Habe wieder einmal eine Geschichte für euch und wünsche euch viel Spaß beim Lesen.
Wie erstarrt stand meine Mutter vor mir, mit einem Gesicht, das drei Tage Regenwetter ankündigte, und ich konnte an diesem Tag absolut nicht sagen, was in ihr vorging, brachte ich es doch nicht fertig, aus ihrem Minenspiel zu lesen. Es gab Tage, da beherrschte ich das durchaus … an diesem war es jedoch nicht so. Vor wenigen Minuten hatte ich ihr erzählt, dass ich gerade von unserem Hausarzt kam, der mich jedoch zu einer Gynäkologin geschickt hatte. Und genau davor fürchtete ich mich mit meinen fünfzehn Jahren. Immerhin wusste ich damals noch nicht, was da auf mich zukommen würde.
„Was um alles in der Welt willst du denn da, Alexandra?! Du hast doch noch keinen Freund, jedenfalls hast du davon bisher noch nichts erzählt.“, stellte meine Mutter fest, mit Entsetzen in der Stimme, wie ich meinte. Langsam, kaum merkbar, schüttelte ich den Kopf. Noch wusste ich nicht, wie ich ihr erzählen sollte, dass es keinen Freund gab, mich ein Junge in diesen Tagen so absolut nicht interessierte, ja, ich mich sogar vor ihnen ekelte. Wie also sollte ich ihr erklären, wie ich zu diesem Kind gekommen war, dass in mir heranwuchs. Denn inzwischen hatte ich das dann doch herausgefunden, auch ohne mich untersuchen zu lassen. Unter den unzähligen Büchern meiner Eltern hatte ich mich über diese Themen eingehend darüber informiert, als ich an einigen Nachmittagen mal kurze Momente alleine in der Wohnung gewesen war.
Unruhig lief meine Mutter vor mir auf und ab, immer wieder den Kopf schüttelnd. Ziemlich verängstigt folgte ich ihr mit den Augen, noch immer nicht wissend, was ich überhaupt sagen sollte, an diesem Nachmittag war ich noch mehr eingeschüchtert als ich es sonst schon war. In diesen Minuten konnte ich meine Mutter einfach nicht einschätzen. Die sonst so gütige und liebevolle Frau hatte sich rascher gewandelt als ich Luft holen konnte, und jetzt wusste ich noch weniger, wie ich ihr von den Ereignissen erzählen sollte, die ich in den letzten Monaten und Jahren durchlaufen hatte. Plötzlich erhielt ich von einer Seite Hilfe, von der ich es am allerwenigsten erwartet hätte.
„Mama, lass sie doch … sie wird schon wissen, was sie möchte. Immerhin ist sie schon fünfzehn!“, rief meine Schwester Michaela, Ela genannt, lautstark aus. Ihr schien dieses Gespräch ziemlich an die Nerven zu gehen, stellte ich bei mir fest und schüttelte nur leicht den Kopf, denn es wäre mir weitaus lieber gewesen, wenn sich Ela in diese Unterhaltung nicht eingemischt hätte. An der Reaktion unserer Mutter bemerkte ich, dass sie genau das auch gestört hatte, denn sie fuhr herum und starrte die lässig an einem Küchenkästchen lehnende Ela kurz schweigend an. „Das wage ich zu bezweifeln. Wenn ich mir Alex so ansehe, kann ich mir das nicht vorstellen … Es wäre mir lieber, wenn du uns alleine lassen würdest.“, erwiderte Anette mit einer Strenge, die ich bisher noch nicht an ihr gekannt hatte. Ich sah meiner Schwester an, dass diese Antwort nicht unbedingt ihren Geschmack getroffen hatte, sie fügte sich dann doch widerspruchslos, was mich ziemlich erstaunte. Denn Ela meinte zu wissen, was in mir vorgehen musste. Ehe sie den Raum verließ, fixierte sie mich kurz und verschwand dann rascher, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich war doch erleichtert, bemerkte ich, wollte ich nicht, dass meine Schwester das zu hören bekam, was mir schon seit Monaten auf dem Herzen lag. Bisher hatte ich jedoch noch nicht den Mut gehabt, mich jemandem anzuvertrauen. Aber auch jetzt war ich mir nicht ganz sicher, ob ich es jetz tun sollte, obwohl … bisher hatte ich zu meiner Mutter ein ganz besonders gutes Verhältnis gehabt. Warum ich mich an diesem Nachmittag so sehr zierte, weiß ich bis heute nicht.
Endlich hatte ich mich entschlossen, ihr die unangenehmen Erlebnisse der letzten Zeit zu erzählen, wurde jedoch wieder abgelenkt. Langsam öffnete sich die Tür und mein Vater schob sich in den Raum. Ich seufzte auf, da ich absolut keine Lust hatte, in seinem Beisein meine Geschichte zu berichten. Doch ich wollte ihn einfach nicht aus dem Raum schicken, etwas hinderte mich daran – was, konnte ich Sekunden später nicht mehr sagen. Jürgen setzte sich neben mich, legte seinen Arm um meine Schultern und schaute mir liebevoll in die Augen. „Na, meine kleine Prinzessin, was geht in dir heute vor?! Du machst so ein traurigen Eindruck.“, meinte er betroffen, nachdem er mich kurz beobachtet hatte. Erschrocken erwiderte ich seinen Blick. Sah man mir meine Qual tatsächlich an?, fragte ich mich verunsichert, beantworten konnte ich mir meine Frage jedoch nicht. Ich senkte meine Augen, aus Angst, dass er meine Gedanken und Gefühle daraus sofort erkennen konnte. „Jürgen, du lenkst Alex wieder einmal völlig ab. Ich versuche schon seit einer ganzen Weile, sie zum Sprechen zu bringen, aber du weißt ja, wie stur sie sein kann.“, mischte sich Anette ein. Ich sah, wie mein Vater langsam den Kopf schüttelte. „Sie ist verängstigt, nicht stur. In den letzten Wochen ist mir das schon aufgefallen, bin aber noch nicht dahinter gekommen, warum sie es ist.“, meinte Jürgen ernst, aufmunternd schmunzelte er Sekunden später auf mich herab. Meine Mutter lachte kurz, aber freudlos auf. „Natürlich ist das so, du hattest ja für die Mädchen in den letzten Wochen nie Zeit.“, stellte sie ungehalten fest. Unwillig tat er die Bemerkung meiner Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Aber und zu sollte ich auch arbeiten, meine Liebe, und das weißt du auch. Immerhin sollen unsere Mädchen eine gute Ausbildung bekommen, und die kostet nun mal eine Stange Geld.“, stellte er endlich ungehalten fest.
Mit einem besorgten Blick wandte er sich wieder mir zu, liebevoll schaute er mir in die Augen, beruhigend strich er mir über das Haar, auch wenn er wusste, dass ich das sonst hasste. Warum ich an diesem Nachtmittag nicht hysterisch ausflippte, konnte ich im Nachhinein nicht mehr sagen. „Also, jetzt rede mal Klartext …“, bat mein Vater. „Was hat denn meine kleine Prinzessin auf dem Herzen?“ Sein Blick wurde fragend. „Ich soll zu einem Frauenarzt …“, sagte ich ohne Umschweife, wenn auch ziemlich verlegen. Immerhin wusste ich nicht wirklich, was nun auf mich zukommen würde. „Na, dann lass uns mal fahren. Du hast doch vermutlich einen Termin …“, hoffte Jürgen. Langsam schüttelte Alex den Kopf, verzweifelt schaute sie ihrem Vater in die Augen. „Lass uns trotzdem fahren, kleine Prinzessin. Ich möchte doch wissen, was mit dir los ist.“, fuhr er fort. „Außerdem interessiert mich, warum deine Mutter so außer Rand und Band ist.“
Anette baute sich vor ihm auf. „Fragst du das jetzt im Ernst. Sieh sie dir doch an, Jürgen!“, forderte sie ungehalten auf. „Etwas stimmt nicht mit ihr … warum will sie plötzlich zu einem Frauenarzt, sie hat doch gar keinen Freund.“ Je länger sie sprach, umso schriller wurde ihre Stimme. Mit Entsetzen nahm ich das zur Kenntnis und stellte fest, dass mir die sonst so ruhige, besonnene Frau in diesem Moment ausgesprochen fremd war. Ich merkte selbst, wie ich meinen Kopf zwischen die Schultern zog und mich kleiner machte, als ich es ohnehin schon war. „Und gerade deswegen sollten wir herausfinden, was es mit ihren Veränderungen auf sich hat. Je länger du hier herumbrüllst, umso verängstigter wird Alex.“, bemerkte Jürgen, und im Stillen gab ich ihm sogar recht, denn je länger meine Mutter herumschrie, umso mehr fürchtete ich mich. „Komm mit, Mädchen, ich will das jetzt genau wissen. Auf dem Weg in die Stadt kannst du mir erzählen, was du auf dem Herzen hast.“, schlug Jürgen vor. Beklommen nickte ich, merkte, dass Anette tief Luft holte und antworten wollte, durch Vater irgendwie daran gehindert wurde. Er nahm meine Hand, zog mich einfach hinter sich ins Freie.
Tatsächlich schnatterte ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten viel zu viel. Ich erzählte Jürgen Dinge, von denen ich nie hatte reden wollen und merkte nicht, dass er über meine Geschichte so entsetzt war, dass er nichts darauf erwidern konnte oder wollte. Ich wunderte mich zwar, dass wir in die nächste Stadt, in der unsere Ärzte ihre Praxis hatten, so lange brauchten. Erst Jahre später erfuhr ich, dass Jürgen absichtlich einen großen Umweg gefahren war, um mir die Möglichkeit zum Sprechen zu geben. Im Nachhinein war ich ihm sogar dankbar dafür, mir einfach nur zugehört zu haben.
An die folgenden Stunden konnte ich mich nur vage erinnern, wusste nur mehr, dass ich mit Entsetzen die Diagnose meiner Ärztin gehört und mich geweigert hatte, sie zu akzeptieren. Mit anderen Worten, ich wurde so hysterisch, dass mein Gegenüber meinen Vater in den Untersuchungsraum bat und auch ihm über die Ergebnisse aufklärte. An seiner Fassungslosigkeit konnte ich erkennen, dass auch er mit dem Gehörten noch nicht umgehen konnte. Eine kurze Zeit starrte er schweigend auf die Ärztin, gerade so, als würde er an ihren Auskünften zweifeln. Erst als sie langsam nickte, um ihre Ausführungen zu bestätigen, akzeptierte er diese, und ich konnte sehen, wie er zusehends verfiel. Langsam wandte er sich mir zu, sein Blick wurde fragend. Er schien noch immer nicht zu wissen, wie es dazu kommen konnte, wie ich überhaupt schwanger werden konnte, ohne dass ich einen Freund hatte, auch wenn ich ihm während der Autofahrt das Herz ausgeschüttet hatte. Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass er meine Geschichte noch nicht ganz verarbeitet hatte. „Papa, wir haben doch während der Fahrt darüber gesprochen. Hast du überhaupt nichts mitbekommen?“, wollte ich erschüttert wissen. Fassungslos blickte ich zu ihm auf, merkte, wie sich die ersten Tränen ihren Weg über meine Wangen fanden. Das war das letzte, was ich wollte. Es war jedoch nicht aufzuhalten. Ich spürte die ganze Hilflosigkeit, die ich in diesem Augenblick empfand und wünschte mir nichts sehnlicher als jemanden, an den ich mich anlehnen konnte, der mich vor der Schlechtigkeit dieser Welt beschützte. In der frühesten Kindheit war das mein Vater gewesen, im Laufe der Jahre hatte sich das gründlich geändert …
Während der Heimfahrt waren wir an diesem Nachmittag besonders schweigsam, auch wenn wir sonst immer was zu reden hatten. Wir wussten beide, was meine Schwangerschaft bedeutete, und keiner von uns beiden wollte das Thema aufgreifen, zu sehr waren noch immer von dem Gehörten erschüttert, so sehr, dass wir noch nicht darüber konnten oder wollten. Heute weiß ich das nicht mehr. Erst als wir vor meiner Mutter standen, wurde ihm bewusst, was er gehört hatte. Nach und nach wiederholte er meine Worte, je länger er redete, umso entsetzter wurde er. Am Gesicht meiner Mutter erkannte ich, dass auch sie betroffener war, als ich vorerst gedacht hatte. Ich konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, warum ich von vornherein angenommen hatte, dass sie mir nicht glauben würde. Hastig drehte sie sich um, rannte einfach aus dem Raum, indem wir inzwischen auf dem Sofa Platz genommen hatten, die Tür hinter sich zuschlagend. Erschrocken zog ich meinen Kopf zwischen die Schultern, schaute ängstlich zu meinem Vater auf. Jürgen legte tröstend den Arm um meine Schultern und zog mich einfach zu sich. „Wir werden das schon hinbekommen, meine kleine Prinzessin, das verspreche ich dir. Gemeinsam sind wir doch stark.“, stellte er fest, doch davon war ich nicht so wirklich überzeugt. Ich konnte zwar damals nicht sagen, warum ich dieser Meinung war, Monate später wurde das zur grausamen Wahrheit.
Meine ungewollte Schwangerschaft verlief so unspektakulär wie mein Leben. Meine Schwester behandelte mich wie eine Aussätzige, ohne dass ich wusste, warum sie das tat. Ich verstehe das bis heute nicht, Ela wollte es mir einfach nicht erklären. Für sie war es eine Tatsache, dass ich den Typen, der der Vater meines Kindes war, einfach verführt hatte, sie ließ sich davon nicht abbringen, und ich konnte keinem sagen, wie enttäuscht ich von meiner großen Schwester war, denn bis zu diesem Zeitpunkt war ich nämlich der Meinung gewesen, dass wir uns äußerst gut verstanden. Wie man sich täuschen konnte.
Sie interessierte sich auch nicht dafür, dass ich einige Male zur Polizei musste, um unzählige Fragen über mich ergehen zu lassen und hatte das vage Gefühl, dass dabei absolut nichts herauskommen würde. Wochen oder Monate später wurden meine Befürchtungen bestätigt. Es geschah gar nichts, der sogenannte Freund des Hauses ging bei uns immerzu ein und aus, zog mich mit Blicken fortwährend aus. Mein inzwischen riesengroßer Bauch schien ihn dabei nicht zu stören. Ich konnte keinem sagen, wie mir davor ekelte. Als ich meinem Vater wieder einmal davon erzählte, schüttelte er wie schon so oft, den Kopf. Natürlich geschah nicht das, was ich mir gewünscht hätte. Deshalb zog ich mich immer mehr zurück, auch wenn ich die eine oder andere Mahlzeit mit meiner Familie einnahm, ich wurde dennoch verschlossener als es meinen Eltern recht gewesen wäre. Trotz unzähliger Versuche kam meine Mutter in diesen Wochen nicht an mich heran, heute weiß ich nicht mehr, warum das damals so war, obwohl … ihre Nähe beruhigte mich zu jener Zeit schon ungemein. Mit meinen fünfzehn Jahren hatte ich bereits beschlossen, mich zur Polizistin ausbilden zu lassen, zu sehr ging es mir gegen den Strich, dass nichts geschah, obwohl ich schon seit meiner frühesten Kindheit von diesem Mann, den ich sogar Onkel nannte, sexuell belästigt und sogar geschwängert worden war. Jeder hatte weggesehen, niemand war bereit gewesen, mir zu helfen. Und ich zog mich immer mehr in mich zurück, vertraute mich niemandem an. Man merkte mir zwar an, dass ich mich anders verhielt, als man es von mir gewohnt war, es unternahm jedoch niemand etwas – nicht einmal die Lehrer in der Schule, auch wenn einige davon in mich gedrungen waren, um die wahre Geschichte herauszufinden. Ich schämte mich, meine Machtlosigkeit irgendwie zugeben zu müssen. Dass ich für diese Schwächen nichts dafür konnte, wurde mir damals nicht bewusst. Trotz meiner Hilflosigkeit freute ich mich immer mehr über mein Kind, das in meinem Bauch heranwuchs, gewann es jetzt schon lieb, auch wenn es noch wenige Wochen dauern würde, bis ich es zum ersten Mal in Händen halten konnte. Ich begriff damals jedoch nicht, warum niemand für dieses Kind etwas besorgte, mein Drängen wurde einfach ignoriert oder es wurden Ausflüchte gebraucht, von denen ich wusste, dass sie nicht stimmten.
Der Tag, an dem ich mein Baby bekommen sollte, kam rascher, als ich mir gedacht und gewünscht hatte. Die erste Wehe überraschte mich, als ich auf der Koppel bei den unzähligen Pferden herumlief, auf ihnen zu reiten, fehlte mir seit dem Zeitpunkt, ab dem ich wusste, dass ich ein Kind erwartete. Da ich nicht sofort wusste, was ich tun sollte, blieb ich eine Weile unschlüssig stehen, beobachtete die Welt um mich herum verträumt. Irgendwann kam ich mir der Gedanke, dass ich zurück zum Haus gehen sollte. Daher lief ich so schnell es mein Zustand noch erlaubte zu meinem Vater. Er betrachtete mich einige Sekunden ziemlich irritiert von oben bis unten, da ich ihn bei einer für ihn dringenden Arbeit unterbrochen hatte. Erst als sich mein Gesicht vor Schmerz zusammenzog, erwachte er aus seiner Erstarrung. „Komm mit …“, bat er mich hastig, nahm mich an der Hand und zog mich mit sich zum Auto. Auf dem Weg dort hin begegnete uns meine Mutter. Irritiert beobachtete sie, wie Jürgen mich besonders vorsichtig in den Wagen setzte, meine kleine Reisetasche auf die Rückbank legte und schließlich um das Fahrzeug herumging, um ebenfalls einzusteigen. Endlich schien Anette aufzuwachen, aufgeregt kam sie auf uns zu und hinderte ihren Mann am Schließen der Autotür. „Wo wollt ihr denn hin?“, fragte sie aufgeregt, ihr Blick wanderte zwischen mir und meinem Vater hin und her. „Halte uns jetzt nicht auf, Anette, das Baby kommt …!“, erwiderte er ziemlich genervt, während der bereits startete. „Ich komme mit …“, rief meinte Mutter nur, lief um das Auto herum.
Ich merkte sehr wohl, dass sie aufgewühlter war als ich selbst, und ich musste zugeben, dass mich das schon wunderte. Anette war mir in den letzten Monaten zwar eine große Stütze gewesen, aber so wirklich hatte sie sich nicht darüber gefreut, dass ich sie zur Großmutter machen würde. Während der Fahrt ins Krankenhaus plapperte sie aufgeregt vor sich hin, sodass sie rascher vorbei ging, als ich es in Erinnerung hatte. Kaum waren wir bei unserem Ziel angelangt, ging alles schneller als ich es mir gedacht hatte. Ich wurde so rasch auf die Geburtenstation geschoben, dass meine Eltern Mühe hatten, mir zu folgen, und ließ alle Untersuchen mit einer Geduld über mich ergehen, die mich selbst erstaunte. Denn bisher waren mir diese Dinge immer gegen den Strich gegangen, und plötzlich ging alles rascher, als mir lieb war.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich tatsächlich im Kreißsaal gelegen hatte, als ich wach wurde, ruhte ich in meinem Bett und wusste nicht wirklich, was um mich herum geschah. Ziemlich benommen lag ich da, starrte eine Weile um mich und begriff vorerst gar nichts. Dass ich einem ganz normalen Zimmer lag, bekam ich erst gar nicht mit, zu sehr war ich noch benommen und schläfrig. Es störte mich nur, dass ich mich vollkommen alleine im Raum befand, nur ab und zu schaute eine Krankenschwester vorbei, um nach meinem Zustand zu sehen. Es wunderte mich nur, dass ich bisher mein Kind noch immer nicht gesehen hatte und nicht einmal wusste, was ich geboren hatte. Langsam und vorsichtig schob ich meine Beine aus dem Bett, verzog schmerzhaft mein Gesicht. Behutsam legte ich meine Arme um meinen Körper, der Schmerz breitete sich im ganzen Bauchraum aus. „Mist …“, murmelte ich vor mich hin, legte mich wieder zurück auf mein Bett. Noch realisierte ich nicht, was in den letzten Stunden mit mir geschehen war, und niemand war da, der es mir erklären konnte. Ich wusste nicht zu sagen, wie sehr ich mich in diesem Augenblick nach meinen Eltern sehnte, fragte mich zum wiederholten Mal, wo sie an diesem Tag wohl abgeblieben waren. Über diese Frage grübelte ich solange nach, bis ich darüber wieder einschlief, zu sehr hatte mich die Geburt mitgenommen, vor allem deswegen, weil mein Kind nicht auf natürlichem Weg zur Welt gekommen war.
Wie lange ich tatsächlich geschlafen hatte, konnte ich im Nachhinein nicht mehr sagen, als ich jedoch wach wurde, saß meine Mutter an meinem Bett. Erschrocken nahm ich ihr ernstes, aber auch trauriges Gesicht wahr und wusste vorerst nicht, wie ich die Situation einschätzen sollte. Anette saß lange Zeit stumm da, starrte mich nur an und schien nicht zu wissen, wie sie ein Gespräch beginnen sollte. „Mama, was ist denn los? Etwas liegt doch in der Luft.“, stellte ich fest. Immerhin kannte ich meine Mutter so gut, dass ich in ihrem Gesicht lesen konnte. Deshalb merkte ich auch, dass irgendetwas in ihrem Kopf vorgehen musste, noch wusste ich nicht, was es genau war. Daher nahm ich mir vor, es auch so rasch wie nur irgend möglich herausfinden zu wollen. Anette nickte vorerst nur, noch überlegte sie fieberhaft, wie sie mir das erzählen sollte, was ihr auf dem Herzen lag. Kurz seufzte sie auf, ehe sie leise zu sprechen begann: „Weißt du, Alex, es fällt mir nicht leicht, dir das sagen zu müssen. Dass du dein Kind durch Kaiserschnitt bekommen hast, weißt du ja, und es geht dir soweit ganz gut. Bei deinem Kind ist das leider nicht so.“ Betroffen schwieg sie, was mir Unbehagen verursachte, ihr trauriger Blick macht mir unheimlich Angst.
„Dein Baby …“, begann Anette und verstummte sofort wieder, als sie mir in die Augen geschaut hatte. Etwas musste sie darin entdeckt habe, das sie zum Schweigen gebracht hatte. „Was ist damit?“, fragte ich, Entsetzen machte sich in mir breit. Mit eingezogenem Kopf wartete ich darauf, dass meine Mutter endlich weitersprach, meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich begann sie leise zu reden: „Weißt du, Alex, das kleine Mädchen hat die Geburt nicht überlebt, es war einfach zu schwach.“ Bei diesen Worten konnte sie mir nicht in die Augen schauen, sie hatte den Kopf gesenkt. Erschrocken hielt ich die Luft an und starrte sie vorerst schweigend an, nicht wissend, wie ich mich richtig verhalten sollte. Im ersten Moment war ich zu geschockt, um überhaupt reagieren zu können. Zu sehr hatte mich das Gehörte aufgewirbelt. Ohne daran zu denken, dass ich vor wenigen Stunden erst eine Operation hatte, setzte ich mich ruckartig auf und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht ruhig sitzen, ließ einen kleinen Schrei hören. Aus großen Augen starrte sie mich an … schweigend! „Mama, das ist jetzt nicht wahr, was du da sagst, nicht wahr?“ fragte ich heiser, hielt ihren Blick gefangen, als sie ihren wieder abwenden wollte. „Doch, es stimmt schon.“, murmelte Anette vor sich hin. Etwas an ihrem Tonfall konnte ich nicht zuordnen, blieb für mich so etwas wie ein Rätsel, das ich lange nicht würde lösen können oder sogar wollte. In diesem Augenblick wunderte ich mich nur, dass mein Vater nicht mitgekommen war. Je länger ich über seine Abwesenheit nachdachte, umso gekränkter war ich, immerhin hatten wir ein ausgesprochen gutes Verhältnis zueinander.
Ich sank in ein ausgesprochen tiefes Loch, schrie und tobte, als ich von dem Tod meines Kindes hörte, denn trotz meiner Jugend hatte ich mich darauf unheimlich gefreut. Über die Entstehung dieses kleinen Wesens wollte ich einfach nicht mehr nachdenken, verdrängte es einfach, doch im Stillen wusste ich, dass ich an dem Geschehenen noch eine ganze Weile knabbern und es vermutlich noch eine lange Zeit dauern würde, um es auch tatsächlich zu verarbeiten.
Mit großem Interesse und noch größerem Entsetzen las ich über die unzähligen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die von allen Zeitungen und den anderen Medien breitgetreten wurden. Oft genug steigerte ich mich in den unzähligen Gesprächen und Diskussionen hinein, die ich im Kommissariat mit meinen Kollegen führte. Inzwischen arbeitete ich in München bei der Polizei, zu sehr hatte mich in Osnabrück alles an meine Jugend und dem eigenen Missbrauch erinnert, von der Ohnmacht der damaligen Polizeibeamten, die den Fall bearbeiteten, wollte ich erst gar nicht reden. Auf alle Fälle wurde der Freund meiner Eltern, der mir das damals angetan hatte und mein Leben damit fast zerstört hatte, bis heute nicht zur Verantwortung gezogen. Meine Erfahrungen waren daher mit ein Grund dafür gewesen, dass ich den Beruf einer Polizistin gewählt hatte, und ich war nach wie vor mit großem Eifer dabei, auch wenn ich manches Mal gegen Windmühlen ankämpfte.
Während ich zum wiederholten Male über die Geschichten der Menschen las, die sich in ihrer Kindheit abgespielt hatte, fiel mir wieder ein, dass mein eigenes Erlebnis nicht ohne Folge geblieben war. Wie so oft in den letzten Jahren überlegte ich mir, was gewesen wäre, wenn ich dieses Kind mit Hilfe meiner Eltern großgezogen hätte. Natürlich kam ich nicht wirklich zu einem Ergebnis. Gequält seufzte ich auf, so als ob ich meine trüben Gedanken abschütteln würde wollen. Am Rande merkte ich nur, dass Michael seinen Kopf zu mir drehte und mich zu mustern begann. Er tat es so ausgiebig, dass ich mich ihm zu wandte, denn irgendwann spürte ich nämlich seinen Blick auf mir ruhen. „Was ist mit dir los? Du bist schon seit deinem Kommen mit den Gedanken ganz woanders.“, hörte ich ihn sagen. Wie recht er doch hatte...
„Beim Blättern in dieser Tageszeitung hier bin ich wieder über diese Missbrauchsfälle gefallen. Es stößt mir zwar sauer auf, dass solche Dinge geschehen, aber noch mehr stört es mich, dass es die Medien dermaßen ausschlachten und trotzdem nichts geschieht.“, regte ich mich auf, sprang auf und begann aufgeregt im Raum hin und her zu laufen, ohne zu bemerken, dass mich Michael mit großen Augen schweigend beobachtete. Immer wenn ich über dieses Thema nachdachte, rastete ich beinah aus, zu sehr erinnerte es mich an meine eigenen Erlebnisse, die sich vor beinahe fünfundzwanzig Jahren ereignet hatten. Deshalb reagierte ich darauf so empfindlich, wenn ich davon hörte oder las. Meine Kollegen oder Freunde wussten nichts davon, es wurde in der Familie einfach totgeschwiegen, doch ich konnte es einfach nicht vergessen oder verdrängen. Denn jedes Jahr am Tag der Geburt rissen die alten Wunden wieder auf, dass dieses Kind tot sein sollte, ignorierte ich einfach, auch wenn ich es bisher noch nicht entdecken hatte können, trotz aller Bemühungen.
Natürlich drifteten meine Gedanken während meiner Wanderung durchs Büro wieder ab, sodass ich wieder auf meine Umgebung vergaß. Deshalb stieß ich gegen Gerrit, der mit Robert gerade das Büro betrat. „Entschuldige …“, murmelte ich nur und trat zur Seite, um ihn an mir vorbei zu lassen. „Keine Ursache, aber komme einfach damit wieder auf die Erde zurück.“, meinte Gerrit, während er sich mit einem Finger gegen meine Stirn tippte. Irritiert schaute ich zu ihm auf, nickte endlich langsam und bedächtig. „Schon gut, Gerrit, ich habe gerade wieder die Zeitungen gelesen und mich wieder über einige Artikel maßlos geärgert.“, gab ich zu und wandte mich um, um zu meinem Schreibtisch zurück zu kehren. Verärgert fegte ich den Stapel Zeitschriften vom Tisch, zu sehr hatte ich mich dadurch aus dem Konzept bringen lassen.
Ich war mir bewusst, dass mich meine Männer – wie ich meine Kollegen im Stillen nannte – musterten, beachtete es gar nicht und begann endlich, die liegen gebliebene Arbeit aufzuarbeiten, die ich in den letzten Tagen nicht mehr geschafft hatte. Ich hörte nur, wie jemand neben mir in die Hocke ging und begann, die auseinander gefallenen Zeitungen einzusammeln. Etwas aus meiner Konzentration gerissen, beobachtete ich Gerrit bei seiner Arbeit. „Ich werde ein wenig darin lesen, vielleicht finde ich heraus, was dich so aus der Fassung bringt.“, meinte Gerrit, als er merkte, dass ich ihm zusah. „Ach, bevor ich vergesse …! Uns wurde eine Praktikantin zugeteilt.“ Ich starrte ihn kurz aus großen Augen an, ehe ich zu Michael hinüber schaute. „Hast du davon gewusst?“ wollte ich wissen. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her. „Gewusst nicht, aber ich habe schon davon gehört.“, gab er zu. „Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass dieses Gerücht einmal stimmen könnte.“ „Ausnahmsweise stimmt eines davon.“, rief Michael ziemlich aufgekratzt und rieb sich erfreut die Hände. Es schien ihm ausgesprochen gut zu gefallen, dass wir für kurze Zeit Verstärkung bekamen, und wenn es dann auch noch eine junge Frau war, war für ihn die Welt auch schon wieder in Ordnung. Natürlich sprach ich ihn darauf an. Ziemlich verlegen wand er sich, es war ziemlich offensichtlich, dass ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Ich konnte mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, und ich musste zugeben, dass es mir ausgesprochen gut tat, von den Kollegen abgelenkt zu werden. Immerhin hatte ich mich wieder in einem Sog hineinziehen lassen, aus dem ich sehr oft schwer wieder herauskam. Zu sehr bewegte mich noch immer meine Jugend, auch wenn sie schon ewig her war.
Für meine drei Kollegen gab es in den nächsten Stunden kein anderes Thema mehr, als die junge Praktikantin, die uns in wenigen Tagen unterstützen sollte. Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln, ab und zu lachte ich sogar hell auf. „Was ist mit dir, Alex, du bist heute so viel fröhlicher als sonst.“, stellte Gerrit plötzlich fest, nachdem er mich kurze Zeit intensiv beobachtet hatte. Ich zuckte vorerst nur mit den Schultern, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. „Wahrscheinlich hat mir eure Unterhaltung so gut gefallen, manches Mal könnt ihr richtige Clowns sein.“, bemerkte ich mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. „Wir sind also Clowns, Alex? Das stimmt doch so gar nicht.“, rief Gerrit entrüstet aus. Bedächtig nickte ich, tat seine Antwort mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Ich hatte absolut keine Lust mehr, darauf einzugehen. Aber durch dieses Gespräch wurde ich dann doch ziemlich neugierig auf unsere Praktikantin, auch wenn ich jetzt schon wusste, wie meine drei Männer um die junge Frau herumscharwenzeln würden und konnte mir ein leichtes Lächeln deshalb nicht verkneifen. Auch wenn ich vor wenigen Minuten noch ziemlich niedergeschlagen war, so hatte es sich vor kurzem schlagartig geändert. Im Stillen musste ich mir eingestehen, dass ich ebenfalls immer neugieriger auf diese junge Frau wurde.
Natürlich verging die Zeit bis zu ihrem Erscheinen viel zu rasch, Gerrit und Michael konnten vor lauter Aufregung schon nicht mehr ruhig sitzen, aufgeregt liefen sie im Büro auf und ab. Nur Robert lehnte an einem der Kästchen, beobachtete das Geschehen im Raum mit einem leichten Kopfschütteln. „Ihr seid Spinner … echt.“, stellte er fest. „Aber ihr könnt euch wieder beruhigen. Es ist doch nur eine Praktikantin wie jede andere auch, und davon gab es doch hier schon mehr als genug.“ Heftig nickte ich, da der junge Kollege durchaus recht hatte. Diese junge Frau würde wenige Monate hier arbeiten und dann auch wieder verschwinden, sie würde dann einfach Geschichte sein, wie viele andere Praktikanten auch. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je mit ihnen länger als einen Monat in Kontakt geblieben zu sein, und so würde es auch hier sein.
Es klopfte leise, beinahe schon zaghaft. Da ich in meiner Arbeit vertieft war, schrak ich hoch, blickte erwartungsvoll in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. „Ja, bitte …“, hörte ich mich sagen. In meinen Ohren klang es viel zu laut, da es im Augenblick auf alle Fälle zu ruhig im Büro war. Die Kollegen waren gerade außer Haus unterwegs. Besonders langsam und beinahe schon vorsichtig öffnete sich die Tür. Ein blonder Frauenkopf wurde durch den entstandenen Spalt gesteckt. Tiefgrüne Augen blickten mich fragend an. „Bin ich hier richtig …“, begann eine ruhige, schon fast leise Stimme und unterbrach sich auch gleich selbst, da ich mich inzwischen erhoben hatte und auf sie zuging. Ich lächelte leicht vor mich hin. „Es kommt ganz darauf an, wohin Sie wollen.“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Auch die junge Frau, die nun endgültig den Raum betreten hatte, lächelte mich an, ein äußerst gewinnendes Lächeln, wie ich zu meinen glaubte. „Ich mache ein Praktikum im K11.“, erklärte sie mir ernst. „Ich soll mich bei Herrn Naseband melden.“ Bedauernd verzog ich mein Gesicht. „Mein Kollege ist zur Zeit leider unterwegs, aber Sie sind hier schon richtig im K11.“, antwortete ich und streckte ihr zur Begrüßung meine Hand entgegen. „Mein Name ist Rietz, und ich heiße Sie hier im K11 herzlich willkommen.“ „Danke, Frau Rietz, ich bin Sarah Schmidtmayer, nennen Sie mich einfach nur Sarah, das tun nämlich alle.“, stellte Sarah fest, verschmitzt grinsend schaute sie mir in die Augen und hielt meinen Blick ohne weiteres stand. Das gefiel mir!
Bestätigend nickte ich. „Ich bin Alexandra, aber alle nennen mich nur Alex.“, meinte ich nur, die junge Frau begann mir zu gefallen. „Gerne …“, murmelte sie nur, schüttelte kräftig die dargebotene Hand. Erst jetzt stellte ich mit Entsetzen fest, dass ich mich nicht wirklich mit ihrem Kommen auseinander gesetzt hatte, denn das hatte ich einfach nur Michael überlassen. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellte. Also begann ich in meinem Gedächtnis zu kramen, um herauszufinden, wie ich mich den anderen Praktikanten gegenüber verhalten hatte, die bisher bei uns begonnen hatten. Viel kam daher jedoch nicht heraus, stellte ich mit einem Anflug von Bestürzung fest, deshalb beschloss ich einfach, mit Sarah so umzugehen, als würde sie eines Tages bei uns zu arbeiten beginnen.
Und damit kam ich eigentlich ganz gut zurecht, bemerkte ich erfreut und verhielt mich inzwischen schon viel gelöster, als noch zu Beginn unseres Gespräches. Ich musste mir eingestehen, dass Sarah es mir auch leicht machte, sie schaffte es spielend, meine anfängliche Unsicherheit mit einer Leichtigkeit zu vertreiben. Trotzdem war ich froh darüber, als Gerrit und Michael endlich im Büro auftauchten, erleichtert atmete ich auf, so gerne hatte ich die Zwei schon lange nicht mehr gesehen, auch wenn ich mit der jungen Praktikantin inzwischen schon recht gut klar kam.
„Wen haben wir denn da?“, fragte Michael neugierig und musterte Sarah eingehend von oben bis unten. Anerkennend und wohlgefällig nickte er, es schien ihm zu gefallen, was er zu sehen bekam. Ehe auch Gerrit noch irgendeine unnötige Bemerkung fallen lassen konnte, übernahm ich es, die drei miteinander bekannt zu machen, nahm Michael so den Wind aus den Segeln. Immerhin kannte ich ihn schon eine ganze Weile und wusste, wie er tickte, wenn er junge, besonders hübsche junge Frauen sah, auch wenn sie im Augenblick nicht sein Typ sein mochten. Doch ganz schaffte ich es nicht, ihn von Sarah abzulenken. Er war einfach zu fasziniert von ihr, doch ich tat es als kurzes Strohfeuer ab … vorerst, immerhin kannte ich ihn schon einige Jährchen, in denen sich so etwas wie Freundschaft entwickelt hatte, die sich ständig vertiefte, je länger wir miteinander zu tun hatten.
Wie selbstverständlich übernahm Michael, Sarah weiter ein zu schulen. Er zeigte ihr Sachen, die ich ihr nicht unbedingt gezeigt hätte. Schließlich war sie nur eine Praktikantin, die in wenigen Wochen wieder weg sein würde. Warum, um alles in der Welt, tat er sich diese Arbeit überhaupt an?, fragte ich mich. Entsetzt nahm ich zur Kenntnis, dass ich an mir so etwas wie Eifersucht feststellte, auch wenn es grundlos war. Michael und mich verband doch nur Freundschaft. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, da ich mir Dinge einredete, die einfach nicht sein durften oder sollten …
Im Verborgenen beobachtete ich Sarah, konnte jedoch nicht sagen, warum ich das tat. Eines war mir jetzt schon klar, diese junge Frau interessierte mich seit dem Beginn ihrer Arbeit hier. Sie erinnerte mich an jemanden, den ich zu kennen glaubte, jedoch nicht zuordnen konnte, woher ich diese Person kennen sollte. Aber ich war zuversichtlich genug, es auch herausfinden zu können – es war doch nur eine Frage der Zeit. Noch wusste ich nicht, wie ich es entdecken sollte, nahm mir aber vor, sie noch ein wenig zu beobachten und sie im Laufe ihres Hierseins darauf anzusprechen.
Ich machte mir einfach viel zu viele Gedanken über diese junge Frau, das stand auf alle Fälle fest. Und ich merkte, dass Sarah bereits dahinter gekommen war, denn ab und zu hob sie ihren Blick, traf auf meinen, um ihn auch festzuhalten. „Was geht in deinem Kopf vor?“, fragte sie mich plötzlich. Hilflos zuckte ich mit den Schultern, dachte kurz über ihre Frage nach. „Da drinnen geht so viel vor, Sarah …“, meinte ich und tippte mit dem Finger gegen meine Stirn. „ … und leider kann ich dieses durcheinander noch nicht ordnen. Lass mir noch ein wenig Zeit, Sarah!“ Meine Augen wurden bittend, beinahe schon flehend. Bedächtig nickte die junge Frau, sah mich eine ganze Weile schweigend an und rutschte ein wenig aufgeregt auf dem Besuchersessel hin und her. Ich verstand nicht, weshalb sie so nervös geworden war. Im Moment hatte ich jedoch keine Lust, das zu hinterfragen und beobachtete mein Gegenüber nachdenklich. In meinem Kopf spuckten die unterschiedlichsten Dinge herum, auch das, was der genaue Grund ihrer Nervosität sein mochte. Im Augenblick kam ich aber nicht dahinter, verschob es deshalb einfach auf später. Damit konnte ich mich ja später beschäftigen, jetzt sollte ich Sarah wieder einige Sachen zeigen, die sie noch nicht kannte. Zu meinem Entsetzen musste ich erkennen, dass ich mich in dieser Hinsicht viel zu sehr auf Michael verlassen hatte, denn unsere Praktikantin war schon wesentlich weiter eingeschult, als ich es gedacht hatte.
Im Laufe der nächsten Stunden merkte ich, dass Sarah mich belustigt beobachtete, ihre Augen blickten schelmisch auf, wenn sie meinem Blick begegnete. „Was ist los?“, fragte ich sie, als ich wieder feststellte, dass sie mich schweigend musterte. Plötzlich ein wenig verunsichert hob sie ihre Schultern und schien nach Worten zu suchen. „Ich kann es dir nicht genau sagen, Alex, … ich weiß nur, dass du sehr überrascht bist, was mir Michael schon beigebracht hat.“, meinte sie endlich nach wenigen Minuten des Schweigens. Ich lachte kurz auf. „Natürlich wundere ich mich, habe ich mich doch in den letzten Tagen nicht darum gekümmert, wie weit du schon bist. Mir sind einfach viel zu viele andere Dinge durch den Kopf gegangen.“, gab ich zu, ohne ihr in die Augen zu schauen. Wieder blieb es eine Weile ruhig im Büro, sodass ich meinen Kopf hob und mich umblickte. Ich hatte geglaubt, dass Sarah leise den Raum verlassen hatte und stellte irritiert fest, dass sie vor meinem Schreibtisch stand, sogar auf mich herab starrte. Sie musterte mich neugierig und gleichzeitig auch interessiert. „Und was genau ist das, Alex?“, erkundigte sie sich gespannt, sie schien ehrlich dafür offen zu sein zu erfahren, was in mir so vorzugehen schien. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich das auch erzählen sollte, was mich seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren beschäftigte und bis heute nicht abschließen konnte.
Deshalb tat ich ihre Frage vorerst nur mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, noch immer darüber nachdenkend, ob ich Sarah überhaupt von Dingen erzählen sollte, die sich in meiner Kindheit abgespielt hatten. Ich kam zu dem Schluss, dass es die junge Frau einfach nichts anzugehen hatte. Erschrocken hob ich meinen Blick, denn Sarah hatte durch lautes Räuspern auf sich aufmerksam gemacht. „Ich wollte etwas von dir wissen.“, erinnerte sie mich. Bestätigend nickte ich. „Ich weiß, Sarah, aber ich denke gerade über Dinge nach, die lange zurück liegen.“, gab ich zu. „Warum tust du das?! Es tut dir doch nicht gut, Alex.“, stellte Sarah fest. „Das merke sogar ich, obwohl ich dich kaum kenne.“ Wie recht sie doch hatte, aber es gefiel mir absolut nicht, dass mein Gefühlsleben unserer Praktikantin nicht verborgen geblieben war, auch wenn sie erst vor wenigen Wochen zu uns gekommen war.
Das Fortführen unseres Gespräches wurde durch das Erscheinen der Kollegen verhindert, die von einem Einsatz zurück ins Büro kamen. Mit Freude nahm ich zur Kenntnis, dass sie nicht mit leeren Händen erschienen. Gerrit und Robert trugen Pizzakartons ins Büro. Sofort entströmte ihnen ein ausgesprochen verlockender Duft, der mich dazu veranlasste, diesen genussvoll durch die Nase einzuziehen. Erfreut rieb ich mir die Hände und meinte: „Jungs, das war die beste Idee, die ihr in den letzten Tagen hattet.“ Neugierig beäugte ich das Geschehen um mich herum, blieb an Sarahs Blick haften. Sie sah mich irritiert an, während sie mich vorerst schweigend beobachtete und nach wenigen Minuten nur verständnislos ob meiner plötzlichen Veränderung den Kopf schüttelte. Mein Blick wurde fragend, mit schiefgelegtem Kopf schaute ich ihr in die Augen. „Dass man sich in wenigen Sekunden so verändern kann …“, murmelte Sarah vor sich hin, laut genug für alle. Michael lachte leise vor sich hin, schaute zwischen mir und Sarah hin und her. „Ja, so ist sie eben, unsere Alex. Mit Pizza kann man sie aber sofort wieder aufheitern.“, stellte er fest. „Das kommt mir auch so vor. Ich verstehe nur nicht, dass man sich so schnell ändern kann.“, wunderte sich Sarah nur und beschloss kurzerhand, darauf nicht mehr einzugehen, mein Verhalten einfach zu ignorieren, auch wenn sie selbst mich nicht durchschauen konnte.
Ich beobachtete weiterhin das Geschehen schweigend, wohl wissend, dass ich Sarah durch meine Veränderung ein wenig vor den Kopf gestoßen hatte. Im Moment wusste ich nicht genau, wie ich mich richtig verhalten sollte, denn ich keine Ahnung davon, dass mit mir in den letzten Tagen etwas nicht stimmen konnte, auch wenn ich nicht ahnte, was es sein konnte, und ich wollte es auch nicht herausfinden. Ich kümmerte mich jetzt um andere Dinge, und die spielten sich in meiner unmittelbaren Umgebung ab. Alles andere verdrängte ich wieder einmal, so wie ich es in all den vielen Jahren zuvor getan hatte.
Erst jetzt merkte ich, dass Michael mich aus den Augenwinkeln ansah, mich eingehenst musterte. Warum er das in diesem Moment tat, verstand ich nicht, und nahm mir vor, es in der nächsten Zeit herausfinden zu wollen. Erschrocken wandte er seinen Blick ab, als er bemerkte, dass ich seinen auf mir spürte. Verlegen lächelte er mir zu. „Was ist los?“, wollte ich, neugierig geworden, wissen und war überrascht, als er vorerst nur hilflos mit den Schultern zuckte. Etwas an seinem Gesichtsausdruck sagte mir, dass es in ihm arbeitete. Noch schien er keine Ahnung davon zu haben, wie er seine unzähligen Gedanken in Worte fassen sollte. Endlich schüttelte er den Kopf, ehe er meinte: „Ein anderes Mal …, vielleicht.“ Ich verstand zwar nicht ganz, was er damit sagen wollte, beschloss aber, es auf sich beruhen zu lassen. Im Laufe der Zeit würden wir sicherlich noch darüber reden.
Genüsslich kaute ich an einem Stück Pizza herum, es war zwar schon kalt, mein Hunger war jedoch einfach zu groß, sodass ich einfach alles in mich hineinstopfte, was mir im Augenblick unter die Finger kam. „Hast du seit Tagen nichts mehr gegessen?“, fragte Gerrit mich erstaunt. „Normalerweise isst du doch nicht so viel auf einmal.“ „Das stimmt schon, ich habe heute Morgen keine Zeit zum Frühstücken gehabt, weil ich verschlafen habe.“, gestand ich kleinlaut. Belustigt lächelte Gerrit auf mich herab, immerhin war er es, der stets zu spät kam, da er einfach nicht aus dem Bett kam, und es gefiel ihm ausgesprochen gut, dass es bei mir auch einmal der Fall war.
Unsere Unterhaltung wurde durch das Läuten von Michaels Telefon unterbrochen. Während er das Gespräch entgegen nahm, blickten wir gespannt zu ihm. Bedauernd schüttelte er den Kopf, als er noch sprach. Ab und zu antwortete er in kurzen Sätzen, doch ich konnte daraus nicht den Inhalt des Telefonats entnehmen. Nach endlosen Minuten beendete er endlich das Gespräch und meinte, sich wieder an uns wendend: „Leute, es gibt einen Einsatz, und nehmt Sarah mit.“ Seine Stimme wurde bittend, ja fast schon flehend. Beschwörend blickte er Gerrit und mich an. Irritiert nickte ich und wusste vorerst nicht, wie ich darauf reagieren sollte, fragend schaute ich zu Gerrit auf. Er nickte vorerst nur. „Natürlich nehmen wir Sarah mit. Immerhin soll sie ja etwas lernen.“, stellte er süffisant lächelnd fest und blickte Michael in die Augen. Entgeistert hob der seine Hände, sah uns abwechselnd an. „Was ist los, Leute?! Sarah lernt doch auch hier im Büro etwas. Dass es zurzeit keine Einsätze gibt, dafür kann ich doch auch nichts.“, bemerkte Michael leise, hilflos zuckte er mit den Schultern und starrte auf seine Hände, die vor ihm auf der Tischplatte lagen. Ich beobachtete ihn, war über seine Verlegenheit etwas erstaunt. Irritiert schüttelte ich den Kopf. „Komm mit, Sarah, wir haben einen Einsatz …“, stellte ich unnötigerweise an Sarah gewendet fest, denn schließlich war sie auch im Büro gewesen, als der Anruf kam. Mit einer Handbewegung forderte ich sie auf, mitzukommen, Gerrit war bereits vorausgegangen. Kaum war ich aus dem Büro verschwunden, hatte ich das Gespräch und Michaels Verlegenheit auch schon wieder vergessen.
Unser Einsatz war so unspektakulär wie nur irgend möglich, und ich stellte mit Bedauern fest, dass Sarah dabei auch nicht viel mehr gelernt hatte, als es im Augenblick im Büro der Fall gewesen wäre. Dort wäre zumindest genug Schreibkram für alle herum gelegen. Immer wieder trafen sich unsere Blicke im Rückspiegel, während wir vor den roten Ampeln standen und ich darauf wartete, endlich weiterfahren zu können. „Du solltest weiterfahren …!“, hörte ich die junge Frau auf dem Rücksitz sagen, am Rande nahm ich das laute Hupen einiger Autos wahr. „Sarah hat Recht.“, bemerkte Gerrit spöttisch. „Du solltest vielleicht aufhören zu träumen, Alexandra Rietz.“ Je länger er mit mir sprach, umso ungehaltener wurde seine Stimme. Irritiert wandte ich ihm den Blick zu, schaute jedoch rasch wieder zurück zur Straße. „Du tust mir unrecht, Gerrit, ich bin mit meinen Gedanken nur sehr weit weg.“, gestand ich kleinlaut. Er lachte freudlos auf. „Dann wird es Zeit, dass du sie wieder zurückholst. Ich brauche dich doch hier.“, bemerkte Gerrit, wieder ernst geworden. „Ich weiß, entschuldige …“, murmelte ich vor mich hin, ohne darauf zu achten, ob er mich auch verstand. „Kein Ding, Alex, ich verlange nur deine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.“, erklärte er sehr energisch. Ich nickte nur, während ich meinen Blick nicht von der Straße abwandte und darauf hoffte, dass er mich auch beobachtete. Immerhin hatte ich absolut keine Lust mehr, überhaupt zu reden.
Schweigend fuhren wir zum Kommissariat zurück, ich hörte nur, wie sich Sarah auf der Rückbank räusperte, irgendwie erwartete ich, dass sie zu reden beginnen würde, aus unerfindlichen Gründen tat sie es dann doch nicht. An diesem Tag hakte ich nicht einmal nach, unsere Augen trafen sich wieder einmal im Rückspiegel. Ich nahm ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen wahr, das mir so bekannt vorkam, aber noch immer nicht wusste, woher. Irgendwann würde ich mich wohl damit beschäftigen müssen, wollte ich es herausfinden, warum das so war.
Erschrocken zuckte ich zusammen, denn Gerrit hatte mich heftig in die Seite gestoßen. „Du träumst ja schon wieder vor dich hin, gut, dass wir nicht mehr weit vom K11 entfernt sind.“, brummte er ungehalten. „In Zukunft werde ich fahren, wenn wir gemeinsam unterwegs sind.“ Seine Stimme klang ernster, als ich es gewohnt war, und da wir bereits auf dem Parkplatz vor dem Kommissariat standen, schaute ich erstaunt zu ihm hinüber, sein Blick verhieß nichts Gutes. Deshalb entschloss ich mich, rasch, ja fast fluchtartig, auszusteigen. Ich achtete nicht darauf, auf meine Begleiter mir folgten und hatte an diesem Tag das Bedürfnis, die Treppe in den zweiten Stock hinaufzulaufen. Etwas außer Atem langte ich bei meinem Ziel an, fühlte mich dennoch ausgesprochen wohl und war froh darüber, dass das Büro im Augenblick leer war.
Es dauerte aber nicht besonders lange, bis Gerrit und Sarah den Raum ebenfalls betraten. Da ich ihre Stimme bereits vor ihrem Erscheinen wahrgenommen hatte, sah ich ihnen erwartungsvoll entgegen. Als sie auf mich aufmerksam wurden, verstummte ihr vorher sehr angeregtes Gespräch sofort. Warum das so war, begriff ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ehe ich es hinterfragen konnte, betrat Michael das Büro und schien erfreut darüber zu sein, dass wir wieder von unserem Einsatz zurück waren. Interessiert schaute er in die Runde, und ehe er Sarah nach ihrem Eindruck darüber fragen konnte, meinte ich kühl: „Der Einsatz war der pure Reinfall. Für Sarah wäre es fast sinnvoller gewesen, wäre sie hier geblieben. Wenn du mich fragst, waren auch Gerrit und ich völlig unnötig.“ Erschrocken sahen mich meine Kollegen an, schienen nicht mit meiner Ausdrucksweise klar zu kommen. Im ersten Moment schien Michael nicht zu wissen, was er mir antworten sollte. Endlich grinste er mich unbekümmert an, zuckte gleichzeitig jedoch ein wenig hilflos mit seinen Schultern. „Das konnte ich doch nicht wissen, Alex, außerdem wollte ich Sarah aus der Eintönigkeit unserer Büroarbeit befreien.“, erklärte er, seine anfängliche Unsicherheit schien wieder verflogen zu sein. „Soll ich dafür dankbar sein?“, hörte ich die junge Frau schnippisch fragen. Dieser Tonfall erinnerte mich ein an meinen, wenn ich mir mit Michael Wortgefechte feinster Sorte lieferte. Irritiert schaute ich zu Sarah. Warum, um alles in der Welt, erinnerte sie mich an mich selbst? Diese Frage spuckte schon einige Wochen in meinem Kopf herum, eine Antwort darauf hatte ich bisher noch nicht gefunden. Noch wusste ich nicht, wie ich es herausfinden sollte.
Diese Gedanken schwirrten mir auch noch in meinem Kopf herum, als ich schon in meinem Bett lag und versuchte einzuschlafen, was mir lange nicht gelingen wollte. Unruhig wälzte ich mich hin und her, irgendwann legte ich mich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, vor mich hinstarrend. Wieder spuckte mir alles Mögliche durch den Kopf, was mich noch mehr durcheinander brachte, als es ohnehin schon der Fall war. Das war auch der Grund, der mich darauf hinwies, etwas zu unternehmen, um meine wirren Gedanken endlich zu aufzulösen.
Ziemlich verschlafen tauchte ich im Büro auf, schleppte mich zu meinem Arbeitsplatz, ohne darauf zu achten, dass mich meine Kollegen interessiert beobachteten. Herzhaft gähnte ich, während ich mich auf meinen Sessel fallen ließ. Erst jetzt nahm ich die fragenden Blicke der anderen wahr. „Was ist …?“, wollte ich irritiert wissen und blickte mich kurz im Raum um. Michael schaute mich grinsend an. „Sag mal, wo warst du denn gestern Abend. Es muss ja mächtig spät geworden sein.“, stellte er belustigt fest, sein Lächeln wurde noch breiter, als es ohnehin schon war. Ich quittierte seine Aussage mit einer wegwerfenden Handbewegung, schüttelte vorerst ungehalten den Kopf. Noch wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. “Wieso willst du das wissen, Michael? Ich hatte gar keine Ahnung, dass es dich interessieren sollte!“, erwiderte ich und merkte selbst, wie ich immer wütender wurde. Mit Mühe konnte ich verhindern, dass ich ausrastete. Ich sah, wie er erschrocken den Atem anhielt. Vermutlich sah er mir mein Gefühlsleben an, schließlich kannte er mich gut genug, um in meinem Gesicht lesen zu können. Am Rande nahm ich ein Räuspern wahr, mein Kopf fuhr herum und musterte Gerrit ein wenig verunsichert. Ich nahm sein ihm eigenes spitzbübisches Lächeln wahr. „Hast du schlecht geschlafen, Alex? Michael kann doch gar nichts dafür, dass du deine schlechte Laune auf ihm abladen möchtest.“, bemerkte er mit inzwischen schiefgelegtem Kopf. „Du hast doch absolut keine Ahnung, Gerrit …“, murmelte ich vor mich hin, wohl wissend, dass er mich dennoch hören konnte, denn sein Gehör war ausgesprochen gut.
Ehe er irgendetwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und Sarah schob sich in den Raum. Verlegen blickte sie sich um, lächelte uns zaghaft zu. „Habe verschlafen …“, meinte sie, setzte einen entschuldigenden Blick auf. Gerrit und Michael sahen zwischen mir und unserer Praktikantin hin und her. „Habt ihr gestern gemeinsam den Abend verbracht?“, wollte Michael neugierig wissen. Entsetzt schaute Sarah zu ihm auf und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, natürlich nicht … Du hast vielleicht Ideen!“, rief sie aufgeregt aus. Ich konnte mir zwar ein Lächeln wegen ihres treuherzigen Blickes nicht verkneifen, schluckte dann aber doch heftig, als ich den Sinn ihrer Worte endlich begriff. Mit aufgerissenen Augen starrte ich sie an, noch überlegte ich, ob ich gekränkt sein sollte oder nicht, auch wenn ich wusste, dass wir vermutlich nie unsere Abende gemeinsam ausklingen lassen würden. Warum also wunderte ich mich über ihre Bemerkung. Ich schüttelte kurz den Kopf, um gleich darauf wieder auf meine Kollegen zu konzentrieren.
Sie beobachteten mich schweigend und warteten geduldig darauf, dass sie wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatten. „Woran denkst du gerade?“, erkundigte sich Michael neugierig, fragend hielt er meinen Blick gefangen und legte seinen Kopf leicht schief. Hilflos zuckte ich mit den Schultern, dachte kurz über seine Worte nach. „Genau kann ich dir das auch nicht sagen, ich weiß nur, dass ich wohl ein paar Tage zu alt bin, um mit Sahra um die Häuser zu ziehen.“, meinte ich endlich langsam. „Rede doch keinen Unsinn, Alex, ihr seht doch aus wie Geschwister.“, bemerkte Gerrit, gewinnend lächelte er mich an. Sarah kicherte leise vor sich hin. Mit schiefgelegtem Kopf schaute sie zu ihm auf. „Du bist ja ein richtiger Schleimer, das wusste ich noch gar nicht.“, meinte sie mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. „Du weißt sicherlich noch so vieles nicht …“, murmelte Gerrit vor sich hin, schwieg plötzlich, als ob mit einem Mal nicht mehr wusste, was er eigentlich hatte sagen wollen. „Deshalb bin ich ja hier.“, meinte Sarah belustigt. „In den nächsten Wochen lerne ich hier sicher noch so einiges dazu!“ Ihr Lächeln wurde gewinnend. Ich merkte, wie Gerrit begann, dahinzuschmelzen und räusperte mich lautstark, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Es dauerte einige Sekunden, bis es mir zu gelingen schien.
Etwas irritiert sahen meine Kollegen in meine Richtung, blickten mir fragend in die Augen. „Was ist los?“, wunderte ich mich. „Du unterbrichst mich gerade bei etwas ganz wichtigem.“, erklärte Gerrit ernst. „Ich habe es bemerkt.“, kicherte ich vor mich hin. „Das kannst du natürlich nicht zulassen, Alex, nicht wahr? Sarah ist doch nicht deine Tochter, du brauchst sie nicht zu beschützen.“, bemerkte Gerrit. Aus großen Augen schaute ich zwischen ihm und Sarah hin und her, noch wusste ich nicht, wie ich meine Gedanken ordnen sollte, denn sie wirbelten einfach durch meinen Kopf. „Aber es wäre eine Möglichkeit …“, murmelte ich vor mich hin, starrte weiterhin zur jungen Frau hinüber, die während des Gespräches auf dem Sofa Platz genommen hatte. „Das kann ich mir nicht vorstellen, Alex, sie kann tun und lassen, was sie möchte, sie ist nämlich schon ein großes Mädchen.“, stellte Gerrit fest, er beobachtete mich interessiert. Ich schüttelte leicht den Kopf, er hatte mich aus den Gedanken gerissen und schaute deshalb irritiert in seine Augen. „Ich rede doch von etwas völlig anderem, Gerrit. Du hast mich da auf eine Idee gebracht, auch wenn sie vollkommen absurd ist.“, antwortete ich langsam, wieder schweifte ich in meine Vergangenheit ab. „Was meinst du damit eigentlich genau?“, wurde ich von Sarah unterbrochen, sie klang, als ob sie sich tatsächlich dafür interessieren würde. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Genau kann ich dir das auch nicht sagen, es liegt auf alle Fälle eine sehr lange Zeit zurück, Sarah.“, bemerkte ich. „Und eigentlich sollte ich über meinen Verdacht in erster Linie mit meinen Eltern reden.“
„Was haben denn die damit zu tun?“, wunderte sich Michael, er hatte das Gespräch bisher schweigend verfolgt. Warum er das nicht weiterhin auch tat, konnte ich beim besten Willen nicht mehr sagen. „Noch weiß ich das nicht, es liegt doch so viele Jahre zurück.“, brummte ich vor mich hin. „Du solltest es vielleicht so bald wie möglich herausfinden, du bist in den letzten Wochen etwas neben der Spur.“, stellte Michael fest, er hielt meinen Blick gefangen und musterte mich schließlich neugierig. Erschrocken schaute ich ihn an. Waren meine Probleme und Sorgen bereits so offensichtlich gewesen?, fragte ich mich entsetzt. Es dauerte eine kurze Zeit, bis ich merkte, dass mich meine Kollegen anstarrten und darauf zu warten schienen, dass ich auf Michaels leisen Vorwurf reagierte. Er räusperte sich, um mich daran zu erinnern, dass ich ihm eigentlich noch eine Antwort schuldig war. Und das blieb ich auch weiterhin, wollte ich doch nicht von den Vorfällen in meiner Kindheit erzählen. Auch wenn ich sie vergessen wollte, erinnert wurde ich immer dann daran, wenn sich der Tag der Geburt meines Kindes jährte. Immer wieder ärgerte ich mich darüber, dass ich bisher nicht herausgefunden hatte, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden war. Wie es meine Mutter durchgehalten hatte, bisher kein Wort darüber zu verlieren, begriff ich bis heute nicht. Wie oft wir über dieses Thema schon diskutiert und gestritten hatten, konnte ich nicht mehr sagen. Sie hatte es geschafft, die gesamte Familie dahingehend zu beeinflussen, mit mir über die Vorfälle von damals nicht mehr zu sprechen. Und ich musste zugeben, dass es ihr ausgesprochen gut gelungen war.