wäre ich niemals weiter gegangen. Ich merke auch, dass du nicht schwul bist und ich weiß nicht, was du gegen Schwule hast. Aber lass deine Selbstzweifel nicht an mir aus. Diese Nacht, den Sex, den wolltest du genauso wie ich. Vielleicht erst in dem Moment, wo ich dich geküsst und gestreichelt habe, aber ab da bist du sehr freiwillig mitgegangen. Wenn es dir schwer fällt, das zuzugeben, okay, damit kann ich leben. Wenn du dich dabei unwohl fühlst, dass du solche Gefühle Männern gegenüber hast, darüber können wir reden. Aber schieb mir gefälligst nicht die Schuld zu und tu so, als hätte ich dich gegen deinen Willen zu etwas gezwungen. Das ist nämlich verdammt unfair mir gegenüber." Er war beim Reden immer lauter geworden und senkte jetzt die Stimme wieder, als er sich umdrehte und zur Tür ging. "Unsere Freundschaft ist mir verdammt wichtig. Ob sie noch bestehen kann, musst du entscheiden. Ich könnte damit leben, wenn du willst, dass sie rein platonisch bleibt, aber dann sag es mir einfach. Denn ich liebe dich und du bist es mir schuldig, mir wenigstens zu sagen, was ich von dir kriegen kann und was nicht." Damit öffnete er die Tür, ging raus und schloss sie ziemlich derb hinter sich wieder. Florian sah ihm mit offenem Mund nach, verschränkte irgendwann die Arme vor der Brust und wandte sich wieder zum Fenster um. "Pah", machte er, weil ihm im Moment einfach nichts besseres einfiel. Er schluckte mehrfach, aber die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, konnte er nicht zurückhalten. Schluchzend sank er zwischen Kühlschrank und Schreibtisch auf den Boden. Warum genau er weinte, konnte er auch nicht sagen. Es war eine Mischung aus so vielen Gefühlen, dass er einfach nicht anders damit umgehen konnte.
Die Tage vergingen, das Semester neigte sich dem Ende entgegen und die meisten Studenten dachten nur daran, wie sie ihre Ferien verbringen wollten. Auch Kai war in Gedanken oft bei den drei Wochen, die er eigentlich mit Florian in die Alpen hatte fahren wollen. Aber das konnte er sich wohl abschminken. Das Zugticket lag auf seinem Schreibtisch und er packte auch seine Tasche, aber Florian hatte seit ihrem kurzen Streit nicht mehr mit ihm gesprochen. Begegneten sie sich auf dem Flur, wendete er den Blick ab und verschwand eilig. Und sonst ging er ihm immer aus dem Weg. Kai sah auch keinen Sinn darin, sich um eine weitere Aussprache zu bemühen und innerlich ärgerte er sich, dass er sich so hatte gehen lassen. Sicher, Florian hatte mehr als freiwillig mitgemacht, aber wenn er nicht den ersten, zweiten und dritten Schritt gemacht hätte, wäre es nie so weit gekommen. Er vermisste seinen Freund, ihm fehlten einfach die Gespräche. Und vor allem merkte er, dass er gelogen hatte. Eine rein platonische Freundschaft zu Florian hätte er nicht durchgehalten. Er hätte immer mehr gewollt und es hätte ihn irgendwann aufgefressen, es verheimlichen zu müssen. Vielleicht hatte also alles doch so kommen müssen. Am Morgen des ersten Ferientages klopfte es zaghaft an Kais Tür. Ein wenig erstaunt sah Kai Florian davor stehen und unsicher von einem Bein auf das andere treten. "Morgen", sagte er leise, blickte dabei an Kai vorbei und auf dessen gepackte Reisetasche. "Wir müssen los, sonst verpassen wir den Zug." Er trug seine Tasche in der rechten Hand und hatte seine dicke Winterjacke und Handschuhe an. Kai ließ ihn ins Zimmer und nahm sich seine Sachen. "Ich fahre nicht mit dir, wenn wir uns drei Wochen lang anschweigen, Flo. Meinen Standpunkt habe ich klar dargelegt. Du bist dran." Er zog seine Stiefel an und seine Jacke. "Es tut mir leid, was ich dir vorgeworfen habe. Das war Unsinn. Aber was in dieser Nacht passiert ist…" Er seufzte und blickte quer durch das Zimmer. Schließlich sah er Kai an. "Ich bin nicht schwul. Und dass ich mich ein wenig für Männer interessiere, hat mir immer nur Probleme bereitet. Ich will das nicht, okay? Du bist mein bester Freund, ich will dich verdammt noch mal nicht verlieren, aber was du dir erhoffst, kann ich dir nicht geben. Was in dieser einen Nacht passiert ist, wird nie wieder passieren." Kai nickte, zog sich einen Schal an und die Handschuhe und nahm seine Tasche. "Lass uns gehen, der Zug wartet nicht." Er stand vor Florian. "Die Ablehnung tut weh, aber sie ist besser als dein Schweigen." Vorsichtig umarmte er ihn, bevor er ihn aus dem Zimmer schob und hinter sich abschloss.
Die Fahrt war lang und zwischen ihnen lagen noch so viele unausgesprochene Dinge, dass das Gespräch zwischen den beiden zwangsläufig wieder auf die gemeinsame Nacht hinaus lief. "Du wolltest es, Flo. Du hast es genossen." "Ja", hauchte er und schaute beschämt aus dem Fenster. "Wieso ist es so schlimm für dich?" Florian knetete seine Hände. "Als ich 14 war, habe ich einen sehr guten Freund gehabt. Auf dem Internat. Ich habe ihn geliebt, aber ich wusste es nicht. Er war mir näher als sonst jemand. Er kannte alle meine Geheimnisse und mit ihm konnte ich über alles reden. Irgendwann als es mir klar wurde, was ich wirklich für ihn empfunden habe, habe ihn einmal aus einer Spontanität heraus geküsst. Er hat mir eine rein gehauen und gemeint, mit so Perversen will er nichts zu tun haben und er dachte, ich sei ein echter Kerl. Er hat mich von da an fertig gemacht, auch mit seinem Wissen über mich. Er hat nie jemandem verraten, was vorgefallen war, aber er hat mich regelmäßig verprügelt und schikaniert. Und ich war so von Selbstzweifeln zerfressen, dass ich mich nicht getraut habe, mich zu wehren. Ich schwor mir, von Männern die Finger zu lassen und diese Gefühle für das eigene Geschlecht zu vergessen." "Das kannst du nicht", murmelte Kai, doch Florian hob die Hand und bat ihn so, zu schweigen. "Ich habe dir erzählt, dass ich ganz gut im Fussball bin. Ich war sogar richtig gut, vor allem durch das harte Training damals bei den Kickers. Irgendwann kam ein neuer Spieler. Er sah unverschämt gut aus und hat mich von Anfang an angemacht. Ich widerstand ihm lange, kümmerte mich mehr denn je um den Sport und bekam die Chance bei einem Scoutspiel zu beweisen, wie gut ich bin. Ich war überragend und man bot mir ein Vertragsgespräch mit dem VfB Stuttgart an. Es war mein Traum, für meinen Lieblingsverein zu spielen. Ich war wie berauscht von der Vorstellung und völlig erledigt von dem schweren Spiel. In der Kabine stand ich eine halbe Ewigkeit unter der Dusche, bis der Neue rein kam. Er kam zu mir unter die Dusche, mit seinen Sachen. Er küsste mich, verführte mich. Ein paar Minuten später kam unser Trainer rein und sah ihn vor mir knien. Noch am selben Tag warf man mich aus dem Verein und riet mir, mit meiner Krankheit dem deutschen Fussball fern zu bleiben, sonst müsse man meine Neigungen leider publik machen." Kai schwieg, unfähig seine Wut in leise, normale, mitfühlende Worte zu packen. Und er sah, dass Florian noch mehr auf dem Herzen hatte. Er saß blass und angespannt da, knetete seine Hände, die schon ganz rot waren und blicke starr nach draußen. "Beim Bund traf ich wieder auf meinen alten Freund aus dem Internat. Und er sorgte…" Florian schluckte hart. "Er sorgte dafür, dass mir die Monate dort unendlich lang vorkamen. Und die anderen 'Kameraden'…" Florian spuckte das Wort förmlich aus, "… waren fröhlich mit dabei." Kai schüttelte mitfühlend den Kopf und setzte sich neben ihn. Er zog Florian vorsichtig in seine Arme. "Es tut mir so leid." "Ich kann das nicht noch mal, Kai. Es ist mir einfach zu viel, ständig zu kämpfen. Ich habe so viele Schläge für einen einzigen Kuss einstecken müssen. Ich habe so viel Demütigungen erlebt für etwas, wofür ich nichts kann, das reicht mir. Es ist leichter zu verzichten und sich zu verleugnen, als so zu leben, wie ich es vielleicht gern möchte. Ich werde irgendwann heiraten und Kinder kriegen und einen tollen Job haben." Er schluchzte leise. "Die Nacht mir dir war so schön, so perfekt, aber ich kann das nicht. Es tut mir leid, Kai." Ratlos strich er Florian über den Kopf. Was sollte er ihm sagen? Dass es Leute gab, die es akzeptierten? Florian hatte bisher nur die anderen kennen gelernt, wohl auch, weil es von denen mehr gab. Sollte er ihm sagen, dass es leichter werden würde, die Beschimpfungen hinzunehmen? Nein, das würde es nicht werden. Die Wunden in Florians Seele waren viel zu tief. Oder sollte er ihm versichern, dass er lernen würde sich zu wehren oder einfach wegzuhören? Beides war unwahrscheinlich. "Ich bleibe dein Freund, auch wenn ich die Dinge ein wenig anders sehe. Aber nach den Erlebnissen kann ich verstehen, dass du so denkst wie du denkst. Es tut mir so leid, was diese Leute dir angetan haben, Flo." Langsam hob er den Blick. "Können wir wirklich Freunde bleiben, Kai? In einem halben Jahr bist du weg von der Schule und weg aus Köln." Jetzt lächelte Kai und lehnte sich zurück. "Nein. Ich habe einen Job hier in Köln. Erst mal einen erweiterten Praktikumsplatz über sechs Monate, aber wahrscheinlich kann ich bei RTL anfangen, als Sportredakteur zu arbeiten." "RTL? Dieser kleine Fernsehsender?" "Ja. Ich habe da schon zwei Praktikas gemacht und die Leute sind unheimlich nett und witzig. Sie wollen etwas Großes schaffen, etwas Modernes. Etwas, was sich von dem abhebt, was derzeit im Fernsehen läuft. Und wenn es klappt, will ich dabei sein." "Du willst Journalist werden? Warum dann die Ausbildung als Lehrer?" "Ich hab im letzten Jahr schon fast alle pädagogischen Sachen abgewählt und mich mehr auf die redaktionellen und journalistischen Bereiche konzentriert. Ich glaube, meine Zukunft liegt beim Fernsehen." Kai lächelte. "Ich bleibe also in Köln. Und ich bin gar nicht mal so weit weg. Ich hab sogar schon eine Wohnung, fast in der Stadtmitte, in der Nähe vom Dom. Wenn du es also möchtest, können wir den Kontakt aufrecht erhalten. Zumindest, solange du hier studierst. Und da du ja sehr gezielt in Richtung Sportjournalistik gehst… Wie wäre es mit einer Praktikumsstelle in der Sportredaktion von RTL? Die suchen immer noch Leute." Florian lachte auf und umarmte Kai. "Ob ich wirklich zum Fernsehen will, weiß ich noch nicht. Aber ich finde es toll, dass du hier in der Stadt bleibst. So fixiert, wie ich auf dich bin, wäre es verdammt einsam in Köln geworden."
Die ersten Tage verbrachten Florian und Kai fast nur auf der Piste. Die Nächte meist in irgendwelchen Clubs. Nach den Aussprachen war ihr Verhältnis zueinander wieder entspannter und nun hatten sie tatsächlich keine Tabuthemen mehr. Sie tauschten sich über Beziehungen aus, Kai erzählt von seinen Eroberungen an der Hochschule. Sie lachten viel und hatten eine Menge Spaß. Nach einigen Tagen beschlossen sie dann beide, dass sie ein wenig ruhiger treten wollten und gingen immer wieder spazieren. Stundenlang liefen sie durch verschneite Wälder und genossen die Stille und die beruhigende Wirkung der Natur. "Kai?", fragte Florian einmal bei einem der Spaziergänge. "Du hast gesagt, du liebst mich." "Ja." Er sah ihn direkt an. "Richtig?" "Ja, richtig. Mit Schmetterlingen, intimen Träumen und allem, was dazu gehört." Florian lief weiter, schwieg eine Weile, bevor er leise sagte: "Wieso kannst du es ertragen, mit mir zusammen zu sein?" "Weil ich erleichtert bin, dass es dir wieder besser geht. Weil ich sehr gern mit dir zusammen bin. Natürlich tut es weh, meine Gefühle und Wünsche zu unterdrücken und zu wissen, dass sie nicht real werden können. Aber glaub mir eines bitte. Dich gar nicht um mich zu haben, wäre viel schlimmer." "Deine Gefühle kann meine Ablehnung also nicht zum Erlöschen bringen?" Kai lächelte ihm zu. "Nein, Flo. Ich habe mich in dich verliebt und mein Herz hat leider immer noch nicht verstanden, dass du diese Gefühle nicht erwiderst." Mit einem leichten Kopfschütteln schaute Florian sich um, legte schließlich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. "Ich weiß, dass es schwer ist, zu verstehen, dass ich mich einfach gegen meine Neigungen entschieden habe und es tut mir weh, dass ich dich damit quäle." "Moment, Moment, Moment, Flo. Ich kann durchaus selbstständig für mich Entscheidungen treffen. Und ich bin mit dir hierher gefahren. Und ich habe dir meine Freundschaft angeboten, nachdem du mir gesagt hast, dass es bei der einen Nacht bleiben wird. Wenn ich es nicht verkraften könnte, würde ich nicht ständig mit dir zusammen sein wollen. Und ganz ehrlich..." Kai legte seine Hand auf Florians Schulter und wartete, bis der ihn ansah. "Ich habe mir deine Erfahrungen, von denen du erzählt hast, mehrfach durch den Kopf gehen lassen. Und es macht mich unglaublich wütend. Es macht mich wütend, dass Menschen dich so schlecht behandelt haben, obwohl du nur ein wenig nach deiner eigenen Sexualität geforscht hast. Und es tut mir unendlich leid, dass du so eine Verachtung erfahren hast, weil du einmal dem Drängen eines anderen Mannes nachgegeben hast. Ich kann verstehen, warum du für dich entschieden hast, heterosexuell zu leben." Florian blickte ihn fragend an. "Aber...?" "Aber ich glaube nicht, dass du es durchhältst. Vielleicht wirst du irgendwann heiraten und Kinder kriegen. Ich muss zugeben, ich habe nichts anderes vor. Aber genau wie ich, hast du noch einen anderen Teil in dir. Und wenn du diesem Teil von dir nicht ab und an Befriedigung verschaffst, wirst du daran kaputt gehen." Schweigend gingen sie weiter. "Stehst du mehr auf Frauen oder auf Männer?" Kai grübelte. "Eigentlich schon mehr auf Frauen, dachte ich zumindest immer. Bis ich dich kennen gelernt habe." Florian lächelte geschmeichelt. "Das heißt, du wirst auch heiraten, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, wirst du fremdgehen?" "Nein. Ich bin eigentlich ein sehr offener und ehrlicher Mensch. Ich werde mit offenen Karten spielen und meiner Zukünftigen von vorneherein sagen, dass ich auch auf Männer stehe und den Sex mit Männern auch ab und zu brauche. Bis auf dich war ich nie in einen Mann verliebt, es besteht also wenig Gefahr, dass es mehr wird, als ein Onenightstand, wie man so schön sagt." "Ich beneide dich, Kai. Du gehst so offen mit deinen Neigungen um. So viele an der Hochschule wissen es und keiner ärgert dich deshalb." Jetzt lachte Kai auf. Seine Stimme schallte durch den schweigenden Winterwald. "Was denkst du denn? Natürlich kann ich mir regelmäßig Sprüche anhören, aber ich habe das nie ernst genommen. Mich hat auch nie jemand so angegriffen, wie es dir passiert ist. Und ehrlich gesagt, ich bin in diese Richtung ein wenig selbstbewusster als du. Wenn mir jemand eine reinhaut, weil ich auch mit Männer schlafe, dann hau ich zurück. Und das würde meinem Gegenüber nicht gut bekommen." "Es ist bedauerlich, dass ich dich nicht schon vor ein paar Jahren kennen gelernt habe. Dann hätte ich mich anders entwickelt. Einen Freund wie dich hätte ich gebraucht." Kai legte Florian den Arm um die Schulter und sah ihn von der Seite an. "Du hast mich doch jetzt. Vergiss die Vergangenheit und genieß die Gegenwart, okay?" "Okay. Danke, dass du mir den Kopf zurecht gerückt hast und danke, dass du mit hierher gekommen bist." "Nichts hätte mich davon abhalten können."
Sie blieben fast die gesamten drei Wochen in den Bergen und machten auf dem Weg zurück nach Köln einen Abstecher zu Florians Eltern. Zu Florians Überraschung mochte sein Vater Kai auf Anhieb und hielt seinem Sohn mehrfach vor, er solle ein wenig selbstbewusster sein und ein wenig mehr wie Kai. Kai grinste dann jedes Mal und Florian verdrehte die Augen. "Papa hasste Homosexuelle und jede andere Form von Sex, wo nicht ein Mann mit einer Frau in einem dunklen Kämmerlein im Bett liegt. Wenn er wüsste... Besser er weiß es nicht." Diese Worte sagte er mehrfach zu Kai und sie amüsierten sich köstlich. Zum ersten Mal genoss Florian die Tage bei seinen Eltern und durch Kais unauffällige Vermittlung bekam er sogar einen Draht zu seinem Vater, den er nie vorher hatte.
Eine Woche verbrachten die beiden dann noch in Mönchengladbach bei Kais Eltern und erholten sich, dann ging auch schon das neue Semester wieder los. Und vom ersten Tag an, änderte sich vieles. Kai saß tage- und nächtelang in der Bibliothek oder bei seinem betreuenden Professor und arbeitete an seiner Doktorarbeit. Für Florian hatte er kaum noch Zeit, aber das war abzusehen gewesen. Florian ließ ihn die meiste Zeit in Ruhe, holte ihn nur ab und zu zum Joggen ab oder zum Schwimmen, damit Kai mal den Kopf frei bekam. Wenn sie zusammen waren, sprachen sie oft gar nicht miteinander, sondern Kai ordnete seine Gedanken, bezüglich seiner Arbeit. Erst als er mit seiner Arbeit so gut wie fertig war, kümmerte er sich wieder um Florian. Er lud ihn mehrfach ganz schick zum Essen ein, vor allem als Dank für seine unaufdringliche Hilfe bei der Arbeit der letzten Monate. Es war Sommer und das Semester war fast zu Ende. "Darf ich dich um zwei Dinge bitten, Flo?" "Sogar um mehr, aber sag erst mal die zwei." "Ich ziehe ja bald in meine eigene Wohnung und könnte zwei kräftige Hände gebrauchen, die mit anpacken." Florian blickte auf seine Hände. "Eins, zwei. Hab ich." Er grinste. "Klar helfe ich dir. Kein Thema." "Das andere... Ich muss nächsten Freitag meine Arbeit verteidigen und wäre sehr froh, wenn du dabei bist. Wir dürfen jüngere Studenten als Gasthörer mitbringen. Du sollst einfach nur hinten im Hörsaal sitzen und mir Glück bringen." "Ähm... klar. Mach ich sehr gern." Er fühlte sich ehrlich geschmeichelt durch Kais Bitte. "Ich dachte, je weniger Leute, desto besser." "Jeder ist mir zuviel, wenn ich ehrlich sein soll. Aber du musst unbedingt dabei sein." Florian nickte. "Ich mach es wirklich gern. Sehr gern. Und ich drück dir alle verfügbaren Daumen... was leider nur zwei sind." "Ich denke, das wird reichen. Eigentlich bin ich sehr gut vorbereitet und mein Professor meinte auch, die Arbeit ist richtig gut geworden. Aber ich bin ein wenig nervös." "Das ist doch normal. Ich werde da sein. Meine Prüfungen sind eh alle durch. Da kann ich zur Not auch mal ein oder zwei Vorlesungen schwänzen."
Als Florian Kai am Morgen abholte, musste er sich ein Grinsen wirklich verkneifen. Noch nie zuvor hatte er seinen Freund auch nur annähernd so nervös erlebt. Kai hatte Schiss, anders konnte man es nicht sagen. Er war nervös, aufgeregt, zitterte fast. Florian hätte ihn gern ein wenig aufgezogen, unterließ es aber lieber, denn er hing an seiner Gesundheit. Schweigend gingen sie zu dem Hörsaal, wo die Prüfung stattfand. Sie warteten vor der Tür, bis der Prüfling heraus kam, der noch dran war und Florian sah sich genötigt, Kai ganz vorsichtig seine Unterlagen weg zu nehmen, da dieser sie sonst wahrscheinlich noch vor Nervosität zerknüllt oder zerrissen hätte. Als die Tür aufging und Max mit verschwitztem Gesicht raus kam, seufzte Kai leise. "Und?", fragte er. Seine Stimme klang belegt. "Bestanden. Nicht gut, aber bestanden. Ich bin zufrieden." Max grinste und klopfte Kai leicht auf die Schulter. "Viel Glück, Alter." "Danke." Sewering rief Kai auf und er ging rein. Er bat, dass Florian mit zuhören durfte. Die anwesenden Professoren erkundigten sich nach Florians Studienjahr und ließen ihn als Gasthörer zu. Er durfte sich in die letzte Reihe setzen und zuhören. Florian war neugierig. Nicht so sehr des Themas wegen, welches sich Kai ausgesucht hatte, sondern weil er persönlich Prüfungen hasste. Und vor allem mündliche Prüfungen. Und hier bekam er einen schönen Vorgeschmack auf das, was er selber noch vor sich hatte. Und er konnte schon einmal ein wenig lernen, worauf er in drei Jahren bei seiner Prüfung achten musste. Kai hatte sich wieder einigermaßen gefangen, nachdem die Professoren erst einmal ein paar organisatorische Sachen durchgegangen waren. Dann ging man auf sein Thema ein und bat ihn, seine Thesen noch einmal zusammenzufassen und näher darauf einzugehen. Ruhig und selbstbewusst erklärte er alles, ging auf Fragen ein, zupflückte die Versuche, seine aufgestellten Ideen zu zerlegen und verteidigte so gekonnt das, was er erarbeitete und geschrieben hatte. Über eine Stunde sprach er mit den Professoren, wobei die Prüfung mehr und mehr einer Diskussion glich. Florian fand es interessant, dass er immer mehr von einem Thema verstand, welches er vorher nicht einmal gekannt hatte. Und irgendwie fand er es bedauerlich, dass Kai sich gegen eine Laufbahn als Lehrer entschieden hatte. Genau das äußerte dann auch Sewering in seinen Abschlussworten. "Ich denke, wir sind uns einig, dass du nicht nur bestanden hast, sondern als der beste Student deines Jahrganges hier rausgehen wirst." Kai blickte die Damen und Herren verwundert an und grinste dann ein wenig unsicher. "Du hast nicht nur bewiesen, dass du hier eine Menge gelernt hast, Kai, sondern auch gezeigt, dass du in der Lage wärst, dieses Wissen weiter zu geben. Dieses Talent haben leider nicht viele, muss ich zugeben. Es ist schade, dass du dich gegen eine Laufbahn als Pädagoge entschieden hast. Aber ich bin mir sicher, wo immer es dich hin verschlägt, du wirst deinen Weg gehen." Er stand auf und reichte Kai die Hand. "Herzlichen Glückwunsch zum Diplom und viel Glück für deinen weitere Lebensweg." "Danke." Gemeinsam verließen sie den Saal und Florian umarmte Kai vor der Tür erst einmal. "Du warst Klasse. Wo zum Teufel hast du deine Nervosität versteckt?" Langsam hob Kai seine Hand. Sie zitterte unkontrolliert. "Keine Ahnung, aber jetzt ist sie wieder voll da." Er sprang in die Luft und stieß einen Jubelschrei aus. "Ich bin fertig mit dem Studium. Wahnsinn." Florian wollte sich für Kai freuen, aber in ihm nagte ein kleines Quäntchen Trauer, wenn er daran dachte, dass Kai in zwei Wochen den Campus für immer verlassen würde.
Fast die gesamten Semesterferien über half Florian Kai dabei, seine Wohnung einzurichten. Sie kauften gemeinsam die Möbel, tapezierten alle Zimmer. Sie gingen oft auf Partys und in Clubs, Essen oder ins Kino. Florian schlief viele Nächte bei Kai. Auf der Couch selbstverständlich. Es war eine tolle Zeit und Kai fragte ihn sogar, ob er nicht mit einziehen wolle. So als WG-Partner. Florian lehnte natürlich ab. Die letzten zwei Wochen der Semesterferien absolvierte er ein Praktikum. Eigentlich hatte er das Angebot ablehnen wollen, aber Kai hatte ihm sehr energisch dazu geraten, es doch zu machen. Noch während des ersten Semesters hatte Florian sich auf eine Anzeige der ARD hin bei dem Sender gemeldet, aber nicht damit gerechnet, dass man gerade ihn nehmen würde. Kai meinte, es wäre auf jeden Fall ein guter Punkt in einer Bewerbung und es seien nur zwei Wochen und wenn Florian diese einmalige Chance nicht nutzen würde, dürfe Kai nie wieder ein Wort mit ihm reden, weil er sich mal geschworen hatte, mit Vollidioten nicht zu sprechen. Florian hatte sich nach dieser Drohung natürlich nicht mehr geweigert und hatte auch eine Menge gelernt. Was er wie irgendwann einmal nutzen konnte, wusste er nicht, aber es war doch sehr interessant gewesen. Einen Tag, nachdem er wieder in Köln angekommen war, es war der Sonntag vor dem ersten Schultag des neuen Semesters, traf er sich mit Kai in dessen Wohnung erzählte ihm, was er so alles hatte tun dürfen. "Das ist gar nicht so viel anders als das, was ich mache." "Mir hat es Spaß gemacht", gab Florian zu. "Wie sah denn deine Bewertung aus? Was hat dein Betreuer gesagt?" Florian grübelte. "Ähm... er hat eine Menge gesagt. Ziemlich viel sogar. Aber was genau weiß ich nicht mehr. Das einzige, was sich bei mir eingebrannt hat..." Er grinste Kai an. "Der Typ meinte, wenn ich jemals nicht wüsste, wohin ich gehen soll, dann soll ich mich bei ihm melden. Er hätte immer einen Job für mich." "Wow..." Kai war ehrlich erstaunt. Dann jedoch lächelte er. "Naja, wen wundert es. Ich glaub gern, dass du richtig gut bist, wenn du was tust, was dich interessiert. Glückwunsch, Flo. Diese Beurteilung deiner Arbeit hast du dir sicher hart erarbeitet." "Danke schön." Florian lehnte sich satt zurück. "Ich habe auf der Fahrt hierher darüber nachgedacht, ob ich das Studium abbreche und das Angebot annehme." Erstaunt sah Kai ihn an. "Hältst du das für eine gute Idee?" "Ich weiß es nicht. Vernünftiger wäre es sicher, wenn ich das Studium beende, aber... Wir werden sehen. Ich mache erst mal brav weiter und nach den Zwischenprüfungen Ende des nächsten Studienjahres kann ich mich immer noch entscheiden."
Und genau das tat er auch. Die folgenden zwei Semester absolvierte Florian immer wieder Praktika. Er erkannte, dass er eigentlich nie hatte studieren wollen, sondern das nur getan hatte, um sich selber etwas zu beweisen. Er wollte die Sportprüfung schaffen, um sich zu zeigen, dass er es konnte. Das Studium interessierte ihn immer weniger. So kam es dann auch, dass er sein Studium Ende des zweiten Studienjahres schmiss und sich mit Kai traf, um ihm seine weitere Pläne mitzuteilen. "Du hast es also wirklich getan", sagte Kai wissend, als er Florian die Tür öffnete und ihn einließ. "Woher...?" "Wir haben die letzten Wochen über nichts anderes gesprochen, Flo. Und du hast immer sehr zweifelnd ausgesehen. Und mit einem Mal sind die Zweifel aus deinem Gesicht verschwunden." Er schob ein wenig den Kopf nach vorn und sah genauer hin. "Eindeutig. Keine Zweifel mehr da." Florian lachte und ging ins Wohnzimmer. Hier ließ er sich auf die Couch fallen. "Du hast doch da Angeobt angenommen, mit zu den Formel 1 - Rennen zu fahren, oder?" Kai holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und reichte Florian eine davon. "Natürlich. Ich bin absolut gespannt auf das Rennen. Und ich frage mich immer noch, was genau ich da eigentlich machen soll." "Dir wird schon was einfallen." Florian nickte ihm zuversichtlich zu und stieß mit Kai an. "Ich gehe auf jeden Fall nach Frankfurt. Die haben mir gestern ein Superangebot gemacht und ich kann nicht ablehnen." Neugierig schaute Kai ihn an. "Was für ein Angebot? Sag." Florian grinste und machte es noch ein wenig spannend, indem er bedeutungsvoll schwieg. "Also..." "Flo! Spuck´s aus!" "Ich soll als Reporter zur Leichtathletik-WM fahren." "Klasse." Kai strahlte mit seinem Freund um die Wette. "Das ist eine unglaubliche Chance." Er grinste. "Dann sehen wir uns wohl demnächst nur noch im Fernsehen, mmm?" Ein wenig traurig nickte Florian. "Ich muss morgen schon weg. Noch ein paar Vorbesprechungen und dann geht´s zur WM. Ich bin echt nervös, aber irgendwie weiß ich, dass es der richtige Weg ist." Er sah Kai direkt an. "Du wirst mir echt fehlen." "Nun werd mal nicht melancholisch." Kai zog ihn in seine Arme. "Auch wenn du die Dinger immer noch nicht magst, es gibt Handys. Kauf dir endlich eins. Und dann können wir quatschen ohne Ende. Und Frankfurt und Köln liegen nun auch nicht so weit auseinander." Florian löste sich von ihm und lächelte tapfer. "Du hast ja Recht." Er sah sich um, als wolle er sicher gehen, dass niemand zuhörte. "Ich muss dir was gestehen. Ich habe Flugangst." Kai lachte, versteckte seine Belustigung schnell, als Florian ihm empört ansah. "Entschuldige bitte. Aber wenn du wirklich beruflich in Richtung Sportjournalist gehen willst und das noch auf dem internationalen Sektor, dann musst du dich daran gewöhnen." "Ja, ich weiß. Aber ich wollte es mal loswerden."
Den Abend verbrachten sie plaudernd und Florian bat Kai, die Nacht bei ihm verbringen zu dürfen. Er wollte nicht allein sein. Seine Tasche stand gepackt in seinem leeren Zimmer, alles war geregelt. Er musste sie morgen nur noch schnell abholen. Sein Zug nach Frankfurt fuhr erst um 11 Uhr, er hatte also alle Zeit der Welt. Spät abends, als Kai ins Bett wollte, hielt Florian ihn unsicher zurück. Er sah ihn an, senkte dann wortlos den Blick. Sein Hand hielt immer noch Kais Ärmel. Langsam ließ er den Stoff los, glitt mit den Fingern über Kais Oberarm. Dann zog er die Hand zurück. Kai lächelte traurig, trat vor Florian und streichelte ihm sanft über die Wange. "Sei doch nicht so schüchtern." Vorsichtig hob er den Kopf seines Freundes an und presste seine Lippen auf Florians Mund. Unendlich zärtlich küsste er ihn. Kai spürte, dass Florian den Kuss nicht erwiderte, sich aber gegen ihn schmiegte. Sein Verhalten war so widersprüchlich wie eh und je, nur dass Kai es inzwischen hinnahm. "Es tut mir leid", flüsterte Florian leise. Eine Träne lief seine Wange hinab. "Ich weiß, dass ich dich ausnutze..." Mit dem Mund verschloss Kai wieder die Lippen seines Freundes. Erst als er sich war, dass Florian schwieg, löste er sich von ihm. "Was genau willst du?" Florians Unterlippe zitterte. Er schaffte es nicht, Kai in die Augen zu sehen. Stattdessen blickte er beschämt an sich hinab, dann schloss er die Augen. Kai verstand ihn sehr genau. Er öffnete Florians Hose, zog sie ihm runter und schubst ihn dann nach hinten auf das Sofa. Langsam sank er vor seinem Freund auf die Knie. Nachdem er ihn befriedigt hatte, zog er sich zurück, auch wenn es ihm unendlich schwer fiel. Florian war nicht in der Lage, ihn zurück zu weisen, das fühlte Kai. Dafür schämte er sich mal wieder viel zu sehr. Also bremste Kai sich ein. Er hauchte Florian noch einen letzten Kuss auf die Lippen und nahm ihm ein Versprechen ab. "Du musst mir eines schwören. Ich sehe ja, dass ich mit meiner Einschätzung Recht hatte. Du brauchst das ab und an. Und das ist okay. Aber wenn du dir jemanden suchst, dann achte auf zwei Dinge. Gesundheit und Moral. Mach das nie mit jemandem, der dich hinterher ausnutzen kann und nie mit jemandem, wo du nicht weißt, dass er gesund ist." Florian hatte immer noch die Augen geschlossen, nickte aber. "Versprochen." Kai stand auf und wollte gehen, doch Florian hielt ihn zurück. Er schaute ihn dankbar an. "Ich habe dich gar nicht verdient und es tut mir leid, dass ich dir weh tue." Kai verzog das Gesicht und zuckte dann mit den Schultern. "Wenn das alles ist, was ich von dir kriege... Ich glaube, damit könnte ich mich abfinden." Er zwinkerte ihm zu, genoss es, dass Florian rot wurde und verschwand aus dem Zimmer.
Während der nächsten zwei Jahre sahen sich Kai und Florian fast nur an Feiertagen oder, wie Kai es voraus gesagt hatte, wenn einer der beiden auf Sendung war. Sie gingen beide ihren Jobs nach, lernten und kletterten die Karriereleiter ein Stück nach oben. Florian hatte noch nicht wirklich eine Heimat gefunden. Er beklagte sich oft bei Kai über die Firmenpolitik seines Senders, mit der er nicht wirklich gut zurecht kam. Kai riet ihm mehrfach, einfach den Arbeitgeber zu wechseln. Florian verstand sehr gut, was Kai damit meinte, aber er war einfach noch nicht soweit. Kai hingegen hatte seine Heimat gefunden und mit der Formel 1 - Berichterstattung gleichzeitig ein Hobby. Er hatte mit seinen Kollegen unheimlich Spaß an den Strecken. Und er liebte den Sport. "Hey, Kai." Heiko Wasser, Kommentator bei RTL, stieß Kai an. "Träumst du?" "Nein, nein. Ich bin noch da." Er sah sich um. Die Menschen hier im Raum waren der Kern der Sportabteilung und Kai diskutierte mit ihnen über die neue Rennsaison. "Wieso können wir die Besprechung nicht, wie sonst auch, nach der aktuellen Saison machen?" "Weil wir, wie ihr wisst, eine Art neuen Vor- und Nachbericht bringen wollen. Und der Chef hat heute jemanden bei sich, der wohl unser neuer Moderator werden soll. Und wenn er schon mal herkommt, wäre es gut, wenn ihr ihm sagen können, was er tun soll." Andreas zuckte mit den Schultern. "Okay, das leuchtet ein. Aber eigentlich gibt es kaum etwas zu besprechen. Die Hauptsendung machen wir weiter wie bisher, ab ´ner halben Stunde vor Rennbeginn berichtest du, zusammen mit Chris und Heiko. Also muss der neue nur ein paar Minuten vor der Rausfahrt der Autos ein wenig was zum aktuellen Rennen erzählen. Und dafür hat er ja noch Niki." Kai nickte. "Genauso hätte ich mir das auch vorgestellt. Die Frage ist nur, wie gut kann der Neue improvisieren. Wenn wir ihm jedes Wort vorgeben sollen, kriegen wir ein Problem." "Das wird nicht nötig sein, denke ich. Ein wenig auf aktuelle Ereignisse reagieren, habe ich gelernt." Die Stimme war von der Tür her erklungen, wo jetzt ein Mann auftauchte. Kai war so schnell hochgesprungen, dass sein Stuhl nach hinten umkippte. "Flo." Er strahlte ihn an, ging zu ihm und umarmte ihn kurz. "Du bist der Moderator? Ich meine... du bist doch der Moderator, oder?" "Ja. Der Chef hat mich genommen. Wegen der ausgezeichneten Arbeitszeugnisse." Er grinste Kai an. "Wie du siehst, du wirst mich nicht los." Lachend schob Kai Florian an den Tisch und stellte ihn den anderen vor. "Wir haben eine Weile zusammen studiert und uns in der Hochschule angefreundet. Flo hat das Studium abgebrochen und ist zu den Kollegen der ARD gegangen. Wer die Leichtathletik-WM gesehen hat, dürfte ihn kennen." "Ach der..." Andreas tippte sich leicht gegen den Kopf. "Ich wusste doch, das Gesicht kommt mir bekannt vor. Willkommen im Team." "Danke. Ich kenne eure Berichte und Übertragungen aus dem Fernsehen. Klar, ich hab angefangen, es wegen Kai zu gucken. Einfach, weil ich sehen wollte, was er so drauf hat." Er grinste Kai frech an und setzte sich, als Kai ihm einen Platz anbot. "Mir gefällt die lockere Art und dass man das Gefühl hat, dass es für euch nicht nur ein Job ist, sondern eine Leidenschaft. Und ich würde wirklich gern ein Teil des Teams werden." Heiko musterte Florian. "Magst du die Formel 1?" "Sehr." "Und Fussball?" "Leidenschaft Nummer 1." Er sah Kai an, der nickte leicht. "Ich hab früher für die Stuttgarter Kickers gespielt." Heiko blickte ihn begeistert an. "Stuttgart ist nicht grad mein Lieblingsverein, aber... cool. Du warst bei einem Zweitligisten." Er sah die anderen an. "Ich mag ihn." Die anderen lachten. Kai sah Florian von der Seite an. "Ich denke, mit uns kommst du gut klar. Du passt hier rein. Nur wie du mit Niki klar kommen willst, das weiß ich nicht. Ich glaub, bei ihm musst du unbedingt lernen, dich durchzusetzen, sonst tanzt er dir auf der Nase rum." "Aber... Niki Lauda..." "Stopp, Flo. Niki ist unser Experte. Und nicht mehr. Er braucht niemanden, der ihm hinterher kriecht, sondern jemanden, der seine Witze versteht und ihn akzeptiert. Kriegst du das hin?" Seufzend nickte Florian. "Wenn ich vor der ersten Sendung mal die Chance bekomme, ihn kennen zu lernen, ja. Ich denke, ich kriege das hin. Er kommt eigentlich sehr nett rüber im TV." "Er ist total nett und auf dem Boden geblieben", versichtert Simon, einer der Reporter des Senders. "Und die Arbeit macht ihm Spaß. Und..." Er machte eine dramatische Pause. "Er weiß so unglaublich viel über die Formel 1." "Tatsächlich?" Florian sah den Mann mit großen Augen an. Die anderen am Tisch lachten und unterhielten sich noch eine Weile mit Florian. Natürlich fragten sie ihn auch über seine gemeinsam Zeit mit Kai während des Studiums aus, aber da erzählte er nur die üblichen Studentengeschichten. Als die anderen raus waren, ließ sich Kai kurz darüber aus, dass Florian ihn nicht vorgewarnt hatte. "Bei jeder Minientscheidung fragst du mich und ausgerechnet dabei hast du mich nicht gefragt." "Nein. Dieses Mal nicht. Weil ich wusste, dass du dich riesig freuen wirst. Und weil ich dich einfach überraschen wollte." "Das ist dir gelungen." Er strahlte Florian wieder an. "Und ich möchte dir noch jemanden vorstellen. Davon habe ich dir nämlich noch nichts erzählt." "Ich höre." "Ich habe seit einem Jahr eine Freundin, das weißt du ja." "Ja, hast du erwähnt." Florian lehnte sich gegen den Tisch. "Sie ist schwanger und wir werden heiraten." Kai grinste, als Florian ihn verblüfft ansah. "Ich werde Vater." Florian lachte auf und umarmte ihn. "Herzlichen Glückwunsch. Wann?" "Nächstes Jahr im Mai. Anfang Mai." "Und wann heiratet ihr?" "Noch dieses Jahr. Ich hoffe, du kommst." "Natürlich." Florian sah sich um. Die Tür war zu. Trotzdem senkte er die Stimme. "Weiß sie es?" "Ja. Sie weiß es. Aber ich war ihr treu… bisher." Kai schaute ihm tief in die Augen. "Komm, ich zeige dir den Sender."
Bei RTL konnte sich Florian so entfalten, wie er es wollte und Kai half ihm dabei, sich einzuleben. Deshalb dachte er nach kurzer Zeit auch nicht mehr darüber nach, ob er sich richtig entschieden hatte. Er wusste es einfach. Und die Arbeit mit Kai machte ihm jede Menge Spaß. Hinzu kam, dass er unter den Kollegen Menschen fand, die schon nach kurzer Zeit für ihn zu echten Freunden wurden. Privat vertieften sie seine Freundschaft zu Kai sehr. Vor allem, nachdem Florian Anfang 2000 anfing, mit zu den Rennen zu fliegen. Zu Hause und in der Öffentlichkeit waren die beiden erfolgreiche Journalisten und brave Familienväter. Florian hatte ein Jahr nach seinem Wechsel zu RTL eine Kollegin geheiratet und seine beiden Kinder waren sein ganzer Stolz. An den Strecken, nachts in den Hotels, teilten die beiden Männer jedoch immer wieder ihre private Leidenschaft. Dass Florian immer in der Nacht leise wieder in sein Hotelzimmer verschwand, nahm Kai mit der Zeit mit einem Lächeln hin. Er empfand zwar nach wie vor eine Menge mehr für seinen besten Freund als bloße Freundschaft, aber er akzeptierte dessen Entscheidung und er genoss jede Minute, in der Florian mal seine Ängste vergaß und sich in seine Arme flüchtete, um dort das zu finden, wonach sein Herz und sein Körper sich im Stillen sehnten.