Ich seufzte laut auf, ehe ich wieder in die Realität zurückfand und bemerkte, wie mich alle anstarrten. Ein wenig irritiert erwiderte ich ihren Blick. „Bist du wieder bei uns?“, fragte Michael erfreut, gewinnend lächelte er mich an. Langsam nickte ich während ich überlegte, was ich überhaupt antworten sollte. „Ganz noch nicht …“, hörte ich jemand sagen. „Ihre Gedanken sind noch sehr weit weg.“ „Du tust mir unrecht, Robert.“, murmelte ich vor mich hin, meine Augen suchten nach ihm, und ich lächelte ihm schließlich freundlich an, als ich ihn neben Sarah gefunden hatte. Ein leichtes Kichern war zu vernehmen. Ich hatte absolut keine Lust, den Grund dafür herauszufinden, deshalb widmete ich mich den Berichten, die in den nächsten Tagen eigentlich gebraucht werden würden und ließ meine Männer dennoch nicht aus den Augen, wollte ich doch genau wissen, was sie zu tun gedachten. Da ich bereits wieder mit meiner Arbeit beschäftigt war, verloren sie auch bald das Interesse an mir und meiner Person. Ich war dermaßen konzentriert, dass ich gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging. Erst als das Licht aufgedreht wurde, realisierte ich es. „So spät ist es schon?“, wunderte ich mich. Michael nickte nur bestätigend, inzwischen war ich mit ihm alleine im Raum. Mit Entsetzen hatte ich festgestellt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wann die anderen das Büro verlassen hatte.
Ehe ich noch irgendetwas in dieser Richtung sagen konnte, klopfte es zaghaft an der Tür. Schüchtern schob sich der Kopf eines Kollegen aus dem Labor durch den entstanden Spalt. „Habt ihr kurz Zeit für mich?“, fragte er schließlich, als wir ihm nur erwartungsvoll entgegenblickten. Immerhin hatten wir in den letzten Tagen keinen aktuellen Fall zu bearbeiten, bei dem wir das Labor brauchen hätten können. „Natürlich, komm rein und sag, warum du zu uns kommst!“, bat ich und deutete auf den Besuchersessel. Umständlich ließ sich Jan darauf nieder und blickte mich aus großen Augen sekundenlang an, die Akte, die er in Händen hielt, drehte er unruhig darin herum. „Eure Praktikantin war vor ein paar Tagen bei mir …“, begann Jan zu sprechen und hörte so plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte. Verunsichert schaute er mir in die Augen, leckte sich nervös über die Lippen und rutschte aufgeregt auf dem Sessel hin und her. Erstaunt nahm ich seine Worte zur Kenntnis … vorerst. Meine Gedanken rasten, ich konnte sie nur noch nicht ordnen. „Wir haben sie nicht zu euch geschickt, Jan, denn wir sind an keinem Fall dran, bei dem ihr uns helfen könntet.“, half Michael aus. Bestätigend nickte ich, zu mehr war ich im Augenblick nicht fähig, und ich starrte nur auf die dünne Mappe in den Händen des Kollegen, wollte ich doch wissen, was in der Akte stand. Jan wurde immer unruhiger, je länger ich ihn beobachtete. „Also, Jan, jetzt erzähle mal, was du auf dem Herzen hast, gib …“, bat ich eingehenst und hielt ihm meine Hand entgegen. Zu meinem Erstaunen schüttelte Jan den Kopf, drehte den bunten Karton in seinen Händen umher und übergab die wenigen Papiere schließlich Michael. Er nahm sie entgegen, starrte sie kurz an und schien nicht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Äußerst langsam öffnete er den Deckel, neugierig darauf, was ihn erwarten würde.
Rasch überflog er die wenigen Zeilen und konnte oder wollte nicht verstehen, was er eben gelesen hatte. Irritiert schüttelte Michael den Kopf, endlich hob er diesen und starrte auf mich. „Das wird dich interessieren …“, murmelte er während er mir den Aktendeckel entgegenhielt. Verunsichert nahm ich ihn von Michael entgegen und fragte mich, was mich erwarten würde. „Erzähle mir einfach, was ich da finden werde.“, bat ich flehend. Entrüstet nahm ich zur Kenntnis, dass Michael den Kopf schüttelte und mich leicht anlächelte. „Es wird dich interessieren.“, wiederholte er seine Worte, mit Nachdruck deutete er auf den vor mir liegenden Akt.
Ein energisches Räuspern lenkte uns ab, Jan rutschte auf dem Sessel mir gegenüber auf und ab. „Ich sollte wieder gehen …“, meinte er unsicher. Milde lächelnd schaute ich ihm in die Augen. „Natürlich, und danke dafür.“, erwiderte ich und deutete auf die Unterlagen vor mir. „Keine Ursache, Alex … aber eigentlich wollte diese Akte eigentlich eure Praktikantin.“, meinte Jan, während er sich erhob. „Frag mich nicht, warum, Alex, aber lies selbst!“ Mit diesen Worten marschierte er einfach zur Tür, ehe er den Raum verließ hob er nur grüßend die Hand, anstatt etwas zu sagen. Dass er uns sehr verwirrt zurückließ, schien ihm absolut nicht zu interessieren.
Nachdenklich starrte Michael mich an, wusste vermutlich gar nicht, was er sagen sollte. „Du solltest das Ganze lesen, auch wenn es für Sarah bestimmt sein soll. Weißt du, was ich nicht verstehe?“, erkundigte er sich, fragend schaute er mir in die Augen. Irritiert schüttelte ich den Kopf. „Ihr beide habt kaum ein Wort miteinander gewechselt, warum um alles in der Welt lässt sie diesen Test machen, und das Ergebnis ist ausgesprochen interessant. Du solltest endlich zu lesen beginnen.“, drängte mich Michael, aufmunternd grinste er mir zu. Sehr zaghaft erwiderte ich dieses Lächeln, endlich schaute ich auf die Akte, die schon einige Augenblicke vor mir auf dem Tisch lag. Unbewusst hatte ich begonnen, damit zu spielen. Erschrocken bemerkte ich den etwas eingerissenen Rand. Mit einem leichten Anflug von schlechtem Gewissen öffnete ich endlich den Schnellhefter und begann langsam zu lesen. Wie oft ich über die wenigen Zeilen flog, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Es dauerte auf alle Fälle sehr lange, bis ich überhaupt begriff. Als ich den Kopf hob, tropften die ersten Tränen auf das Blatt.
Am Rande bekam ich mit, dass Michael aufsprang und mit raschen Schritten auf mich zukam. „Alex …“, rief er erschrocken aus. Betont langsam lies er sich vor mir auf die Knie sinken, erschüttert blickte er mich an. „Was ist denn mit dir los?“, wollte er entgeistert wissen. „Diese paar Zeilen können dich doch nicht so aus der Fassung gebracht haben.“ Anstatt zu antworten, schluchzte ich laut auf und begann hemmungslos zu weinen. „Du hast ja keine Ahnung, Micha.“, brachte ich nach wenigen Minuten mühsam hervor. „Das kann durchaus möglich sein, Alex, dann versuche eben, es mir zu erklären.“, bat er treuherzig. Der Dackelblick, mit dem er mich musterte, reizte mich dann doch ein wenig zum Lachen. Rasch erlosch es auch wieder, und ich seufzte laut auf. „Rede doch endlich mit mir.“, ersuchte Michael mich eindringlich. „Heute nicht, Michael, schau mich bitte nicht so an …“, murmelte ich hilflos vor mich hin. „Das sollte ich wohl in erster Linie mit Sarah und meinen Eltern.“ Wieder schniefte ich vor mich hin, nicht ahnend, dass ich mit meinem Gefühlsausbruch Michael ziemlich schockierte.
Endlich erhob er sich, zog mich einfach mit sich, da er währenddessen einfach meine Hände in seine genommen hatte. Behutsam nahm er mich in die Arme und presste mich an sich. Am Rande nur nahm ich wahr, dass er mir über meinen Rücken strich, um mich zu beruhigen. Im Moment gelang es nicht, an mir lief gerade die ganze Dramatik meines Lebens vorbei. Ich kam mir im Augenblick so unsagbar hilflos vor, wusste nicht, was ich tun sollte. Nach und nach wurde mir bewusst, dass das Kind, dem ich vor vierundzwanzig Jahren das Leben geschenkt hatte, bei der Geburt nicht gestorben war. Warum es mir gesagt worden war, begriff ich nicht – noch nicht.
„Alex …“, murmelte Michael an meinem Ohr. Für mich klang seine Stimme hilflos und so mutlos. Erschrocken schaute ich zu ihm auf, sein Gesicht drückte die ganze Fassungslosigkeit aus, die er im Moment empfinden musste, als er in meine Augen blickte. Was er darin lesen konnte, hatte er mir nie gesagt, es erschütterte ihn zu sehr.
Die Tür flog auf, Gerrit, Robert und Sarah stürmten gut gelaunt ins Büro. Michael und ich schauten ihnen erstaunt, aber auch erschrocken entgegen. Rasch löste ich mich aus seinen Armen, wischte verlegen über mein Gesicht, während ich versuchte, mich an meinen Kollegen vorbei zu drängen. Doch Gerrit hielt mich am Arm fest und blickte mir in die Augen. Dieser Blick hielt meinen einfach gefangen. „Was ist mit dir los, Alex, hat Michael dich wieder einmal blöd angemacht?“, wollte er besorgt wissen. Ehe ich etwas sagen konnte, hörte ich ein verächtliches Schnauben und wandte meinen Kopf wieder Michael zu. „Du tust mir unrecht, Kollege. Ach, bevor ich vergesse: Für Sarah ist etwas abgegeben worden.“, meinte er und deutete auf den Aktendeckel, der noch immer auf meinem Schreibtisch lag. „Für mich?“, erkundigte sich Sarah. „Wer bringt mir denn etwas?“ Sie schien sichtlich erstaunt über diese Tatsache zu sein. „Vor wenigen Minuten war jemand aus dem Labor hier und hat dir etwas vorbeigebracht.“, erwiderte Michael. „Auch wenn ich nicht ganz verstehe, warum du etwas dort abgibst, ohne dass wir dich gebeten haben, das zu tun.“ Betreten trat die junge Frau von einem Bein auf das andere und schaute verlegen im Büro herum. Ihr Blick blieb an mir haften, wurde fragend, als sie nicht begreifen konnte, was sie in meinen Augen zu lesen glaubte. Sarah zuckte vorerst nur hilflos mit den Schultern, im Moment schien ihr nicht mehr einzufallen. Ihre Augen wanderten durch den Raum, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
Wieder trafen sie auf meine, nachdenklich legte sie ihren Kopf schief. Eingehend musterte sie mich schweigend, erst jetzt wurde mir bewusst, dass Michael wieder seine Arme um meine Schultern gelegt hatte und keinerlei Anstalten machte, ihn dort auch wieder wegzunehmen. Er schien zu merken, dass ich noch immer sehr aufgewühlt war, deshalb verstärkte er seinen Druck. Da ich leise vor mich hin schniefte, kramte er mit der freien Hand in seinen Hosentaschen – vergebens. Entschuldigend schaute er auf mich herab, auf seine Lippen schlich sich ein verschmitztes Lächeln, das ich nicht ganz verstehen konnte. Hastig wischte ich mir über meine Wangen, sie waren noch immer nass von den Tränen.
„Was ist denn hier eigentlich los?“, fragte Sarah neugierig, sie schien völlig darauf vergessen zu haben, dass Michael sie auf diese Akte aus dem Labor hingewiesen hatte. „Ich begreife noch immer nicht, was Alex so aus der Fassung bringen kann.“ Mit Interesse musterte sie mich, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Lies einfach den Bericht des Labors, danach darfst du uns erklären, warum du auf diese Idee gekommen bist, diesen Test überhaupt machen zu lassen.“, schlug Michael vor und zeigte auf den Akt, der nach wie vor auf meinem Schreibtisch lag. Ihr Blick wanderte zwischen mir und Michael hin und her. Endlich schien sie sich dazu durchgerungen zu haben, langsam die wenigen Schritte auf meinen Schreibtisch zukommen zu wollen. Besonders behutsam nahm sie endlich den Schnellhefter zur Hand und begann schließlich die wenigen Zeilen zu lesen, die sich auf dem darin befindlichen Blatt Papier befanden. Für meine Begriffe, dauerte es viel zu lange, bis Sarah fertig war, ich wurde ungeduldiger, als ich es an mir selbst kannte.
Robert war neugierig genug, um wissen zu wollen, was in diesem Bericht stand. Deshalb kam er rasch auf unsere Praktikantin zu, um ihr den Aktendeckel aus der Hand zu nehmen. Interessiert begann er zu lesen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er begriffen hatte. Hastig hob er den Kopf und starrte mich entsetzt an. „Und ich habe nicht geglaubt, dass sie mit ihrer Vermutung recht hat.“, brummte Robert endlich vor sich hin. Nachdenklich erwiderte ich seinen Blick und fragte mich, was mein junger Kollege mit seinem letzten Satz eigentlich gemeint haben könnte. „Warum sollte ich dich belügen, Robert?“, wollte sie schnippisch wissen, schüttelte ungehalten den Kopf, riss ihm die Akte auch wieder aus der Hand. Sie überflog die wenigen Zeilen noch einige Male, um sicherzugehen, dass sie auch richtig begriffen hatte. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sah sie auf, direkt in meine Augen.
Ihr Grinsen wurde noch breiter als es ohnehin schon war, als sie sich meines Blickes bewusst wurde. Ich musste gestehen, dass ich absolut nicht verstand, was um mich herum vor sich ging. Verunsichert schaute ich mich um und merkte, dass mich auch die anderen musterten. „Was ist …?“, fragte ich irritiert. Michael blickte mit schiefgelegtem Kopf an. „Das fragst du noch, Alex? Ich habe gerade den Eindruck, dass in deinem Leben gerade etwas gewaltig aus dem Ruder läuft.“, bemerkte er ernst. In diesen Minuten war er so viel ernster, als ich es von ihm gewohnt war. Bedächtig nickte ich, riss mich von den strahlend blauen Augen los, die mich an diesem Tag besonders beeindruckten, ja fast schon faszinierten, auch wenn ich im Moment nicht wusste, warum, und wandte mich Sarah zu. Erst jetzt merkte, dass sie mich genau musterte. „Wir sollten reden, nur wir beide …“, stellte sie fest. Ich nickte langsam, denn ich hatte noch immer das Gefühl, dass ich irgendetwas absolut nicht verstand und es auch nicht wollte. „Ja, wir sollten miteinander reden und das so rasch wie möglich. Am besten ist es wohl, wenn wir nach Dienstschluss gleich zu mir fahren.“, meinte ich, nachdem ich kurz nachgedacht hatte. „Zu dir?“, wunderte sich Sarah. „Ich hatte eher an ein kleines Café gedacht oder vielleicht auch an ein Lokal.“ Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich habe das Gefühl, dass bei diesem Gespräch Dinge ans Tageslicht kommen, die nicht für andere Ohren bestimmt sind.“, bemerkte ich energischer, als ich es eigentlich ursprünglich vorgehabt hatte. Ich spürte alle Blicke auf mir ruhen, hatte plötzlich das Gefühl, mich verstecken zu müssen. Mit Schrecken erkannte ich, dass Michael recht hatte, bei mir geriet gerade alles aus den Fugen. Was ich mir aufgebaut hatte, begann Risse zu bekommen, und es schien bereits zu bröckeln.
„Wie du meinst, Alex …“, murmelte Sarah. „Fahren wir gleich los, bevor ich es mir noch anders überlege.“ Ich nickte nur, denn auch ich wollte diese Aussprache, wenn man es so nennen konnte, hinter mich bringen, auch wenn ich nicht vorher sehen konnte, wie es mir am Ende dieses Tages gehen würde. Rasch fuhr ich meinen Rechner herunter, schnappte meine Handtasche und folgte Sarah, die bereits bei der Tür auf mich wartete. „Alex …“, hörte ich eine Stimme nach mir rufen. Erwartungsvoll wandte ich mich um und blickte mich suchend um. „Melde dich, wenn dir danach ist.“, sagte Michael leise, schaute mir fest in die Augen und hielt meinen Blick gefangen. Ich nickte nur, brachte kein Wort über die Lippen. Ohne noch ein Wort zu verlieren, verließ ich endlich das Büro, mit einem flauen Gefühl im Magen folgte ich Sarah.
Wir hatten uns entschlossen, mit einem Auto zu fahren. Keiner sprach ein Wort, die wenigen Minuten, die wir im Wagen verbrachten, verliefen schweigend. Erst als ich eingeparkt hatte, wandte ich mich meiner Begleiterin zu. „Da sind wir …“, meinte ich vage, zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Sarah nickte nur, ich merkte sehr wohl, wie verunsichert sie plötzlich war, auch wenn sie vorhin im Büro vor Selbstvertrauen nur so gestrotzt hatte. „Was hältst du davon, wenn ich uns Kaffee koche?“, fragte ich, um ihr zu helfen, die Befangenheit auch rasch wieder zu verlieren. „Das ist eine gute Idee …“, meinte Sarah und rieb sich erfreut die Hände. „Und ich denke, dass dein Kaffee besser sein wird, als der von Michael oder Gerrit.“ Ich lächelte sie geschmeichelt an, ehe ich antwortete: „Das kann gut möglich sein, Sarah. Komm einfach mit!“
Wieder sprachen wir kein Wort, als wir zu meiner Wohnung hoch gingen. Ich musste zugeben, dass ich es in diesem Augenblick sogar genoss. Ich schluckte heftig, als mir der Grund ihres Besuches wieder zu Bewusstsein kam. Während der Autofahrt hatte ich diesen gekonnt verdrängen können. Ich verlangsamte meine Schritte, zu sehr begann ich mich vor dem bevorstehenden Gespräch zu fürchten, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich doch einen meiner unzähligen Freunde hätte mitnehmen sollen. Ich seufzte kurz auf, als ich endlich vor meiner Wohnungstür stand. Mit einem Male wünschte ich mir, dass unsere Aussprache nicht stattfinden sollte, doch es war nun wohl zu spät. „Also, Alex, worauf wartest du noch?“, wollte Sarah wissen, mit schiefgelegtem Kopf beobachtete sie mich. Ich atmete kurz tief ein, während ich die Türe endlich aufschloss und die junge Frau an mir vorbei ließ. Unschlüssig blieb sie im kleinen Vorraum stehen, drehte sich einige Male im Kreis. Anerkennend stieß sie einen kurzen Pfiff aus, es schien ihr bei mir zu gefallen, auch wenn sie noch nicht allzu viel von der Wohnung gesehen hatte.
„Möchtest du noch immer Kaffee?“, wollte ich wissen, blickte ihr fragend in die Augen. Langsam nickte Sarah und wartete, bis ich mir meine Schuhe in das dafür vorgesehene Regal gestellt und meine Jacke aufgehängt hatte. Die sonst so selbstbewusste Frau folgte mir ein wenig verunsichert, während sie sich im Wohnzimmer und der anschließenden Küche ein wenig umschaute. „Du hast es schön hier.“, stellte sie plötzlich fest. „Danke …“, murmelte ich nur geschmeichelt, verlegen hantierte ich an der Kaffeemaschine herum. Schließlich bekam ich nicht sehr häufiger derartige Komplimente. Ohne tatsächlich zu fragen, hatte sich Sarah an den Küchentisch gesetzt und nahm dankbar die Tasse mit Kaffee entgegen. Ich beobachte sie dabei, wie sie schluckweise das heiße Gebräu trank und mich über dem Tassenrand hinweg ansah. Ich lächelte sie vorerst nur an, mehr fiel mir im Augenblick nicht ein, außerdem hoffte ich, dass ich das klärende Gespräch noch eine Weile hinauszögern konnte. Ich wollte einfach nur den Moment genießen, denn es war eine ganze Weile her, dass ich Besuch gehabt hatte. Zugleich wusste ich aber auch, dass ich diese Aussage nicht endlos hinauszögern konnte, dieser Test war doch eindeutig genug gewesen, aber begreifen konnte ich es nicht. Immerhin hatte man mir in meiner Jugend Dinge eingeredet, die so nicht stimmen und nun kam das ans Tageslicht, was jahrelang ein schwer gehütetes Geheimnis meiner Mutter gewesen war.
Ein leichtes Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken schaute ich der mir gegenüber sitzenden Sarah in die Augen, mein Blick wurde nach wenigen Sekunden fragend. „Ich denke, dass wir endlich reden sollten.“, meinte sie endlich vage und lächelte leicht. Bestätigend nickte ich, überlegte mir krampfhaft, mit welcher Frage ich überhaupt beginnen sollte. Immerhin schwirrten mir unendlich viele im Kopf hin und her. „Wieso kommst du auf die eigenartige Idee, unser Labor für diesen DNA-Test einzuspannen? Ich denke doch, dass die Kollegen kaum sofort zugestimmt haben werden.“, vermutete ich. Zaghaft nickte Sarah und kaute an ihrer Lippe herum. „Weißt du, Alex …“, begann sie endlich ziemlich kleinlaut zu sprechen. „Robert hat mir dabei geholfen. Was er im Labor erzählt hat, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen!“ Fassungslos starrte ich sie an, im ersten Moment nicht fähig überhaupt irgendetwas zu sagen. Endlich schüttelte ich ungläubig den Kopf, begreifen konnte ich es trotzdem nicht. „Was hast du tun müssen, damit Robert dir hilft?“, wollte ich wissen, nicht ahnend, was ich von der Hilfsbereitschaft meines jungen Kollegen halten sollte. Sarah lächelte mich belustigt an und schüttelte vorerst den Kopf. „Alex, wo denkst du wieder hin?! Ich finde den Robert zwar total lieb und nett, aber zu mehr reicht es nicht, das hab ich ihm auch gesagt, auch wenn wir einige Male nach Dienstschluss gemeinsam unterwegs waren.“, gab Sarah zu. Ich wusste vorerst nicht, was ich davon halten sollte. „Lass uns zum Thema zurückkehren!“, bat ich, denn im Grunde ging mir das Privatleben unserer Praktikanten überhaupt nichts an.
„Natürlich, deshalb sitzen wir ja hier.“, bemerkte Sarah. Versonnen nickte ich, wusste vorerst nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich brauchte einige Zeit, um dahinter zu kommen, dass sie mir meine anfängliche Frage noch nicht beantwortet hatte. „Wieso lässt du einen DNA-Test machen und das auch noch hinter meinem Rücken.“, wiederholte ich sie aus diesem Grund. Sarah legte ihren Kopf leicht zur Seite und starrte mich eine Weile unverwandt an. „Das wird eine längere Geschichte …“, murmelte sie vor sich hin, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Warum nicht, ich habe heute nichts mehr vor. Also lege los, Sarah.“, bat ich, aufmunternd zwinkerte ich ihr zu. Bedächtig wiegte sie ihren Kopf hin und her, schien nicht genau zu wissen, wie sie mit ihrer Geschichte beginnen sollte.
Sarah holte tief Luft, ehe sie zu reden begann: „Weißt du, Alex, ich wurde adoptiert, schon als ganz kleines Baby … Schau mich nicht so groß an, meine Eltern haben mir das bald erzählt, ich glaube, da war ich noch gar nicht in der Schule.“ Mit schiefgelegtem Kopf sah ich sie an, meine Gedanken schlugen wieder Purzelbäume, die sich nicht unter Kontrolle bringen ließen. Sekundenlang suchte ich nach Worten. „Hast du nie gefragt, wer deine richtigen Eltern sind?“, brachte ich endlich mit Mühe hervor. „Natürlich, Alex. Ich habe sie solange gelöchert, bis sie mir das auch noch erzählt haben, aber erst als ich für die Anmeldung in irgendeine Schule, meine Geburtsurkunde gebraucht habe, war ich verwirrt, weil der Auszug aus dem Geburtenbuch dabei war. Darauf stand natürlich der Name der Frau, die mich geboren hatte.“, erzählte Sarah, holte tief Luft und schaute mir schließlich in die Augen. „Und da steht wohl mein Name darauf?“, vermutete ich, atmete tief ein und aus. Sarah nickte erst langsam, dann immer heftiger. „Klar doch. Warum dieser Auszug bei meinen Dokumenten lag kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Jedenfalls stand seit damals für mich fest, welchen Beruf ich ergreifen wollte.“, gab sie kleinlaut zu, verschmitzt lächelte sie mir zu. „Schon in meiner Kindheit wollte ich wissen, wer meine leiblichen Eltern waren. Ich brauchte einige Zeit, um mit meiner Mutter darüber zu reden, sie unterstütze mich dabei, diese Frau zu finden, die mich geboren hatte.“
Entsetzt hörte ich der jungen Frau zu, wieder wurde mir bewusst, dass ich in den letzten beiden Jahrzehnten hintergangen worden war. Es schockierte mich am meisten, dass es meine eigene Mutter war, die mir all das eingeredet hatte und jedes Gespräch über dieses Kind von vornherein unterbunden hatte. Bis heute fragte ich mich, woher sie diese Kaltblütigkeit hergenommen hatte, erst jetzt war mir klar geworden, dass sie mit ihrem Verhalten die ganze Familie zerstört hatte, die kaum mehr miteinander redete, auch wenn ich mit meinem Vater noch den meisten Kontakt pflegte. Immerhin war er der einzige gewesen, der mir damals beigestanden hatte, auch wenn er keine Chance hatte, etwas gegen meinen Peiniger zu unternehmen, stellte ich betroffen fest. All dies redete ich mir von der Seele, ohne von Sarah unterbrochen zu werden. Erst als ich tief Luft holte und anschließend einen kleinen Schluck meines inzwischen kalten Kaffees nahm, warf die junge Frau eine Frage ein: „Du redest schon eine ganze Weile, ohne dass ich verstanden habe, was du damals eigentlich erlebt hast! Kannst du mir das endlich mal sagen?“ Mit Entsetzten bemerkte ich, dass ich um den sogenannten heißen Brei herumgeredet haben musste. „Tut mir leid, dass das für dich nicht so klar erkennbar war, Sarah …“, murmelte ich vor mich hin. „Dein Vater hat mich als Jugendliche missbraucht, irgendwann stellte ich dann fest, dass ich schwanger war.“ An ihrem Gesicht bemerkte ich ihr Entsetzen, es dauerte eine Weile, bis sie sich von dem Gehörten wieder erholt hatte. Sie öffnete einige Male den Mund, ohne dass sie ein Wort hervorbrachte. „Und natürlich ist nichts geschehen, weil einfach alles totgeschwiegen wurde, nicht wahr?“, meinte sie endlich. Ich konnte nur bestätigend nicken.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als sie mit der flachen Hand auf die Tischplatte drosch. An dieser Geste merkte ich, wie zornig sie über meine Geschichte sein musste. „Stimmt, Sarah. Und da mir damals diese Ungerechtigkeit widerfahren ist, bin ich zur Polizei gegangen. Ich wollte andere davor bewahren, leider gelingt mir das nicht immer.“, bemerkte ich mit Bedauern. „Leider ist das so und wohl nicht zu ändern.“, murmelte Sarah vor sich hin, nachdenklich musterte sie mich eine ganze Weile. Sie schien nicht zu wissen, was sie weiter sagen sollte. „Was willst du jetzt machen?“, fuhr sie fort. „Immerhin bist du heute hinter die Lügen deines Lebens gekommen, die nicht so leicht wegzustecken und zu verstehen sind.“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern, noch wusste ich nicht, wie ich richtig reagieren sollte. „Noch weiß ich das nicht, Sarah. Ich denke, dass ich wohl eine Nacht darüber schlafen werde, vielleicht weiß ich morgen oder in den nächsten Tagen, was ich genau tun werde.“, erwiderte ich langsam, aber auch sehr nachdenklich. „Ja, mach das mal, Alex.“, murmelte Sarah vor sich hin und beobachtete mich während ihrer Worte eingehend, irgendwann legte sie den Kopf schief, ohne den Blick abzuwenden. Ich musste mir eingestehen, dass ich mit ihren Worten absolut nichts anzufangen wusste, deshalb sagte ich auch nichts weiter, schaute meinem Gegenüber nur schweigend und nachdenklich in die Augen.
Noch immer rasten meine Gedanken, ließen sich einfach nicht ordnen. Langsam lehnte ich mich zurück, trank den letzten Schluck des kalten Kaffees. Irritiert starrte ich in die leere Tasse. „Willst du noch einen?“, fragte ich plötzlich und schaute Sarah endlich wieder in die Augen. Sie schüttelte jedoch nur den Kopf. „Hast du etwas anderes im Haus?“, wollte sie wissen. Ich nickte nur. „Ja, Wein oder Bier! Was möchtest du?“, erkundigte ich mich. „Wer trinkt denn schon Bier?!“, rief sie aufgekratzt. „Ich nehme Wein. Warte, ich werde dir helfen!“ Rasch sprang sie auf und nahm mir die beiden Tassen aus der Hand, um neben mir in die Küche zu gehen. Ohne es zu hinterfragen, stellte sie das Geschirr einfach in den Geschirrspüler. „Wo finde ich die Gläser?“, erkundigte sich Sarah, prüfend schaute sie sich um. Am Glasschrank blieb ihr Blick haften. Ohne lange zu zögern entnahm sie zwei Weingläser und stellte sie vor mir ab. „Wo du den Wein hast, weißt nur du.“, bemerkte Sarah und lächelte mir scheu zu. Bestätigend nickte ich, mit ein klein wenig Hektik begann ich in der kleinen Küche nach der einen Flasche Rotwein zu suchen, die ich noch irgendwo haben musste. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich sie endlich in Händen hielt. „Na endlich … das hat ja eine Ewigkeit gedauert.“, stellte Sarah in einem Ton fest, den ich nicht zuordnen konnte. Mit schiefgelegtem Kopf schaute ich ihr in die Augen, wusste vorerst nicht, was ich sagen sollte. Deshalb hob und senkte ich ein kleinwenig verunsichert meine Schultern, mein Blick wurde entschuldigend. „Weißt du, diese Flasche hab ich schon so lange hier im Schrank stehen, dass ich sie beinahe schon wieder vergessen habe.“, murmelte ich vor mich hin, nicht darauf achtend, dass sie mich eventuell nicht verstehen konnte. Sarah war klug genug, nicht weiter darauf einzugehen.
Wir einigten uns darauf, in der Küche zu bleiben, aus dem Wohnzimmer war noch immer die Musik aus dem Radio zu hören. Um uns herum herrschte angenehme Ruhe. Im Moment war mir das sogar mehr als recht. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, war ich doch noch viel zu aufgewühlt vom Tag, zu viel auf einmal war auf mich eingestürzt, an dem ich vermutlich noch einige Zeit zu schlucken hatte.
Versonnen trank ich einen Schluck von meinem Wein und bemerkte mit Entsetzen, dass das Glas nun leer war. „Nein, danke …“, meinte ich nur, als Sarah mir nachschenken wollte. „Für heute reicht es schon.“ Entschuldigend blickte ich ihr in die Augen. Ich hörte ein leises Lachen. „Alex, jetzt hab‘ dich doch nicht so. Du musst ja heute nicht mehr fahren.“, bemerkte Sarah, irritiert schaute sie mich an und schien nicht zu wissen, was sie im Augenblick mit mir anfangen sollte. Ein klein wenig ungehalten über mein Verhalten schüttelte sie den Kopf. „Wenn ich so darüber nachdenke, hast du sicher allen Grund, ein Glas über den Durst zu trinken.“, meinte sie. „Das mag vielleicht möglich sein, aber deswegen muss ich es doch nicht tun.“, brummte ich vor mich hin, wandte meinen Blick von ihr ab. So nach und nach begann ich zu verstehen, warum mir die wenigen Ähnlichkeiten aufgefallen waren. Ruckartig hob ich also wieder meine Augen, musterte mein Gegenüber.
„Ich habe also eine erwachsene Tochter, ohne es bisher gewusst zu haben.“, stellte ich plötzlich fest und lächelte mit einem Mal verträumt vor mich hin. Bestätigend nickte sie mir zu. „Ja …“, sagte Sarah einfach, erwiderte offen meinen Blick. Sie schaffte es, von mir unbemerkt, mein Glas wieder aufzufüllen. „Was soll denn das werden, Sarah, ich sagte doch schon, dass ich nichts mehr möchte.“, rief ich entsetzt aus, als ich es bemerkte. Sarah lachte kurz auf und hielt die Flasche hoch. „Ich möchte doch, dass sie leer wird …“, sagte sie nur entschuldigend. „Es wäre doch schade, wenn er schlecht werden würde!“ Dem konnte ich nichts mehr entgegen halten, ergeben trank ich den ersten Schluck.
Wir redeten die halbe Nacht, ohne großes Geschrei trank ich auch noch den letzten Rest des Weines aus. Wann genau Sarah gegangen und wie sie nach Hause gekommen war, konnte ich später beim besten Willen nicht mehr sagen. Mit brummendem Schädel saß ich auf meinem Bürosessel und gähnte herzhaft vor mich hin. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass ich noch alleine war. Wieder fragte ich mich, warum ich diesen Wein überhaupt ausgetrunken hatte, beantworten konnte ich mir diese Frage allerdings nicht. Immerhin hatte ich das ursprünglich ja gar nicht gewollt, und jetzt hatte ich die Rechnung dafür, mein Kopf pochte immer mehr, je länger ich in dem vor mir liegenden Akt las. Verärgert schob ich diesen weg, seufzte ungehalten auf.
Ich verzog mein Gesicht vor Schmerz, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und eine mir bekannte Stimme mir ein lautstarkes „Guten Morgen“ zurief. Entsetzt hielt ich mir die Ohren zu. „Leiser …“, bat ich ungehalten, verzog wieder das Gesicht. An diesem Morgen störte mich sogar meine eigene Stimme, sie klang in meinen Ohren sogar besonders schrill. Vor mir baute sich Kollege Naseband auf, ich erkannte ihn an seinem Aftershave, das er an diesem Tag äußerst großzügig aufgetragen hatte. Nach Sekunden hob ich meinen Blick, da ich seinen auf mir spürte. „Was ist los?“, wollte ich leicht säuerlich wissen. „Nichts … du könntest mir vielleicht erklären, warum du heute so schlecht drauf bist.“, bat er gut gelaunt, während er über das ganze Gesicht auf mich herab grinste. An diesem Tag störte mich das besonders, und ich war versucht, ihm das auch zu sagen. Warum ich das dann doch nicht tat, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Natürlich hatte ich absolut keine Lust, über meinen betrunkenen Zustand vom Vorabend und die Folgen davon zu reden, wollte ich doch diesen „Fehler“, wie ich es bei mir nannte, nicht wirklich zugeben. „Also, Alex, was ist gestern Abend vorgefallen, hat Sarah dich dermaßen fertig gemacht?“, wollte er neugierig wissen, interessiert schaute er auf mich herab, denn Michael stand noch immer vor meinem Schreibtisch. Entsetzt schüttelte ich meinen Kopf, hielt aber bald wieder inne, weil es darin wieder heftig zu pochen begonnen hatte.
„Unsinn, Michael Naseband, du hast ja keine Ahnung.“, bemerkte ich ungehalten. Ich merkte, wie er bedächtig mit seinem Kopf nickte. „Das mag richtig sein, Alex, du kannst es mir versuchen zu erklären. Du weißt, dass ich dir helfen möchte.“, bemerkte Michael ernst. Ich wollte nicken, ließ es jedoch gleich wieder bleiben, zu sehr schmerzte mein Kopf. Das machte mich ziemlich unleidlich, auch wenn ich wusste, dass er absolut nichts für meinen Zustand konnte. Aber es schien an ihm abzuprallen, und das machte mich froh. Natürlich wäre es nicht mein Kollege Michael, wollte er nicht nach dem Rechten sehen. Sein Blick wurde mitleidig, je länger er mich beobachtete. „Was ist gestern Abend passiert? Du hast doch nicht etwa durchgemacht?“, wollte er bestürzt wissen, wusste er doch, dass ich in den letzten Wochen und Monaten äußerst selten unterwegs gewesen war, deshalb versuchte ich den Kopf zu schütteln. „Hab ich nicht, Michael. Sarah und ich haben die halbe Nacht in der Küche gesessen und geredet. Dabei haben wir eine ganze Flasche Wein ausgetrunken. Dass ich den größeren Teil davon abgekriegt habe, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen.“, brachte ich mühsam hervor. „Ist klar, ich hätte es wissen müssen. Ich frage mich nur, warum du nicht zu Hause geblieben bist.“, brummte er kopfschüttelnd. „Michael, ich bitte dich, das ich noch lange kein Grund, um daheim zu bleiben. Außerdem ist es eine gute Ablenkung, wenn ich hier bin.“, gab ich zu. „Auch wenn du uns hier keine allzu große Hilfe bist.“, bedauerte Michael. „… zumindest heute nicht.“ Mitleidig schaute er auf mich herab. Ich merkte, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte, jedoch nicht wusste, wie er mir sagen sollte, was er sich gerade dachte. Ich hörte sein leises Seufzen, wusste aber nicht, wie ich es deuten sollte.
Ehe ich noch etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen und die Kollegen betraten lachend den Raum. Ich verzog das Gesicht, die anderen waren mir einfach zu laut gewesen und deshalb hielt ich mir rasch meine Ohren zu. Ich kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, denn Michael räusperte sich lautstark, mit einigen Gesten brachte er Gerrit und Robert zum Schweigen. Warum er mir an diesem Morgen so energisch half, konnte ich beim besten Willen nicht sagen, möglicherweise konnte ich es in den nächsten Wochen herausfinden.
Erstaunlicherweise waren Gerrit und Robert auch rasch ruhig, beobachteten mich einen kurzen Augenblick. „Du siehst aber sehr mitgenommen aus, Alex. Was um alles in der Welt habt ihr gestern Abend so getrieben, du und Sarah?“, wollte Robert neugierig wissen. „Frag lieber nicht, ich weiß nur noch, dass ich heute morgen mit einem Brummschädel wach geworden bin.“, knurrte ich, ungehalten darüber, dass ich bei dem Wein nicht „Nein“ hatte sagen können. „Hast du mir Sarah reden können?“, fragte Robert plötzlich. „Ja, wir haben viel geredet, sehr viel und sehr lang.“, gab ich zu. „Wir haben dazu eine Flasche Wein ausgetrunken.“ Ich war erstaunt darüber, dass keiner der Männer darüber ein Wort verlor, sie grinsten mich jedoch nur schadenfroh an. „Ihr seid einfach zu blöd.“, stellte ich böse fest und wandte mich meinem Computer zu. Damit wollte ich zeigen, dass ich eigentlich gar nicht mehr reden wollte. Natürlich ignorierten meine Kollegen diese Tatsache einfach, etwas anderes hätte mich eigentlich gewundert.
„Was hast du jetzt vor?“, wollte Michael interessiert wissen, fragend schaute er mir in die Augen, als ich zu ihm aufblickte. Hilflos zuckte ich vorerst mit den Schultern, meine Gedanken rasten. „Ich werde nach Osnabrück fahren und mit meiner Mutter reden, denn sie hat mir das ja alles eingeredet, anstatt mir dabei zu helfen, Sarah großzuziehen.“, erwiderte ich nach langer Zeit. Bedächtig nickte Michael, ehe er antwortete: „Das ist eine gute Idee, Alex, aber lasse dir nicht allzu lange Zeit damit.“ Seine Stimme wurde bittend. Vorerst nickte ich nur, da ich im Augenblick nicht wusste, was ich ihm antworten hätte sollen. Nachdenklich schaute ich ihm in die Augen. „Werde ich auch nicht, Michael, morgen werde ich nach Osnabrück fahren und mir überlegen müssen, ob ich mich bei meiner Mutter anmelde.“, brummte ich ungehalten. Je länger ich über ihr Verhalten während der letzten vierundzwanzig Jahre nachdachte, umso zorniger und wütender wurde ich. „Es wäre sinnvoller, wenn du sofort fahren würdest. Nach deinem Blick zu urteilen, könntest du gerade jemanden in der Luft zerreißen.“, bemerkte Michael. Bestätigend nickte ich. „Stimmt.“, gab ich zu. „Aber ich befürchte, dass diese Wut verraucht sein wird, ehe ich vor meiner Mutter stehe.“ Ich seufzte kurz auf, hilflos zuckte ich mit den Schultern, als ich an das bevorstehende Gespräch mit Anette Rietz dachte. Es würde sicherlich nicht einfach werden, befürchtete ich. „Weißt du was, Kollegin, ich werde dich begleiten. In dem aufgewühlten Zustand, in dem du dich gerade befindest, ist es wohl besser, wenn dich jemand begleitet.“, meinte Michael. Ich starrte ihn ungläubig an und fragte mich, ob er sein Angebot auch ernst meinte.
Ehe ich jedoch weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Tür. Es dauerte einige Sekunden, bis sich Sarah in den Raum schob. Verunsichert schaute sie sich um, ihr Blick blieb an mir haften, schüchtern lächelte sie mir zu. „Guten Morgen …“, meinte sie zaghaft, verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen. Mit hochgezogener Braue sah Michael auf die Uhr, ehe sein Blick zu unserer Praktikantin wanderte. „Du bist zu spät dran.“, stellte er fest. Mit dem Unterton, den ich herauszuhören glaubte, konnte ich absolut nichts anfangen. Jetzt war es an mir, verunsichert zu sein. „Ich weiß …“, hörte ich Sarah sagen. „Gestern Abend ist es spät geworden.“ „Das wissen wir bereits, Sarah, Alex hat bereits von eurem gemeinsamen Abend erzählt. Wie du siehst, ist sie pünktlich gewesen.“, meinte Michael mit schiefgelegtem Kopf. Sarah lachte kurz auf. „Kein Wunder, sie ist um elf Uhr abgestürzt und hat geschlafen, ich bin noch ein wenig um die Häuser gezogen.“, erzählte sie. „Ja, ja, schon klar, aber Schwamm drüber.“, brummte Michael nur. Erleichtert atmete Sarah auf, während sie den Sprecher mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen musterte.
Ich beäugte die Männer um mich herum. Ab und zu verzog ich mein Gesicht, als mein Kopf immer wieder zu pochen begann, ärgerte mich wieder darüber, am Vortag dumm genug gewesen zu sein, viel zu viel Wein getrunken zu haben. Zum wiederholten Mal nahm ich mir vor, das in Zukunft bleiben zu lassen. Erst als Sarah mich ansprach, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Alex …?!“, begann sie das Gespräch, schwieg jedoch sofort wieder, als sie merkte, dass ich noch so weit weg war. Ein lautes Räuspern holte mich zurück in die Wirklichkeit. Irritiert schaute ich mich um. Es dauerte wenige Sekunden, bis die Sprecherin in mein Bewusstsein drang. „Bist du wieder da, Alex, ja?“, wollte Sarah belustigt wissen. „Ja, ihr habt mich wieder …“, murmelte ich, erwartungsvoll blickte ich zu unserer Praktikantin. Sarah kicherte vor sich hin, als sie in mein Gesicht gesehen hatte, etwas war darin zu sehen, dass sie so amüsierte.
Nach und nach kam ihr wieder in den Sinn, warum sie mich vor Minuten angesprochen hatte. „Sag mal, Alex, weißt du schon, was du machen möchtest? Oder hast du noch nicht darüber nachgedacht?“, wollte Sarah, neugierig geworden, wissen. Ihr Blick wurde interessiert. Besonders behutsam nickte ich, suchte jedoch nach Worten, da ich plötzlich nicht wusste, was ich antworten sollte. Aufmunternd schaute sie mir in die Augen. „Ich werde nach Osnabrück fahren und mit meiner Mutter reden.“, erwiderte ich nachdenklich. „Auch wenn ich mich vor dem Gespräch fürchte.“ Robert setzte sich am Rande meines Schreibtischen, sah mich prüfend an. „Das kann ich mir fast vorstellen, ich möchte nicht mit dir tauschen, echt.“, meinte er, sein Blick wurde mitleidig. Damit konnte ich gerade nichts anfangen. Ich seufzte laut auf, versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen und wusste im Moment absolut nicht, wie ich mich verhalten sollte. Im Augenblick fühlte ich mich so unsagbar hilflos, sodass ich unruhig auf meinem Sessel hin und her rutschte, merkte selbst, dass ich immer nervöser wurde.
„Ich komme mit, weil ich die Frau kennenlernen möchte, die dir das antun konnte.“, erklärte Sarah plötzlich fest, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Tatsache?“, erkundigte ich mich erstaunt. Sarah nickte heftig. „Außerdem ist es wohl besser, wenn dich jemand begleitet, seit gestern Abend bist du etwas durch den Wind.“, bemerkte sie und leider hatte sie recht. Mal abgesehen von meinem brummenden Kopf fühlte ich mich eigentlich nicht in der Lage, allein nur irgendwohin zu gehen, geschweige denn nach Osnabrück zu fahren. Ergeben nickte ich. „Gut …“, murmelte ich nur, schaute jedoch zweifelnd zu ihr. Noch war mir nicht ganz klar, wie ich meiner Mutter gegenüber treten sollte. Immerhin war in den letzten Stunden ein Kartenhaus über mir zusammen gebrochen und konnte aus diesem Grund meine Reaktion ihr gegenüber nicht voraussehen. Deshalb war es mir mehr als recht, wenn Sarah mit begleitete. Dass Michael auch mitkam, darauf hatte ich schon wieder vergessen.
„Weißt du was, Alex?“, fragte Sarah, legte ihren Kopf ein klein wenig schief und schaute mir neugierig in die Augen. Interessiert erwiderte ich ihren Blick und wartete gespannt darauf, dass sie endlich weiter redete. Zu meinem Leidwesen musste ich einige Sekunden darauf warten. „Wir werden gleich morgen früh weg fahren. Ich befürchte, dass du es dir sonst noch anderes überlegst.“, vermutete Sarah. Hilflos zuckte ich vorerst mit den Schultern und nickte endlich sehr zaghaft. „Wusste ich es doch …“, brummte die junge Frau. „Ich werde meine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass ich morgen Abend vorbeikommen werde. Du kommst doch mit?“ Erschrocken hielt ich kurz die Luft an, blickte mich kurz im Büro um, darauf hoffend, in den Gesichtern der anderen lesen zu können. „Wird das denn in Ordnung sein?“, erkundigte ich mich. Sarah lachte kurz auf. „Natürlich passt es ihnen. Alex, weißt du, ich möchte, dass du die Menschen kennenlernst, die mich großgezogen haben.“, erklärte sie, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Betroffen schluckte ich, damit hatte ich nun doch nicht gerechnet, war jedoch immer noch sehr verunsichert. „Wie du meinst, aber vorher werde ich noch zu mir nach Hause fahren. Du hast nämlich recht, das Gespräch mit meiner Mutter sollte ich auf keinen Fall aufschieben.“, gab ich zu. „Ich denke, dass deine Eltern nicht allzu weit von meiner Mutter entfernt wohnen.“ Ich tat mir unheimlich schwer, dieses Wort auszusprechen, gerade jetzt, da ich wusste, dass Sarah meine Tochter war. Aber ich wusste auch, dass sie mir gegenüber nicht die gleichen Gefühle entgegenbringen konnte wie der Frau, bei der sie all die Jahre über gelebt hatte. Sarah nickte langsam. „Sie wohnen in Bad Oeynhausen.“, erklärte Sarah. Aus großen Augen starrte ich sie an, mir vorschlug es kurzerhand die Sprache. „Dort bin ich doch aufgewachsen …“, flüsterte ich bestürzt. Ich schob meinen Sessel zurück, erhob mich und stürzte aus dem Büro, im Moment wusste ich mir nicht anders zu helfen. Dass ich ziemlich irritierte Kollegen zurückließ, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich bewusst.
Ziemlich orientierungslos irrte ich in München herum, mein Kopf brummte immer noch, das störte mich jetzt nicht, denn ich stellte fest, dass mir die Bewegung auch gut tat. Am Beginn meiner stundenlangen Wanderung waren meine Gedanken wie weggeblasen, statt ihnen war eine große Leere vorhanden. Nach und nach verschwand diese wieder, doch das ganze Durcheinander kam wieder zum Vorschein, meine Gedanken konnte ich noch immer nicht ordnen. Aus diesem Grund rannte ich noch immer ziel- und planlos durch die Stadt, fand mich irgendwann im Englischen Garten wieder. Ein wenig erstaunt nahm ich es zur Kenntnis, ohne genau zu wissen, wie ich eigentlich hierher gekommen war. Als ich mich ein wenig umschaute, merkte ich erst, wie müde ich bereits geworden war. Deshalb entschloss ich mich, mich auf eine der unzähligen Bänke zu setzen, mich wenige Minuten auszurasten.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als sich jemand neben mir niederließ und mich dabei unsanft anstieß. Irritiert schaute ich auf die Frau, die neben mir Platz genommen hatte. „Habe ich Sie geweckt?“, fragte die Fremde entschuldigend. „Nein, nein …“, murmelte ich entsetzt und blickte auf die Uhr. „Ich muss ohnehin los.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob ich mich und machte ich endlich wieder auf den Weg zurück ins Büro.
Ich lief bewusst einen größeren Umweg, da mir die Bewegung nach wie vor gut zu tun schien und war nach einem Blick auf die Uhr der Meinung, dass keiner mehr im Büro sein konnte. Erstaunt bemerkte ich, dass Michael und Sarah noch anwesend waren. Gerrit und Robert hatten bereits Feierabend gemacht – wie von mir nicht anders erwartet. „Was tut ihr denn noch hier, es ist ja bereits spät.“, stellte ich fest. „Ich weiß, Alex, wir wollten auf dich warten.“, erklärte Michael ernst. Am Rande bekam ich mit, dass Sarah heftig nickte. Etwas an ihm zog mich in diesen Minuten magisch an, auch wenn ich nicht wusste, was es war. Ich versank einfach im Blau seiner Augen, ließ mich durch die Anwesenheit Sarahs nicht ablenken. Erst ein lautes Räuspern riss mich in die Wirklichkeit zurück. Irritiert wandte ich mich Sarah zu, mein Blick wurde fragend.
„Michael und ich haben beschlossen, dass wir dich morgen früh abholen werden.“, erklärte sie mir übergangslos, was meine Verwirrtheit noch ein wenig verstärkte. „Du fährst mit?“, wunderte ich mich, aufmerksam musterte ich ihn. „Ja, aber das haben wir uns schon heute Nachmittag ausgemacht. Ich glaube nach wie vor, dass du in den nächsten Tagen ein wenig Unterstützung brauchen kannst.“, bemerkte er. „Und ausgerechnet du willst mir die geben?“, wunderte ich mich. „Natürlich, bisher war ich doch dein bester Freund, und wir sind doch immer füreinander durch dick und dünn gegangen. Warum sollte ich das nicht jetzt auch tun, wenn du vor einer solch grundlegenden Änderung stehst?!“, wollte Michael neugierig wissen. Für den Augenblick war ich sprachlos und wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Gedanken rasten. „Wenn du meinst.“, brachte ich nur mühsam hervor. Siegessicher grinste er auf mich herab. „Ich wusste es doch, denn dafür sind Freunde ja da.“, bemerkte er. „Dann ist ja alles geklärt.“, stellte Sarah sachlich fest. „Wir werden dich morgen gegen sieben Uhr abholen.“ „So zeitig?“, fragte ich entsetzt, hilfesuchend schaute ich zu Michael. „Natürlich, Alex, ich möchte nicht allzu spät bei deiner Mutter sein.“, erklärte sie fest. Dem hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen, also schwieg ich und gab mich geschlagen.
Tatsächlich waren sie am folgenden Morgen pünktlich, zu pünktlich für meinen Geschmack, denn ich war noch nicht ganz fertig. Als es läutete wurde ich ein klein wenig nervös und schoss für Augenblicke ziemlich planlos durch meine Wohnung, ehe ich Sarah und Michael endlich öffnete. „Da bist du ja.“, bemerkte er erfreut und nahm mir die kleine Reisetasche ab, die ich bereits in der Hand trug.
Die Fahrt nach Osnabrück verlief ruhig und problemlos, der Verkehr hielt sich in Grenzen. Einige Male hielten wir, um Kaffee zu trinken oder sogar zu Essen. Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, rief ich bei meiner Mutter an, um mich anzukündigen. Ich war erstaunt, dass mir meine kleine Lüge, ich wäre gerade in der Nähe, so glatt über die Lippen gekommen war. Ob Anette sie mir geglaubt oder mich durchschaut hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Auf alle Fälle würde sie auf mich warten.
„Ich werde in dem Gasthaus auf euch warten, das ich beim Vorbeifahren vorhin gesehen haben.“, erklärte Michael, während er einparkte. „Du kommst gar nicht mit nach oben?“, fragte ich entsetzt. „Ich halte es für besser, wenn ihr alleine besprecht, weshalb ihr hier seid. Du rufst mich einfach an, wenn du meine Hilfe benötigst.“, schlug Michael vor. Beklommen nickte ich. „Ich werde dich anrufen, wenn es eng wird.“, versprach ich nur und wandte mich schweren Herzens dem Mehrfamilienhaus zu, in dem meine Mutter lebte.
Mit den Augen suchte ich nach den wenigen Fenstern, hinter denen ich Anette wusste. An einem bemerkte ich sie, langsam hob sie eine Hand, winkte mir zaghaft zu. „Ist sie das?“, wollte Sarah neugierig wissen. Ich nickte nur und ging auf die Haustür zu, darauf hoffend, dass mir meine Begleitung auch folgen würde. Erst als ich rasche Schritte neben mir hörte, bemerkte ich die junge Frau, blickte ihr kurz in die Augen. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als Sarah meine Unsicherheit bemerkte. „Schau mich nicht so an, Alex. Es wird schon gut werden.“, machte sie mir Mut, denn je länger ich über mein Vorhaben nachdachte, umso mehr zweifelte ich daran. Aber jetzt war ich nun einmal da, nun musste ich wohl und übel durch. Ich holte tief Luft, ehe ich die Eingangstür aufstieß und schließlich die Treppe zur Wohnung meiner Mutter hinaufging, gefolgt von Sarah.
Anette erwartete uns an der Wohnungstür, zaghaft lächelte sie mir zu, als sie mich kurz gemustert hatte. „Wen bringst du mir denn da mit?“, wollte sie wissen, anstatt mich zu begrüßen. Neugierig beäugte sie Sarah, nicht wissend, was Anette von ihr halten sollte. „Ich bin Sarah Schmidtmayer.“, übernahm sie ihre Vorstellung gleich selbst. „Frau Rietz?“ Offen blickte sie meiner Mutter in die Augen. Diese nickte nur erstaunt, trat zur Seite und ließ uns endlich ein. Sie vergaß völlig darauf, uns zu begrüßen.
„Trinkt ihr Kaffee?“, fragte Anette, während sie bereits an der Kaffeemaschine hantierte. Vermutlich nahm sie an, dass Sarah ebenfalls einen trank. „Natürlich trinken wir Kaffee, Mama.“, murmelte ich, beobachtete Anette nachdenklich bei ihrer Arbeit und hatte das Gefühl, dass sie ein Gespräch bewusst hinauszögerte. Immerhin musste sie sich wundern, dass ich ohne größere Ankündigung mit Begleitung bei ihr auftauchte. Rasch schaute ich zu Sarah, merkte, dass auch sie ein wenig angespannt wirkte, am Rande nahm ich wahr, dass meine Mutter lautstark an den Kästchen hantierte. Irritiert wandte ich mich ihr zu, wieder schaute ich ihr eine Weile zu.
„Mama, setz‘ dich einfach zu uns, wir möchten mit dir reden.“, meinte ich, als es mir schließlich zu bunt geworden war, ich hielt es einfach nicht mehr aus, wollte ich doch dieses Gespräch endlich hinter mich bringen. Anette drehte sich zu uns um und musterte uns kurz, genauso, als müsste sie sich überlegen, ob sie meiner Bitte überhaupt Folge leisten sollte. Sie kam endlich betont langsam auf uns zu, nahm mir gegenüber Platz. „Also, Alex, was führt dich zu mir? Etwas bedrückt dich.“, stellte Anette fest, sah mir streng in die Augen. „Natürlich bedrückt mich etwas, Mama, deshalb bin ich ja hier.“, meinte ich und merkte, dass ich nervös wurde, viel zu nervös für dieses Gespräch, deshalb rutschte ich unruhig auf meinem Sitzplatz hin und her. Verlegen schaute ich auf die Tischplatte, es beruhigte mich jedoch nicht. Ruckartig hob ich meinen Kopf, starrte meiner Mutter in die Augen. Vorerst schwieg ich und suchte nach Worten. „Mama, du hast mir all die Jahre einige Lügen aufgetischt.“, begann ich und kam mir plötzlich ziemlich schmutzig vor. Ich fragte mich mit einem Mal, warum ich nach all der langen Zeit in den alten Geschichten herumrühren musste. Aber die Tatsache, dass ein Mensch, der eigentlich bei seiner Geburt gestorben sein sollte, als Praktikantin im K11 gearbeitet und sich als meine Tochter entpuppt hatte, hatte mich derart in Wut versetzt, dass es sogar gut war, dass Anette Rietz vor Tagen nicht in meiner Nähe gewesen war. Immerhin hatte sie mir all das in den letzten Jahren eingeredet und auch den Rest der Familie von der Richtigkeit der Geschichten überzeugen können. Je länger ich darüber nachdachte, umso zorniger wurde ich.
„Du fragst dich also, was mich bedrückt?“, fuhr ich endlich fort und nahm ein leichtes Nicken wahr. Ich fasste es als Aufforderung zum Weiterreden auf. „Du hast mir mit fünfzehn Jahren eingeredet, dass mein Kind tot zur Welt gekommen ist, auch wenn die Schwangerschaft problemlos verlaufen ist. Ich bin enttäuscht und verletzt, weil du mich damals angelogen hast, Mama.“, erklärte ich kühl. Mit Genugtuung bemerkte ich Anettes empörtes und erschrockenes Gesicht. „Du tust mir unrecht, Alex. Du weißt doch, dass ich das nie tun würde.“, brachte sie endlich hervor. „Du hast mich nicht nur belogen, sondern auch hintergangen, und wenn Sarah nicht als Praktikantin zu uns gekommen wäre, wüsste ich es bis heute nicht. Sarah weiß bereits seit Jahren, dass sie adoptiert worden war, irgendwann begann sie nach der Frau zu suchen, die sie geboren hat.“, fasste ich die Geschichte zusammen, die mir Sarah erzählt hatte. Fassungslos starrte Anette mir in die Augen, ihr Blick wanderte zu Sarah und schüttelte endlich den Kopf. Natürlich wiederholte sie, eigensinnig wie sie nun einmal war, den Satz, den sie die ganze Zeit allen gesagt hatte. „Dein Kind ist gestorben …“, brummte sie starrköpfig.
Ich holte tief Luft, da ich sie einfach nicht verstehen konnte. Ich kramte in meiner Handtasche, suchte nach dem Test, den ich mir vom Büro mitgenommen hatte. Langsam faltete ich den Zettel auseinander und schob ihn meiner Mutter hin. „Was sagst du dazu?“, fragte ich ungehalten. „Denn wenn mein Kind tot ist und ich keines mehr geboren habe, könnte es kein derartiges Ergebnis geben.“ Anette schaute schweigend auf das vor ihr liegende Blatt, ob sie überhaupt las, konnte ich beim besten Willen nicht feststellen. Deshalb wartete ich auf irgendeine Reaktion, die nicht lange auf sich warten ließ. Mit einem Anflug von Unmut schob sie das Papier in die Tischmitte und schüttelte energisch den Kopf. „Das ist alles erstunken und erlogen.“, rief sie ungehalten aus, wütend schnaubte sie. „Das alles stimmt, Frau Rietz, im Geburtenbuch ist meine Geburt, aber nicht mein Tod eingetragen.“, erklärte Sarah kühl. „Meinen Sie nicht, dass ich mich genau informiert habe, ehe ich im K11 mein Praktikum begonnen habe, denn Dank eines Freundes meiner Mutter konnte ich es in München antreten.“ Fürs Erste blickte Anette sie bestürzt an, denn sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ihr jemand widersprach.
„Unsinn.“, donnerte sie, sprang auf und begann, die inzwischen leeren Kaffeetassen in den Geschirrspüler zu räumen. Nachdem sie damit fertig war, verließ sie fast fluchtartig die Küche, nicht ohne leise vor sich hinzu schimpfen. Erst als ich das Schlagen einer Tür hörte, erwachte ich aus meiner Erstarrung.
Ich erhob mich langsam und folgte Anette. An der Tür wandte ich mich Sarah zu. „Komm …“, bat ich sie nur, ehe ich endgültig meiner Mutter folgte. Leise öffnete ich die Wohnzimmertür, blickte mich suchend um und fand sie am Fenster stehend vor. Erst als sie meine Schritte wahrnahm wandte sie den Kopf in meine Richtung. Jetzt erst sah ich, dass sie geweint hatte. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass sie mir nicht einmal leid tat, deshalb schwieg ich. Am Rande bekam ich mit, dass Sarah zwar das Zimmer betrat, sich jedoch nicht neben mich stellte, sondern sich nur gegen den Wohnzimmerschrank lehnte. Ohne einen Ton von sich zu geben, beobachtete sie uns und wartete auf eine Reaktion von uns! Doch eine Weile geschah gar nichts, alles blieb ruhig, sodass mich diese Stille schon fast zu erdrücken schien. „Geh‘ bitte.“, hörte ich meine Mutter leise sagen, ohne dass sie sich zu mir umdrehte. Ich erschrak über diese Bitte, nach kurzem Überlegen war ich sogar schockiert und entsetzt. Langsam drehte ich mich von ihr weg, ging zur Tür und gab Sarah mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie mir folgen sollte.
„Warum sind wir jetzt gegangen?“, fragte die junge Frau ein wenig erstaunt. „Wir haben doch noch nicht weiter gesprochen!“ „Ich weiß, Sarah, aber meine Mutter wollte es so. Vermutlich ist ihr bewusst geworden, dass größte Lüge ihres Lebens gerade aufgeflogen ist. In den nächsten Wochen werde ich sicherlich etwas von ihr hören.“, vermutete ich und wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich darauf noch eine sehr lange Zeit warten musste. Sarah schüttelte den Kopf, als verstand sie nicht, warum ich im Augenblick zu ruhig bleiben konnte. Sie wäre nicht sie selbst, wenn sie mich nicht darauf ansprechen würde. „Weißt du, Sarah, ich kann dir nicht beschreiben, wie es in mir aussieht, ich weiß nur, dass ich mich gut unter Kontrolle gehabt habe. Gestern wäre es sicherlich noch anders gewesen.“, gab ich zu und merkte selbst, dass mich dieses Gespräch aufzuwühlen begann. Ich atmete einige Male tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Es gelang mir nicht ganz, unbewusst begann ich, rascher die Treppe hinab zulaufen, ohne darauf zu achten, dass ich nicht alleine war. Natürlich folgte mir Sarah mit einer Leichtigkeit, die ihrem Alter entsprach.