„Und ich verstehe deine Ruhe noch immer nicht.“, stellte sie fest, als wir vor dem Auto standen. „Ich auch nicht …“, gestand ich leise, während ich in meiner Handtasche nach meinem Handy suchte. „Aber lass mich einmal über dieses Gespräch nachdenken. Vielleicht kann ich dir das in ein paar Tagen sagen.“ Langsam nickte Sarah, schaute mir kurz in die Augen. Es schien mir, als würde sie mir nicht glauben. „Ich werde dich in ein paar Tagen daran erinnern.“, versprach sie. Etwas an ihrem Ton sagte mir, dass sie es durchaus ernst meinte. Deshalb hielt ich es für besser, darauf nichts mehr zu sagen und wandte mich zum gehen. Anstatt mit ihm zu telefonieren, wollte ich Michael von dem kleinen Gasthaus abholen. Ich nahm einfach an, dass Sarah mich begleiten würde.
Sehr erstaunt nahm Michael mein Erscheinen zur Kenntnis. „Ihr seid schon hier?“, wunderte er sich und musterte mich sehr genau. „Ja, Michael … meine Mutter hat mich gerade vor die Tür gesetzt.“, stellte ich mit einem Anflug von Entsetzen fest. „Im Ernst?“, erkundigte er sich mit großen Augen, er schien mir nicht ganz glauben zu wollen. Bedächtig nickte ich. „Und sie hat es sich auch noch gefallen lassen.“, stellte Sarah erschüttert fest. „Vermutlich wäre ich auch gegangen.“, nahm Michael mich in Schutz, lächelte mich sogar leicht an. „… egal, warum es sich bei diesem Gespräch auch gehandelt haben mag.“ Ich lachte kurz und freudlos auf. „Für meine Mutter ist ein ganzes Lügengebäude zusammengebrochen. Das war für sie sicher nicht ganz einfach.“, bemerkte ich. „Und natürlich möchte sie mir nicht glauben. Für sie war dieser DNA-Test eine Fälschung.“ Noch wusste ich nicht, wie ich auf das Verhalten meiner Mutter überhaupt reagieren sollte. „Das es das nicht sein kann, ist ihr doch hoffentlich klar?“, fragte Michael entgeistert. Hilflos zuckte ich mit den Schultern, da ich ihm aus irgendeinem Grund keine Antwort geben konnte.
Erst das Klingeln eines Handys lenkte uns ab. Mein Blick wanderte zu Sarah, wurde fragend. Einige Zeit kramte sie in ihrer Tasche und suchte nach dem kleinen Telefon. Als sie es endlich in der Hand hielt, war das Läuten bereits verstummt. „Natürlich …“, murmelte sie ungeduldig vor sich hin, drückte auf der Tastatur herum. Sekunden später meldete sie sich mit einem kurzen „Hallo!“ und lauschte kurz, ehe sie meinte: „Wir machen uns gerade auf den Weg!“ Ich merkte, dass Michael die junge Frau etwas irritiert, beinahe schon erstaunt anstarrte. „Wo fahren wir denn jetzt noch hin?“, wollte er wissen, sein Blick wurde fragend. Als ich begriff, kicherte ich leise vor mich hin. „Ach, hat Sarah dir nicht gesagt, dass wir nach Bad Oeynhausen fahren, sie möchte mir zeigen, wo sie aufgewachsen ist.“, erklärte ich belustigt, sein Blick war eine Studie. „Warum erfahre ich das erst jetzt?“, erkundigte er sich und schien nicht zu wissen, ob er den aufsteigenden Unmut kundtun sollte oder nicht. Aus irgendeinem Grund tat er es dann doch nicht. „Eigentlich hatte ich absolut keine Lust, durch ganz Deutschland zu fahren.“, konnte er sich dann doch nicht verkneifen. „Stell dich nicht so an, Michael, soweit ist es nun auch wieder nicht. Außerdem kann ich ja auch fahren.“, bot Sarah an. Entsetzt hob Michael seine Arme. „Nur das nicht … Frauen am Steuer sind doch eine eigene Sache …“, brachte er mit einem Seitenblick auf mich mühsam über die Lippen. Da ich seine Meinung darüber nur zu gut kannte, überging ich diese Aussage gekonnt, doch Sarah stieg darauf ein und sagte ihm lautstark ihre Meinung. Ich wunderte mich nur, dass Michael ihren Ausbruch an diesem Abend mit eine Ruhe ertrug, die ich so an ihm nicht kannte, sprach ihn darauf jedoch nicht an.
Die Fahrt nach Bad Oeynhausen verlief schweigend, sodass mir immer wieder die Augen zufielen. Am meisten störte mich daran, dass mich niemand daran hinderte einzuschlafen, erst als wir kurz vor dem Ziel waren, wurde ich von Sarah etwas unsanft geweckt. Ungehalten brummte ich vor mich hin. „Wir sind schon da …“, stellte Michael unnötigerweise fest. Ich blickte mich kurz um, erschrak sogar ein klein wenig. „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, Sarah, ich bin doch hier in der Nähe aufgewachsen.“, erklärte ich entsetzt und merkte, dass ich begann, nervös zu werden. Michael schaute mich misstrauisch an, schüttelte endlich verständnislos den Kopf und schwieg vorsichtshalber. „Natürlich ist es mein Ernst, ich wusste doch nicht, dass du irgendwann einmal hier gewohnt hast. Aber kommt doch endlich, ich bin mir sicher, dass meine Eltern auf uns warten.“, lenkte Sarah uns vom ursprünglichen Thema ab. Kaum hatte sie ausgesprochen, öffnete sie die Autotür und kletterte aus dem Wagen.
Sarah schien tatsächlich bereits erwartet worden zu sein. Michael und ich waren noch nicht aus dem Auto gestiegen, da stand auch schon eine Frau im Alter meiner Mutter neben der jungen Praktikantin, sie wurde herzlichst begrüßt. Warum ich verunsichert zu Michael schaute, konnte ich später nicht mehr sagen, er sagte kein Wort, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Wir sollten auch aussteigen …“, murmelte er endlich, nachdem er einen kurzen Blick nach draußen geworfen hatte. Ich nickte nur und öffnete langsam die Autotür. Sehr zaghaft stellte ich meine Füße neben den Wagen, überlegte krampfhaft, wie ich mich richtig verhalten sollte.
Erstaunlicherweise nahm mir jemand die Entscheidung ab. „Wollt ihr beide denn nicht aussteigen?“, wurden wir gefragt, interessiert schaute mir Frau Schmidtmayer in die Augen. Etwas an der ältlichen Dame kam mir bekannt vor, noch wusste ich nicht, was. Aber ich würde es in den nächsten Stunden wohl herausfinden. Auch ich wurde gemustert, ziemlich eingehend sogar, wie ich zu meinen glaubte. Je länger diese Musterung dauerte, umso unbehaglicher fühlte ich mich, ich wandte langsam meinen Blick ab. Warum ich darauf hoffte, dass mich meine Begleiter unterstützten, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Sehr verlegen hypnotisierte ich meine Schuhspitzen, wünschte plötzlich, ich wäre in München geblieben, zu sehr nahm mich die ganze Situation mit. Hilfesuchend schaute ich zu Michael auf. Er blickte mir nur unverwandt in die Augen und machte nicht den Eindruck, als wollte er mir helfen.
„Alexandra …?!“, hörte ich eine Stimme nach mir rufen und riss mich damit aus den Gedanken. Ich hob den Kopf, blickte in Frau Schmidtmayers Augen. „Woher wissen Sie meinen Namen?“, fragte ich sehr verwundert. Ihr Blick wurde milde, ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du hast doch vor Jahren mal in der Nachbarschaft gewohnt. Nach dieser unglücklichen Geschichte seid ihr doch weggezogen.“, erzählte die ältliche Frau. Erschrocken schaute ich ihr in die Augen, biss mir nur auf die Lippen, da ich nicht wirklich wusste, wie ich richtig reagieren sollte. Eigentlich wollte ich darüber nicht mehr reden und es vergessen. Wie es schien sollte es mir nicht gelingen, jedenfalls an diesem Abend nicht. Am Rande nahm ich ein Räuspern wahr, beschloss aber rasch, es einfach zu ignorieren.
„Mama, was meinst du denn damit?“, wollte Sarah neugierig wissen. Ich merkte, dass sie uns der Reihe nach anschaute, ihr Blick blieb an Frau Schmidtmayer haften. Gespannt wartete ich darauf, was Sarahs Mutter darauf antworten würde. Erschrocken holte diese Luft und starrte mich an. Ich merkte, wie sie ihre Gedanken unter Kontrolle bringen wollte, es jedoch nicht ganz schaffte. „Wir sollten ins Haus gehen, wir werden erwartet.“, bemerkte sie endlich, sie lenkte ganz offensichtlich vom Thema ab. Sarah sah ihre Mutter mit schiefgelegtem Kopf an, öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen und unterließ es aus irgendeinem Grund.
Ich wollte Sarah und ihrer Mutter folgen, als Michael mich am Arm zurück hielt. Fragend schaute ich zu ihm auf. „Was hat diese Frau gemeint, Alex?“, wollte er wissen. Natürlich … ich hätte es wissen müssen. Es wäre nicht Michael gewesen, wenn er nicht nachgefragt hätte. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob ich ihm das ganze überhaupt erzählen wollte, und ich kam mir mit einem Mal so hilflos vor. „Möchtest du nicht darüber reden?“, hakte er nach, als ihm mein Schweigen zu lange geworden war. Ich nickte nur, wandte mich der Tür zu, durch die die anderen bereits verschwunden waren. Ohne noch etwas zu sagen, betrat ich ebenfalls das Haus. Mir war sehr wohl klar, dass ich einen völlig irritierten Michael zurückließ, hoffte aber, dass er mir dennoch folgen würde.
Im Haus wurde ich bereits erwartet, Sarah schien sich ehrlich zu freuen, mich zu sehen. „Komm‘, setz dich.“, bat sie. „Wo hast du Michael gelassen? Wartet er wieder ein einem Gasthaus auf dich?“ „Nein, tu‘ ich jetzt nicht, Alex hat nur darauf vergessen, mich mitzunehmen.“, hörte ich Michael sagen. Erschrocken fuhr ich zu ihm herum. „Das habe ich tatsächlich, es tut mir leid.“, gab ich zu, verlegen lächelte ich zu ihm auf. „Schon vergessen …!“, brummte er, auch wenn ich wusste, dass es nicht so war. „Komm‘, setzen wir uns zu Sarah.“, fuhr er fort, während er mich fragend musterte. Bei diesem Blick konnte ich nur stumm nicken. Mit großer Anstrengung konnte ich mich vom Blau seiner Augen losreißen und kam seiner Aufforderung endlich nach.
Kaum hatten wir uns gesetzt, öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum. Er war einige Jahre älter als Sarahs Mutter, hatte ein ausgesprochen freundliches Gesicht mit unzähligen Lachfältchen um die Augen. Interessiert schaute er sich um. „Wir haben Besuch?“, wollte er neugierig wissen, sein Blick blieb an mir haften. „Ja, Paps, es stört dich doch hoffentlich nicht, wenn ich dir Alex vorstelle.“, erwiderte Sarah, deutete mit der Hand auf mich. Herr Schmidmayer schüttelte leicht den Kopf. „Natürlich nicht und das weißt du auch. Deine Freunde waren uns doch immer willkommen.“, stellte er fest. Für ihn schien damit dieses Thema beendet zu sein, auch wenn er Michael und mich noch immer interessiert musterte. Kurt Schmidtmayers Augen leuchteten kurz auf, langsam schien er zu begreifen, dass er mich von früher kennen musste.
„Wir kennen uns doch?“, fragte er endlich, seine Neugier war wieder geweckt worden. „Ich weiß es nicht genau, aber ich bin ein paar Gassen weiter aufgewachsen.“, meinte ich nur vage, mehr wollte ich darüber eigentlich gar nicht sagen. Irgendwie spürte ich, dass an diesem Abend noch so einiges auf mich zukommen würde, vermutlich auch Themen, über die ich in den letzten Jahren nicht mehr gesprochen oder nachgedacht hatte.
Meine Worte waren für Sarahs Mutter ein Zeichen, sich wieder in dieses Gespräch einzumischen. „Erinnerst du dich nicht mehr an Jürgen … er ist doch der Vater von Alexandra!“, erklärte Elfriede, Sarahs Adoptivmutter. Sie musterte ihren Mann, ihr Blick wurde fragend, als Kurt eine kurze Zeit schwieg. An seinem Gesicht war abzulesen, dass nach und nach die alten Erinnerungen zurückkehrten. Aus diesem Grund nickte er langsam. „Jürgen Rietz ist also dein Vater?“, erkundigte er sich leise, ohne seine Augen von mir abzuwenden. Bestätigend neigte ich meinen Kopf. „Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen, weißt du?! Wir waren damals unzertrennlich, man hätte uns fast für Brüder halten können …“, erzählte er mit einem Anflug von Wehmut. Gespannt beobachtete ich ihn. „Ihr seid nicht mehr befreundet …?!“, stellte ich fest, auch wenn es fast wie eine Frage geklungen hatte. „Mein Vater hat nie von Ihnen erzählt.“ „Das kann ich mir vorstellen, damals ist genau das geschehen, was bei Freundschaften so oft geschieht, auch wenn es so nicht vorkommen sollte. Wir haben uns in das gleiche Mädchen verliebt, das aber war noch nicht der Grund, warum wir uns zerstritten haben.“, gab Kurt zu.
Neben mir begann Michael unruhig hin und her zu rutschen, vor sich die leere Kaffeetasse. „Kann ich noch einen haben?“, fragte er verlegen, hielt Sarah seine Tasse entgegen. Unsere Praktikantin nickte nur und kam seiner Bitte rascher nach, als ich es für möglich gehalten hatte. „Danke.“, murmelte er nur vor sich hin, als die junge Frau das Gewünschte vor ihm abstellte und verhielt sich wieder so ruhig wie vor dem kurzen Gespräch. Viel zu still, für meinen Geschmack. Ich war es nicht gewohnt, dass er einfach nur zuhörte, auch wenn ich wusste, dass er es sicherlich tat, wenn es darauf ankam.
Ich wandte mich wieder Kurz Schmidtmayer zu, schließlich wollte ich seine Geschichte zu Ende hören. „Weshalb seid ihr nicht mehr befreundet?“, wollte ich deshalb wissen, legte meinen Kopf leicht schief, als ich ihm in die Augen schaute. „Deine Mutter wurde damals von ihm schwanger, da wusste ich, dass ich verloren hatte.“, sagte er schlicht. An seinem Ton konnte ich nicht wirklich erkennen, ob es ihm auch noch heute leid tat. „Das tut mir leid …“, meinte ich deshalb nur vage, denn ich Grund war mir diese Geschichte so völlig egal, ich fragte mich noch immer, wie meine Tochter ausgerechnet zu den Schmidtmayers kam. Soviel Zufall konnte es doch gar nicht geben, stellte ich fest, nur wusste ich nicht, wie ich die Gedanken, die mir gerade durch den Kopf spukten, laut aussprechen sollte. Ich seufzte leise vor mich hin, ohne zu bemerken, dass mich jeder musterte, ich erwachte erst wieder aus meiner Erstarrung, als jemand meine Hand nahm und sie leicht drückte. Erschrocken schaute ich in sein lächelndes Gesicht, nahm auch das Zwinkern eines Auges wahr. Ein breites Grinsen spaltete mein Gesicht, als ich mir bewusst wurde, was gerade mit mir geschah – es gefiel mir, denn zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich auch mein Herz.
Erst als ein leises, kaum zu hörendes Räuspern in mein Bewusstsein drang, löste ich mich von seinem Anblick und schaute mich suchend um, denn noch konnte ich den Verursacher dieses Geräusches nicht ausmachen. Mein Blick blieb an Elfriede haften, ihre Augen strahlten mich an, ohne dass ich den Grund dafür herausfinden konnte. „Es ist doch sicherlich kein Zufall, dass Sarah hier aufgewachsen ist.“, meinte ich, als mir mein spontaner Gedanke von vorhin wieder einfiel. „Das stimmt …“, bestätigte Kurt meinen Verdacht, äußerst nervös drehte er das vor ihm liegende Feuerzeug im Kreis herum. Ziemlich hilflos sah er zu seiner Frau, ihr inzwischen verschlossenes Gesicht sagte mir, dass er von ihr keine allzu große Hilfe zu erwarten hatte.
Sehr ungeduldig wartete ich darauf, dass er endlich weitersprechen würde. Es dauerte eine ganze Weile, bis er es dann doch tat. Ich merkte, dass es ihm unheimlich schwer zu fallen schien. „Es war damals mein Bruder, der ausgesprochen junge Mädchen bevorzugt hatte, du warst nicht die Einzige, die er sexuell missbraucht hat.“, begann er mit seiner Geschichte, verstummte jedoch wieder, da ihn die Erinnerung wieder zu übermannen schien. Sarah schnaubte vor sich hin, äußerst ungehalten, wie ich zu wissen glaubte, sonst war es sehr ruhig im Raum. „Niemand wusste von seinen Neigungen, erst als du davon erzählt hast, dass du ein Kind erwartest und wie du mit deinen fünfzehn Jahren dazu gekommen bist, ist es ans Tageslicht gekommen. Natürlich verbreitete es sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Nachbarschaft, und ehe etwas unternommen werden konnte, war mein Bruder auch schon verschwunden. Auch wenn deine Eltern nichts gegen ihn unternommen haben, weil sie damals auch mit ihm befreundet waren, ich konnte es so einfach nicht zulassen. Er war zwar mein Bruder, aber solche Dinge durften einfach nicht sein, Alexandra, verstehst du das?“, fragte er leise, ohne mich bei seinen Worten anzusehen, sein Blick ging einfach durch mich hindurch ins Leere.
Das einzige, das ich an der ganzen Geschichte verstand, war, dass Kurts Bruder an der ganzen Geschichte schuld war, die mein Leben zerstört hatte, kaum dass es richtig begonnen hatte, denn viele Dinge von damals hatte ich bis heute nicht richtig verarbeitet oder verkraftet.
Es war ausgesprochen ruhig geworden, niemand sprach ein Wort, zu geschockt waren wir über die Geschichte, die wir eben gehört hatten. Im ersten Augenblick konnte ich nicht einmal sagen, was in mir vorging, mit einem Wort, ich war sprachlos, außerdem seufzte ich tief auf, da mir endlich bewusst wurde, was ich gerade gehörte hatte. „Das glaube ich jetzt nicht …“, brachte ich nach unendlich langer Zeit nur mühsam hervor, konnte nicht mehr verhindern, dass ich zu schluchzen begann, erst lautlos bis schließlich mein Weinen alles andere übertönte. Dass mich alle bestürzt anstarrten, bekam ich erst gar nicht mit, zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt.
Ich brauchte eine lange Zeit, bis ich mich wieder beruhigen konnte, auch wenn ich noch immer leise vor mich hin schluchzte. Nach und nach realisierte ich, dass jemand seinen Arm um meine Schultern legte und mich behutsam zu sich zog. An dem leichten Duft seines Aftershaves konnte ich ihn erkennen, lehnte mich ohne viel über mein Handeln nachzudenken, an seine Schulter. Lautlos schluchzte ich vor mich hin und achtete nicht darauf, dass meine Tränen Spuren auf seinem Hemd hinterlassen konnten. Noch verstand ich nicht, warum Sarah nicht bei mir sondern bei ihrem Onkel aufgewachsen war. Ehe ich jedoch eine diesbezügliche Frage stellen konnte, erzählte Kurt Schmidtmayer einfach weiter.
„Ich weiß noch genau, wie deine Mutter außer sich vor Wut über das Geschehene war. Vermutlich war sie mehr über sich selbst entsetzt, weil sie von deinen Veränderungen nichts mitbekommen hatte. Seit diesem Zeitpunkt wollte sie mit uns nichts mehr zu tun haben, das war einer der Gründe, warum ihr von hier weggezogen seid, nicht ohne uns vorher das Versprechen abzunehmen, für dieses ungewollte Kind zu sorgen. Kaum war Sarah geboren, stand sie auch schon mit den nötigen Papieren vor unserer Tür.“, gestand Kurt, holte tief Luft, als er dieses Teil der Geschichte zu Ende gebracht hatte. Misstrauisch geworden, drehte ich meinen Kopf so, dass ich ihm in die Augen schauen konnte. „So einfach geht das doch sicherlich nicht.“, bemerkte ich erschüttert. Er nickte leicht. „Das stimmt, Alexandra, ich kann dir aber nicht sagen, was sie den Behörden aufgetischt hat, damit alles seine Richtigkeit hat. Ich muss gestehen, dass ich alles prüfen hab lassen, erst nachdem Elfriede und ich selbst noch einige Papiere und Anträge ausgefüllt hatten, durften Sarah bei uns bleiben. Ich redete mir damals ein, dass es der einzig richtige Weg war, um für das Verhalten meines Bruders gerade zu stehen.“, meinte Kurt, entschuldigend erwiderte er meinen Blick. Etwas darin sagte mir, dass er sich eine große Last von der Seele geredet hatte.
Sarah schnaubte ärgerlich vor sich hin. Es schien ihr nicht ganz zu behagen, was sie da gerade gehört hatte. „Wie kann man damit einverstanden sein, einer Mutter das Kind wegzunehmen.“, knurrte sie ungehalten vor sich hin. „Anette Rietz hat uns mehr oder weniger damit erpresst, dass sie von einer Anzeige absehen würde, wenn wir dich als Gegenleistung zu uns nehmen. Sie wollte doch durch nichts mehr daran erinnert werden, welch ein Verbrechen an ihrer Tochter begangen worden war.“, gab Kurt zu, verlegen senkte er seinen Blick, da er keinem mehr in die Augen schauen konnte … oder wollte. „So einen Unsinn hab ich schon lange nicht mehr gehört. Aber etwas Gutes hat dieses Gespräch dann doch. Jetzt ist der tatsächliche Hintergrund dieser Adoption doch ans Tageslicht gekommen, auch wenn es für mich noch immer unverständlich ist.“, meinte Sarah und wandte sich mir zu. Denn ich hatte wieder zu weinen begonnen.
Sarahs Blick wurde mitleidig, als sie mich musterte. Ich merkte, wie sie eine Augenbraue hochzog, als mich Michael noch enger an sich heranzog. Äußerst behutsam lehnte er seinen Kopf an meinen, sanft strich er über meinen Oberarm und versuchte, mich zu beruhigen. Noch gelang es ihm nicht, auch wenn es sich so richtig anfühlte, wenn ich in seinen Armen lag. Ich fragte mich nur, was gerade in mir vorging, aber eines war mir inzwischen sonnenklar: Mein bisheriges Leben brach gerade über mir zusammen, während ich mich gerade verliebte, nach all den Jahren das erste Mal Schmetterlinge im Bauch spürte. Erst als ich versuchte, meine Vergangenheit aufzuarbeiten, hatte ich Platz für Gefühle. Und darüber freute ich mich insgeheim doch sehr.
Ich war so sehr mit mir und meinem Seelenheil beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich beobachtet wurde. Erst als Sarah sich lautstark räusperte löste ich mich mit etwas Widerwillen ein klein wenig von ihm und schaute fragend zu meiner Tochter. Mit einem Anflug von Entsetzen bemerkte ich, dass ich als mein Kind bezeichnete, auch wenn ich wusste, dass wir nie ein solches Verhältnis zueinander haben würden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sich so etwas wie Freundschaft entwickeln konnte – zu mehr würde es vermutlich auch nicht reichen.
„Was ist denn mit euch beiden los, habe ich vielleicht etwas verpasst?“, wollte sie belustigt wissen, sie zwinkerte mir aufmunternd zu. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich zum Reden bringen wollte und schüttelte vorerst nur den Kopf, da ich einfach nicht wusste, was ich überhaupt antworten sollte. „Du hast nichts verpasst, Sarah, noch nichts, und ich verspreche dir, dass du die Erste sein wirst, die erfährt, wenn sich etwas ändern sollte.“, versprach Michael an meiner Stelle. Er hielt noch immer meine Hand, behutsam strich er mit einem Finger darüber und lächelte mir scheu zu. In diesem Augenblick vergaß ich völlig auf meine Umgebung, da ich wieder einmal in dem Blau seiner Augen versank und mich wie so oft in den letzten Tagen nicht einmal mehr abwenden konnte oder wollte.
Ich tat es dann doch, als Elfriede ihren Sessel lautstark zurückschob und aufstand. Irritiert beobachtete ich sie dabei, wie sie begann, eine Kleinigkeit fürs Abendessen herzurichten. „Ich wollt doch sicherlich auch etwas …?“, erkundigte sie sich, ohne uns bei dieser Frage anzusehen. Kurt übernahm gleich eine Antwort. „Natürlich essen wir etwas, Elfriede, welche Frage. Warte mal, ich werde dir helfen.“, erklärte er ernst. Ich war erstaunt darüber, wie behände er aufsprang und seiner Frau gut gelaunt half. Überrascht bemerkte ich, dass Elfriede ihn ziemlich irritiert anstarrte. Ganz schien sie noch nicht zu begreifen, was gerade geschah, sie ließ es einfach geschehen, ohne viel zu sagen.
Das Essen verlief schweigend, auch wenn Sarah versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen. Dass es nicht gelang, störte mich im Moment gar nicht, ich genoss die Ruhe um mich herum unheimlich, einen Augenblick hoffte ich sogar, dass sie nie vorüber gehen würde. Natürlich war das nur eine Träumerei von mir gewesen. Kaum war der Tisch abgeräumt worden, begann ein lebhaftes Gespräch. Ich hörte nur am Rande zu, denn noch war ich mit mir und meinem durcheinander geratenen Seelenleben beschäftigt. So ging die Unterhaltung zum Großteil an mir vorüber. Erst als Michael mir wieder den Arm um meine Schultern legte, erwachte ich aus meiner Erstarrung.
„Du bist schon müde, Alex, du solltest vielleicht schon ins Bett gehen …“, schlug er vor, mit einem treuherzigen Blick schaute er mir in die Augen, was mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte, vergessen war das Gespräch, das mich vor gar nicht allzu langer Zeit noch so aufgewühlt hatte. Für den Augenblick verdrängte ich dieses unliebsame Thema einfach. Zur Bestätigung gähnte ich herzhafter als ich es eigentlich gewollt hatte. „Ich wusste es doch …“, hörte ich ihn murmeln.
„Sarah, zeige Alex das Gästezimmer.“, bat Elfriede, erstaunt schaute ich ihr in die Augen. Etwas an ihrer Stimme hatte sich verändert, sie war soviel weicher und milder geworden als noch vor Minuten. „Na klar … komm mit. Michael, es stört dich doch nicht, wenn du mit Alex ein Bett teilen musst?“, fragte Sarah mit einem wissenden Lächeln. „Wir haben nämlich nur das eine Gästezimmer.“ „Dann haben wir doch sowieso keine andere Wahl.“, bemerkte er belustigt. „Außerdem weißte du, dass es uns nicht stört. Komm mit, kleine Alex, wollen wir dich ins Bettchen bringen?“ Der leise Spott in der Stimme war nicht zu überhören, in diesen Minuten verzieh ich ihm doch einfach alles.
Schweigend folgten wir der jungen Frau, erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass er meine Hand nahm, wieder strich er behutsam mit dem Daumen darüber. Am Rande hörte ich Elfriede noch darüber schimpfen, dass sich Michael und ich ein Zimmer teilten, ohne tatsächlich zusammen zugehören. Nur wir beide wussten, dass das sich gerade zu ändern begann.
„Gute Nacht …“, wünschte Sarah nur, kaum dass sie die Tür zu dem kleinen Zimmer geöffnet hatte. Sie verschwand so rasch, dass wir diesen Gruß nicht einmal mehr erwidern konnten. Wir standen mitten im Raum, sahen uns kurz um. Es war tatsächlich nur ein Gästezimmer, das nur notdürftig eingerichtet war. Das Doppelbett nahm den größten Teil des Zimmers ein, in einer Ecke stand ein winziger Schrank, indem nur wenig Kleidung passte. Es erstaunte mich, dass sogar zwei bequem aussehende Stühle vor einem winzigen Tisch standen.
„Na, bist du mit deiner Besichtigung fertig?“, hörte ich ihn fragen, ich konnte nur nicken, während ich langsam zu dem kleinen Fenster ging. Auch wenn es draußen bereits dunkel war, starrte ich hinaus und sah doch nur mein Spiegelbild. Am Rande nur nahm ich wahr, dass Michael hinter mich trat. Behutsam legte er seine Arme um mich, sodass ich ein wenig zusammenzuckte. Dankbar lehnte ich mich an ihn, genoss seine Nähe, die mich ungemein beruhigte. Denn noch immer wühlte mich das schon einige Zeit zurückliegende Gespräch ein wenig auf, von dem Schock, den es verursacht hatte, wollte ich erst gar nicht reden. Erst jetzt begriff ich, warum gegen meinen Peiniger von damals nichts unternommen worden war, aber rechtfertigte Freundschaft solche Dinge? Im Stillen verneinte ich diese Frage auch gleich selbst.
Hinter mir bewegte sich Michael und holte mich damit wieder zurück in die Realität. „Da bist du ja wieder …“, murmelte er leise vor sich hin. „Ich bestehe nämlich auf deine vollständige Aufmerksamkeit.“ Versonnen lächelte ich vor mich hin, als ich diese Worte endlich begriff. „Natürlich …“, murmelte ich vor mich hin. Ich fragte mich, ob ich ihm von meinen Gedanken überhaupt erzählen sollte. Aber hatte er nicht schon den Großteil vor dem Abendessen von Kurt Schmidtmayer selbst erfahren. Nur von meinen Gefühlen und Gedanken konnte er absolut nichts wissen, auch wenn ich meinen Tränen freien Lauf gelassen hatte.
Ohne lange zu überlegen, begann ich von dem Erlebten zu berichten, redete ohne ihm die Chance zu geben, Zwischenfragen zu stellen, die Worte sprudelten einfach aus mir heraus. Und ich merkte schon während der Geschichte, dass mir das Reden gut, ja, sogar ausgesprochen gut tat. Es befreite mich von einer ungeheuren Last. Ich fragte mich, warum ich mich nicht viel früher jemanden anvertraut hatte, ich hätte sicherlich so manches anderes gesehen, das mir mein Leben erschwert hatte. Aber noch war es ja nicht zu spät.
Erschöpft lehnte ich mich an Michael, als ich endlich fertig war mit meiner Geschichte, oder war Beichte vielleicht das richtigere Wort dafür? Längere Zeit blieb es ruhig in dem kleinen Zimmer. Zaghaft wandte ich mich ihm zu, schaute verunsichert in seine Augen, darauf hoffend, darin etwas lesen zu können. Natürlich konnte ich das nicht.
Er musterte mich eine Weile, ich merkte, dass er nach Worten suchte und die Richtigen fürs Erste nicht finden konnte. Er öffnete zwar einige Male seinen Mund, ohne dass etwas zu hören war. „Warum hast du nie etwas davon erzählt, Alex?“, brachte er endlich über die Lippen. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Das weiß ich doch auch nicht, vielleicht habe ich die richtige Person noch nicht gefunden, der ich so etwas anvertraut hätte. Nach all den Jahren klingt das doch irgendwie unglaubwürdig oder an den Haaren herbeigezogen.“, stellte ich fest. Michaels Blick sagte mir genau das, was ich gerade laut ausgesprochen hatte. Wusste ich es doch …, dachte ich im Stillen bei mir.
Behutsam drehte er mich zu sicher herum, legte vorsichtig seinen Kopf an meinen und wusste vorerst nicht, was er sagen sollte, zu sehr war er noch geschockt, glaubte ich und ließ ihm die Möglichkeit, noch etwas darüber nachzudenken. Erschrocken schaute ich zu ihm auf, als er den Kopf hob und mir in die Augen blickte. „Weißt du, Alex, ich kann dir nicht sagen, ob ich dir der Partner sein kann, den du brauchst und verdienst …“, brachte er endlich über die Lippen, mich nicht aus den Augen lassend. „Warum probieren wir das nicht einfach aus, Michael Naseband, auch wenn ich noch nicht sagen kann, wann ich bereit sein werde, in allen Bereichen für dich da zu sein. Aber ich werde daran arbeiten.“, versprach ich leise. „Du hast alle Zeit der Welt …“, meinte er ernst, als er begriffen hatte, wovon ich gesprochen hatte. Sachte küsste er mich auf die Nasenspitze, darauf wartend, wie ich darauf reagieren würde. Verträumt lächelte ich zu ihm auf, schmiegte mich einfach wieder in seine Arme, denn es gefiel mir, was im Moment mit mir geschah. Ich fragte mich nur, warum ich es in den letzten Jahren nicht zugelassen hatte. Michael drückte mich kurz sehr fest an sich, ehe er eine Hand unter mein Kinn legte und mich mit einem sanften Druck zwang, wieder zu ihm aufzuschauen. Vorsichtig senkte er seinen Kopf dem meinen entgegen, seine Lippen begannen mit meinen zu spielen. Erst als seine Zunge behutsam nach Einlass verlangte, öffnete ich meinen Mund zaghaft und ließ damit einen wunderbaren Kuss zu, in den ich völlig hinein kippte. Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, für mich waren nur mehr Michael und unsere gerade erwachende Liebe wichtig. Für mich war es im Moment unverständlich, dass ich solche Gefühle bisher nicht an mich herangelassen hatte. Sie waren doch viel zu schön, um nicht voll ausgekostet zu werden, egal, welch böse Erinnerungen ich aus meiner Kindheit auch mitgenommen hatte. Vergessen würde ich sie mit Sicherheit nie, aber die Liebe zu ihm würde es schaffen, dass sie in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses verbannt werden würden ….