Branco hatte sich am Morgen, als alle Häftlinge bei der Arbeit waren, zur Tür geschleppt und spähte durch einen Spalt hinaus. Als zwei Wachen tatsächlich Alex vorbeizerrten, hatte er das Gefühl, der Boden unter ihm würde aufreißen und ihn verschlingen. Sein Herz krampfte sich zusammen, als sich kurz ihre Blicke trafen. Er sah ihre Panik, aber auch ihre Weigerung, als er ihr stumm Hilfe anbot. Sie wusste ebenso gut wie er, dass das nur seinen Tod zur Folge hätte, also bat sie ihn ebenso stumm, das Geschehen zu ignorieren. Müde und unter Schmerzen schleppte er sich zu seinem Bett zurück, krampfhaft bemüht, seine Gedanken im Zaum zu halten, um nicht durchzudrehen. Er war bereit, alles für Alex zu tun, deshalb legte er sich wieder in sein Bett, zog sich die Decke über den Kopf und gab sich erneut seiner eigenen Hilflosigkeit hin.
Oberst Naseband schaute unzufrieden über den Schreibtisch. "Die schicken immer mehr Leute her. Die Baracken platzen aus allen Nähten, wen das so weitergeht. Als gäbe es keine anderen Lager in Deutschland." Zwischen seinen Fingern drehte er die Pfeife, die er mit einem dankbaren Nicken von Gerrit angenommen hatte. Über den Lehrgang hatte Gerrit ihm in einem Satz berichtet, als er am vergangenen Tag kurz im Büro seines Vorgesetzten gewesen war. Über Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch und seine Eindrücke von Berlin hatte er doch einige Worte mehr verloren. Jetzt stand er vor dem Schreibtisch, sein Blick war auf die Wand hinter dem Oberst gerichtet. "Lassen wir die Häftlinge härter arbeiten, dann erledigt sich das Problem von selbst. Die sollen das Lager doch eh nicht wieder verlassen, oder?" "Wie kommst du denn darauf?" Interessiert sah er Gerrit an. "Ganz einfach. Keiner der Inhaftierten hat eine vernünftige Gerichtsverhandlung bekommen. Zumindest keiner von denen, die seit Kriegsbeginn hier angekommen sind." "Kluger Junge. Haben dir wohl doch einiges beigebracht in Berlin." Er sah das Funkeln in Gerrits Augen. "Ich weiß, du bist erwachsen. Wo ist Robert? Wieso hängt er mal nicht an deinem Jackenzipfel, wenn man ihn bräuchte?" "Er bat mich um etwas Freizeit. Er meinte, er wolle sich etwas vergnügen." Gleichgültig sah er seinen Vorgesetzten an. Der lehnte sich in seinem Sessel zurück. "Nicht, dass ich ein Problem damit habe, aber Robert scheint es geradezu einen sadistischen Spaß zu machen, die Häftlinge zu quälen." "Uns hat man in der Schule beigebracht, dass Juden weniger Schmerz empfinden, von daher soll er sie ruhig härter ran nehmen. Bei der Arbeit machen wir das doch auch. Und was die Kommunisten und Verräter des Deutschen Reiches angeht… Sie sind doch selber Schuld, dass sie hier gelandet sind. Sollen sich nicht beschweren, das hier ist ein Arbeitslager, kein Urlaub." "Du hasst jeden dieser Leute mit einer Ausdauer und Inbrunst, die selbst mir fremd ist. Gerade die Kommunisten." "Die reden doch nur Müll." Verständnislosigkeit und Wut brannten in Gerrits Augen. "Wenn die Dinge nicht so gekommen wären, wie sie gekommen sind, würde ich wahrscheinlich auf der Straße leben, betteln oder stehlen. Für einen hart arbeitenden Mann wie mich bietet dieser Staat eine Perspektive, eine Zukunft. Ich werde jeden Menschen bekämpfen, der mir diese Zukunft nehmen will. Wie Sie sehen, Oberst, ich schütze nur mich selber." "Und damit gleichzeitig den Staat. Wenn alle so denken würden, hätten wir keine Arbeit." "Doch. Die Juden sind trotzdem noch da." Gerrit sah zur Tür, als diese geöffnet wurde. "Na, Druck abgebaut?" Robert steckte hastig sein Hemd in die Hose, um sich nicht den Unmut seiner Vorgesetzten zuzuziehen. Er zog seine Uniform glatt und salutierte. "Jawohl." Auf seinen Lippen lag ein gemeines Grinsen. "Geht mit den Gefangenen vorsichtiger um. Die letzte Dame ist nach eurer Behandlung fast gestorben." "Na und?" "Es ist nur dem Führer erlaubt, Todesurteile anzuordnen. Das liegt nicht in deiner Entscheidungsbefugnis, Robert. So wichtig bist du nicht." Gerrit sah ihn streng an. "Verzeihung, Leutnant." Robert senkte den Blick. "Wir werden uns natürlich etwas zurück halten, wenn du das wünscht." Gerrit nickte, salutierte und ging raus, Sekunden später folgte ihm Robert. Die beiden gingen in Richtung der Wohnbaracken. Dabei trafen sie auf zwei Soldaten, die eine Gefangene mit sich schleppten. Die Anstaltskleidung der Frau war teilweise zerrissen, blutverschmiert und saß unordentlich. Ihr Beine schienen ihr Gewicht kaum tragen zu wollen, sie hing im Griff der Soldaten, willenlos, wie es schien. Als sie direkt neben ihnen war, hob die Frau den Kopf. Gerrits Blick glitt über das Häufchen Elend. Über den kahl rasierter Schädel, die fahle, von Mangelernährung gezeichnete Haut, die sich über die Wangenknochen spannt und jetzt von Tränen benetzt war, die aufgesprungenen Lippen, die sie fest zusammen presste, um ihren Peinigern nicht noch mehr Genugtuung zu geben. Blaue Flecken und blutende Wunden verunstalteten sie noch zusätzlich. Ja, sie schien willenlos zu sein, zusammengefallen und jeder Hoffnung beraubt. Obwohl sie eine der neuen Häftlinge sein musste, schien sie der Macht des Lagers seit Jahren ausgeliefert zu sein. Langsam hob sie den Blick und offenbarte darin den letzten Funken Willenskraft. Er brannte in ihren Augen. Das Braun, welches sonst sicher sehr sanft wirkte, sprühte vor Ekel und Hass. Als Gerrits Blick auf den ihren traf, als er sie direkt ansah, schien ein glühendes Messer in seine Herz zu dringen und das Eis zu schmelzen, welches ihm bisher den Blick auf das Elend der Häftlinge versperrt hatte. Mit Mühe unterdrückte er ein Aufkeuchen und auch das Bedürfnis, einen Schritt zurück zu machen, weg von diesem Bild. Denn er kannte diese Augen, kannte diesen Blick, kannte diese Frau. "Alex", wisperte er so leise, dass eigentlich niemand ihn hören konnte. Doch sie hatte ihn gehört, hatte ihren Namen von seinen Lippen abgelesen. Sie erkannte ihn so plötzlich wie er sie Sekunden zuvor und der flammende Hass in ihren Augen wurde noch stärker, richtete sich jetzt nicht mehr gegen die Wachen, die sie festhielten, sondern ausschließlich gegen ihn. Die beiden Soldaten zogen sie weiter, Gerrit blickte ihr mit leicht geöffnetem Mund nach. Robert stieß ihn an. "Hey, was ist los mit dir? Du bist ja ganz blass." "Das war…" Er stockte. "Behandele die Gefangenen besser, Robert." Hastig straffte er sich. "Sonst bekommen wir beide wirklich noch Probleme." Damit wand er sich um und ging mit ausladenden Schritten davon. Sein Freund musste nicht wissen, wer sie war, sonst würde es ihr in Zukunft noch viel schlechter gehen. Robert grinste breit, als er Gerrit weggehen sah. Genauso hatte er es sich erhofft. Gerrit schien vollkommen schockiert. Genau so wollte er ihn sehen, denn so war er verwundbar.
Gerrit saß auf seinem Bett, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, die Hände hinter dem Kopf ineinander verschränkt. Sein Kopf dröhnte nach dem Treffen von eben, sein ganzer Körper zitterte. Er konnte einfach nicht fassen, was gerade passiert war. Es war tatsächlich Alex. Seine ehemalige beste Freundin, die er damals nicht mehr sehen durfte, weil sie zu einem Viertel Jüdin war. Wieso war sie hier? Es gab hier zwar einige Juden, doch die hatten Straftaten begangen oder verfassungsfeindliche Gruppen unterstützt und man wusste nicht wirklich, wohin mit ihnen. Niemand war hier, nur weil sein Opa Jude war. Lager für Juden gab es, aber sie waren größer. Ob sie etwas getan hatte, um Leuten mit Einfluss in die Quere zu kommen und deshalb hier gelandet war? Vielleicht wusste man gar nicht, dass sie Jüdin war. Sie war ja immer ein Freigeist gewesen. Er hatte schon in der Schule gewusst, dass sie das irgendwann einmal in Schwierigkeiten bringen würde. Seiner Meinung nach musste man nicht ständig alles anzweifeln, was man nicht verstand oder gegen alles wettern, was einem nicht gefiel. Was ihn im Moment allerdings noch mehr störte, war die Frage, wieso er nicht wusste, dass sie hier war? Er war der Leiter der Wachleute in diesem Lager. Er war immer dabei, wenn neue Häftlinge kamen. Dafür fand er nach einigem Grübeln nur eine vernünftige Erklärung. Sie musste am gestrigen Tag angekommen sein. Er hatte es noch nicht geschafft, sich durch die Papiere zu arbeiten, da er erst am späten Abend wieder im Lager angekommen war. Er seufzte und richtete sich ein wenig auf. Er und Alex hatten jetzt also wieder miteinander zu tun, nur dass er diesmal Geld und Einfluss hatte und sie war diejenige, die auf ihn angewiesen war. Schaudernd dachte er wieder an ihren hasserfüllten Blick. Sie hatte in dem uniformierten Mann nicht auf den ersten Blick ihren alten Freund wieder erkannt, aber als diese Gewissheit in ihr Hirn gedrungen war, hatte sie im selben Moment noch andere Dinge kombinieren müssen. Anhand seiner Uniform erkannte man, dass er der Leiter der Wachen war. Damit wusste er, was die machten. Sie konnte nicht wissen, dass ihm nicht bekannt war, dass sie hier inhaftiert wurde. Also machte sie ihn dafür verantwortlich, was man ihr angetan hatte. Aber glaubte sie wirklich, dass er das zugelassen hätte, trotz aller Dinge, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten? Gerrit verfluchte sich innerlich dafür, dass er seinen Leuten so viele Freiheiten gab im Umgang mit den Häftlingen. Bisher waren ihm die Häftlinge egal gewesen und auch, was mit ihnen geschehen war. Sollten seine Leute doch ihren Frust an ihnen auslassen. Noch keiner der Inhaftierten hatte sich beschwert. Er selber ging auch nicht zimperlich mit den Häftlingen um. Doch jetzt fing er an, darüber nachzudenken, was er ihnen antat, wie unglaublich hilflos sie sich fühlen mussten, wie ausgeliefert. Er fluchte und schüttelte hastig den Kopf. Diese Gedanken durfte er nicht zulassen, sie waren gefährlich, vor allem für ihn. In ihm stieg die Gewissheit hoch, dass er das Geschehene auch dann nicht hätte verhindern können, wenn er gewusst hätte, dass sie hier war. Er konnte sich einfach nicht für einzelne Häftlinge einsetzen. Auch wenn er es in diesem Fall gewollt hätte. Eine Weile lief er im Zimmer auf und ab, überlegte, was er tun sollte. Dabei fragte er sich innerlich, ob Robert sie wirklich nicht erkannt hatte, oder ob er ihn einfach ins offene Messer hatte laufen lassen. Doch wieder einmal siegte sein Vertrauen zu seinem besten Freund. Schließlich beschloss er, einfach seine Arbeit zu erledigen und alles andere auf sich zukommen zu lassen. Und zu dieser Arbeit gehörte auch, dass er sich die neuen Häftlinge ansah, die er offensichtlich bisher noch nicht gesehen hatte. Schließlich war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese sich an die hier herrschenden Regeln hielten. Nach einem Blick auf seine Uhr straffte er sich, zog seine Uniform zurecht und ging nach draußen. "Robert", bellte er zum Zaun hinüber, wo sein Freund mit einigen anderen Wachen stand und lachte. Der kam sofort zu ihm, er kannte diesen Tonfall in Gerrits Stimme. "Wieso hast du mich nicht informiert, dass während meines Lehrgangs neue Häftlinge gekommen sind?" "Das habe ich, Gerrit. Bestimmt. Aber du hattest mit der Neueinteilung der Baracken zu tun gehabt und danach warst du so kaputt, dass ich das Gefühl hatte, dass du gar nichts mehr mitbekommen hast. Ich habe dir sogar die Akten hingelegt, aber du hast sei nicht beachtet und deshalb habe ich sie ins Büro unseres Vorgesetzten gebracht. Sie sind alle im Archiv." Gerrit brummte leise. "Gut", sagte dann. "Dann war es mein Fehler. In welcher Baracke sind die Leute und weshalb sind sie hier? Wie viele sind es?" Robert grübelte kurz. "Die Männer sind in Baracke 2 untergebracht. Es waren fünf. Und die Frauen sind in der 4. Sie waren zu dritt. Also acht neue Häftlinge. Sie wurden bei einer Razzia erwischt. Sie druckten Flugblätter für die Kommunisten. Wir haben nur die Rädelsführer hier, die anderen sind im Gefängnis in München." "Wurden die, die hier sind, verurteilt?" "Ja, alle. Zu 20 Jahren Lagerhaft und Zwangsarbeit." "Gut. Wo hast du sie eingeteilt?" "Nachdem im Dezember einige der Hilfsarbeiter in der Forst gestorben sind, habe ich sie erst einmal dorthin gesteckt. Ich dachte, du würdest sie umsortieren, wenn du die Akten durch hast. Aber sie sind erst seit gestern hier, also keine Hektik." Robert war mit sich zufrieden. "Haben sie einen Anführer?" Das Grinsen gefiel Gerrit nicht, welches auf dem Gesicht seines Freundes erschien. Der nickte eifrig. "Ja. Und du kennst ihn. Darum hat es mich ja so gewundert, dass du die Akten vollkommen ignoriert hast." "Du hast sie doch auch nicht gelesen. Machst du doch nie." "Sicher nicht. Aber ich kannte ja die Männer auch so, die habe ich nämlich in Empfang genommen. Schneider hat sich um die drei Damen gekümmert." Robert stockte kurz. "Die kenn ich auch noch nicht weiter, bis auf die Kleine von eben. Den Rest schau ich mir morgen an." Gerrit wurde heiß. Hatte Robert Alex wirklich nicht erkannt? Sicher, sie war erwachsener geworden und sehr dünn. Und er hatte sie auch früher nicht oft gesehen. Hoffentlich hatte er Recht mit der Vermutung. "Ich kümmere mich schon drum. Mach nicht meine Arbeit. Oder hast du nicht genug zu tun?" "Ich wollte nur helfen. Natürlich habe ich auch so genug zu tun." Gerrit drehte sich um und ging zur Gefangenenbaracke 2. "Dann ist ja gut." Mit einem Grinsen folgte Robert ihm. Sein lieber Freund hatte also tatsächlich Angst, dass er Alex erkannte hatte. Das entwickelte sich besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Aber für seinen Plan war es wichtig, dass er vorerst so tat, als hätte er Alex nicht erkannt. Dann würde sich Gerrit hoffentlich um sie kümmern, vielleicht sogar so sehr, dass er Ärger bekommen würde, was wiederum gut für ihn selber war. "Ist er hier oder bei der Arbeit?" Gerrit deutete auf die Baracke, als ihm einfiel, dass es heller Tag war. "Er konnte nicht arbeiten, weil er mir dumm gekommen ist und sich deshalb eine ausgiebige Bestrafung verdient hat." "Dumm gekommen?" Roberts Augen funkelten. "Er sagte, ich sei ein Feigling." Gerrit grinste leicht. "Der hat ja Mumm. Ich schau ihn mir mal an." Während Robert in der Tür stehen blieb, ging Gerrit hinein und sah sich im schummrigen Licht um, welches durch die kleinen Fenster fiel und den Innenraum erhellte. Hier standen die doppelstöckigen Betten, die die Häftlinge zum Schlafen benutzten. Gerrit war hier nicht gern. Es war kalt, die Luft war feucht und stank widerlich. Er entdeckte eine Gestalt auf dem unteren Bett einer der Lagerstätten im hinteren Teil der Baracke. Dort lagen immer die Neuen, es war am Kältesten, da der Ofen vorn an der Tür war. Der Mann hatte sich mit seiner dünnen Decke zugedeckt und lag mit dem Gesicht zur Wand. Als Gerrit nur noch wenige Schritte vom Bett entfernt stand, brüllte er: "Aufstehen, sofort." Die Decke wurde zurückgeworfen, der Mann darunter erhob sich taumelnd und offensichtlich unter Schmerzen. Seine rechte Hand hatte er in seinen Magen gepresst, der Blick war gesenkt. "Schau mich gefälligst an." Sein Gegenüber hob den Kopf, Spuren von Roberts Rache waren in seinem Gesicht zu sehen. Sein linkes Auge war zugeschwollen, am Kopf hatte er eine tiefe Platzwunde, die Nase stand leicht schief, schien gebrochen worden zu sein, die Lippen waren mehrfach aufgeplatzt, das Kinn war blau-lila. Gerrits Augen trafen seinen Blick und zum zweiten Mal an diesem Tag holte ihn seine Vergangenheit ein. "Branco", stellte er fassungslos fest. "Gerrit." Gerrit war erstaunt, denn die ewige Angst in den braunen Augen war verschwunden. Sein alter Klassenkamerad konnte vor Schmerzen kaum stehen, doch er hatte keine Angst vor ihm. Hatte er sich aufgegeben? War es ihm deshalb egal, was mit ihm geschah? "War ja klar, dass du in die Fußstapfen deines Vaters trittst." "Was bitte sollte ich sonst machen?" Er keuchte schwer. "Keiner wollte mir Arbeit geben, weil mein alter Herr etwas getan hat, was den hohen Tieren in München nicht passte. Sollte ich verhungern?" "Sicher nicht. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Du hast deine Entscheidung getroffen. Zum ersten Mal im deinem Leben hast du Stellung bezogen." Er lachte gehässig. "Leider auf der falschen Seite." "Das kann man sehen, wie man will. Mit dir und Robert möchte ich bestimmt nicht tauschen." "Warum nicht? Wir haben Macht, Einfluss, Geld." "Ihr seid Schafe, die einem Leithammel folgen. Blöd blökt ihr seine Parolen nach und merkt nicht, dass ihr auf den Abgrund zusteuert." Gerrit hob die Hand und schlug Branco mit dem Handrücken so hart ins Gesicht, dass der zu Boden stürzte. Doch er blieb nicht liegen, sondern stemmte sich schnell wieder hoch. Erstaunt über diesen Kampfgeist, drehte Gerrit sich zu Robert um, der bei dessen Schlag applaudiert hatte. "Sorg draußen für Ordnung. Mit unserem Schwächling hier werde ich noch allein fertig." Der salutierte lässig und verschwand. Hinter sich schloss er die Tür. Gerrit wand sich wieder Branco zu. "Du hast mehr Mumm als früher. Viel mehr." "Und du noch weniger Ehre im Leib." "Wie meinst du das?" "Du bist doch der Chef der Wachleute, oder?" Er deutete auf Gerrits Uniform und sein Rangabzeichen. Seine Augen funkelten vor Wut, seine Stimme bebte. "Ja, das stimmt." "Wie konntest du es zulassen, dass sie Alex so weh tun? Ich war kurz an der Tür, als sie sie geholt haben. Verachtest du sie wirklich so sehr, dass du das gestattet hast?" Plötzlich fühlte Gerrit sich nicht mehr so selbstsicher. Branco hatte genau seinen wunden Punkt getroffen, von dessen Existenz Gerrit bis vor einer halben Stunde noch nichts gewusst hatte. "Bestimmt nicht. Aber erstens kann ich keine Rücksicht auf einzelne Häftlinge nehmen und zweitens wusste ich nicht, dass sie hier ist." "Hättest du sie beschützt, wenn du es gewusst hättest? Sie hat dir immer geholfen, immer und immer und immer wieder." Verachtung lag in seiner Stimme. Gerrit schwankte und ging zum Gegenangriff über. "Wieso ist sie überhaupt hier? Weil du sie in diese beschissene Organisation gebracht hast." "Nein. Das habe ich nicht." Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Überlegen sah er ihn an. "Im Gegenteil, sie hat mich zu den Treffen geschleppt. Sie wollte, dass ich das Werk meines Vaters fortsetze. Sie hat ihn bewundert. Und ich bin ihr gefolgt. Weil sie eine tolle Frau ist, der man einfach nicht widersprechen kann." Branco Augen blitzten vor Sehnsucht. "Ihr seid…" Gerrit trat einen Schritt zurück. "Wir wollten heiraten, Gerrit." Als er sah, wie weh er ihm mit diesen Worten tat, lächelte er und tat etwas, was der vor ihm stehende Mann so oft getan hatte, er trat nach. "Ich fand sie weinend im Park, als du sie in die Wüste geschickt hast, weil sie deinem persönlichen Aufstieg im Weg stand. Sie konnte es nicht verstehen, Monate lang hat sie dir nachgetrauert, bis sie dich endlich aus ihrem Leben verbannen konnte." Er senkte den Blick. "Aber du hattest ja deine Rache." "Verflucht noch mal, ich wusste es nicht, dass sie hier ist. Sie ist deine Freundin, wieso hast du ihr nicht geholfen? Wieso hast du dich meinen Wachen nicht todesmutig in den Weg gestellt?" "Weil sie mich mit einem einzigen Blick zurück gehalten hat und mir damit das Leben rettete. Dein Wachen hätten mich erschossen und sie trotzdem mitgenommen. Das weißt du sehr genau. Es hätte weder ihr noch mir geholfen." Gerrit schwirrte der Kopf. "Halt dich zurück. Auch um ihretwillen. Wenn Robert raus findet, wer sie ist, wird sie noch weit mehr leiden als heute." "Das weiß er doch längst. So blöd ist er auch nicht." "Doch." "Dann hilf ihr doch, wenn sie dir auch nur noch ein wenig bedeutet." "Ich kann es nicht", sagte Gerrit laut. Schnell senkte er die Stimme wieder. "Robert ist scharf auf meinen Posten, auch wenn er es nicht zu sehr raushängen lässt. Wenn ich anfange, Gefangene aus persönlichen Gründen zu bevorzugen, schwärzt er mich an. Und Alex hilft das in keiner Weise." "Doch, es würde sie freuen, dich im Staub kriechen zu sehen." Um nicht erneut zuzuschlagen, drehte Gerrit sich um und ging zur Tür. "Morgen gehst du wieder arbeiten. Du bist nicht so krank, dass du liegen müsstest." "Ich wollte auch heute gehen. Aber Robert hat mir unter Androhung neuer Schläge verboten, die Baracke zu verlassen." "Klar, wir sollen euch besser behandeln, Anweisung von oben. Wenn Oberst Naseband das mitbekommen hätte, hätte Robert Ärger bekommen." Gerrit war schon fast an der Tür, als Brancos leise Stimme ihn zurück hielt. "Zwei Monate, vielleicht drei, dann sind Alex Haare wieder soweit gewachsen, dass Robert sie auf jeden Fall erkennt, wenn er bisher wirklich nicht weiß, wer sie ist. Was willst du tun, Gerrit?" Diese Frage brannte in seinem Kopf, als er die Baracke verließ und sich auf den Hof begab.
Jetzt bekommt Gerrit langsam Gewissensbisse....eine echt blöde Situation, er kann ja nichts tun! Aber Branco scheint ihm ja die Augen geöffnet zu haben! Lg
Super Teil!!! Echt klasse, das in Gerrit jetzt wieder der nicht so Egoistische Mensch etwas zum Vorschein kommt!! Mal sehen was jetzt passiert... Und ob Robert mit seinem Plan durchkommt...... Freue mich schon darauf weiter zu lesen!!!
Als Branco sich am nächsten Morgen zusammen mit den anderen Gefangenen zur Arbeit schleppt, stand Gerrit am Fenster seiner Unterkunft und sah ihm nach. Er war wütend, dass er sich dessen Ton hatte gefallen lassen. Als Alex mit gesenktem Kopf an seinem Fenster vorbei lief, verschwand die Wut und wich der Bewunderung. Wenn der Frau, die er liebte, so mitgespielt worden wäre, hätte er nicht so ruhig und besonnen bleiben können. Das hatte er nie gelernt. Vielleicht war Branco viel stärker, als er es immer geglaubt hatte. Er schlug nicht zurück, brüllt nicht, aber in ihm schlummerte etwas, was genauso gefährlich wie ein Faustschlag sein konnte. Und dass Alex die stärkste Frau war, die er kannte, das wusste er schon seit sehr langer Zeit. Gerrit fuhr sich mit der Hand über sein Kinn. Stoppeln wuchsen dort und verlangten dringend nach einer Rasur. Er ging zu einer Schüssel, schüttetet Wasser hinein und sah in den Spiegel, der in Gesichtshöhe vor ihm hing. "Was soll ich tun?", fragte er sein Spiegelbild. "Was soll ich nur tun?" Da er keine Antwort erhielt, rasierte er sich, zog sich an und machte dann einen Rundgang durchs Lager. Man grüßte ihn, berichtete ihm von den Vorfällen der Nacht. Einer der Gefangenen hatte versucht, auszubrechen. Mit genauso wenig Erfolg wie alle anderen vor ihm. Der mit Strom versetzte Drahtzaun hatte den Mann getötet. Seine Leiche lag noch immer an der Stelle, wo er vom Zaun herunter gefallen war. "Lasst ihn von den Gefangenen vergraben." Er ging weiter, hörte wie Befehle gegeben wurden und sah zwei Gefangene, die eigentlich zu krank zum Arbeiten waren, aus der Baracke 1 treten. Sie nahmen sich Spaten, schleppten den Toten unter schwerer Bewachung aus dem Lager und hoben eine Grube für ihn aus. Wie dünn die Männer doch waren. Gerrit war sich des schlechten Ernährungszustandes der Häftlinge durchaus bewusst, aber was das für die Menschen bedeutete, hatte er bis jetzt versucht zu verdrängen. Er schüttelte innerlich den Kopf. Das Wort Menschen hatte er bis jetzt auch noch nicht gebraucht, wenn er über die Häftlinge nachgedacht hatte. Sie waren für ihn immer Parasiten im Fleisch seines Vaterlandes gewesen, Gestalten, die ihm und dem Land schaden wollten, aber Menschen? Die zwei Männer kamen zurück. Einer hustete, rang verzweifelt keuchend nach Luft und sackte dabei in die Knie. Würgend hockte er in seinen Lumpen auf dem Boden, während ihm ein dünner Blutsfaden über die Lippen rann. Einer der Soldaten trat nach ihm, um ihn hochzuscheuchen. "Hey, Rainer, lass ihn in Ruhe." Gerrit ging auf die Männer zu. "Der simuliert, Leutnant." "So sieht es für mich nicht aus. Bringt ihn zum Arzt und ich will einen Bericht haben." "Arzt?" Karl Schneider sah Gerrit an, als wäre der nicht ganz bei Sinnen. "Zum Arzt, weil ein Gefangener eine Erkältung hat?" "Er hustet Blut. Ich möchte keine Seuche im Lager." "Dann knallen wir ihn doch einfach ab", warf ein anderer der Wachleute ein, der gerade vorbei ging. "Gut, erschießt ihn. Und wenn es eine Seuche ist, werdet ihr euch hoffentlich nicht anstecken, wenn ihr ihn verbuddelt." Damit wand er sich um und ging. Die Wachen sahen sich ein wenig irritiert an, dann zogen zwei von ihnen den Kranken hoch und schleiften ihn zum Lagerarzt. Der stand eine halbe Stunde später vor Gerrit und erstattete Meldung. "Der Mann ist todkrank. Seine Lunge arbeitet kaum noch." "Ist die Behandlung hier im Lager daran Schuld?" "Nein, sicher nicht. Ich habe mir seine Akte angesehen, er war schon krank, als er herkam." "Wird er sterben?" "Sicher. Wir alle müssen sterben." Der Mann lächelte leicht. "Er hat noch eine Woche, vielleicht zwei. Und die werden richtig qualvoll. Ich habe ihn in seine Baracke zurück bringen lassen." "Ist es ansteckend?" "Nein, definitiv nicht." "Danke. Sie können wegtreten." Der Arzt salutierte und verschwand. Gerrit grübelte eine Weile, stand dann auf und ging zu dem Kranken. Er stand neben dessen Bett und blickte auf ihn hinab. "Unser Arzt hat dir gesagt, wie es um dich steht?" "Ja, mit einem Strahlen im Gesicht", krächzte der Mann. "Kann ich mir denken. Hör zu", er hockte sich neben den Mann und sah in dessen vor Fieber glänzende Augen. "Ich kann dir das Leid der nächsten zwei Wochen ersparen." "Ich bin seit zwei Jahren im Gefängnis und in diesem Lager. Die Gestapoverhöre waren weit unangenehmer als das hier, Leutnant. Ich bin ein gläubiger Katholik, Selbstmord, auch wenn er durch Ihre Männer ausgeführt wird, kommt nicht in Frage. Wenn Sie mich erschießen wollen, tun Sie es. Aber ich werde Sie nicht darum bitten und es auch nicht befürworten." Gerrit nickte, stand auf und ging. Der Mithäftling, der das Gespräch verfolgen konnte, lachte heiser auf. "Du Idiot. Unser Granitblock vom Dienst bietet dir einen raschen Tod und du ziehst es vor, hier dahinzuvegetieren. Zum ersten Mal zeigt der Mann eine menschliche Regung und du trittst ihm in den Arsch." "Ich habe mit meinem Leben schon lange abgeschlossen. Die Schmerzen fürchte ich nicht, denn Gott wird mich im Jenseits willkommen heißen und das Paradies wird mir für meine Qualen auf Erden ein Ausgleich sein." Seine Stimme klang plötzlich zackig. "Aber ich kann doch nicht mit dem Gewissen sterben, dem deutschen Vaterland eine Kugel schuldig zu sein." Sein höhnisches Gelächter ging in ein heiseres Husten über.
Für Gerrit war die sture Haltung des Mannes unverständlich. Was hatte der davon, außer unmenschliche Qualen. Er hielt inne. Da war es wieder, dieses Wort. Mensch. Er gestand sich kurz ein, von den Häftlingen als Menschen zu denken. Das widersprach dem, was er gelernt hatte, in keiner Weise. Sie waren Menschen, Menschen zweiter Klasse, weniger wert als er selber. So hatte man es ihm beigebracht, das war es, woran er glaubte. Wieder sah er das Gesicht des Mannes vor sich, die tief in den Höhlen liegenden Augen, die eingefallenen Wangen, die graue Haut. Einzig das Feuer in seinen Augen, wenn auch nur geschürt vom Fieber, hatte dieses Wesen vor ihm noch als lebendig gekennzeichnet. Was sagte ihm dies? Dass sie die Körper der Menschen brechen und vernichten konnten, aber ihre Seelen erreichten sie meist nicht. Einige wechselten die Seiten, wurden zu Verrätern der eigenen Leute, aber das waren verschwindend wenige, die die Qualen einfach nicht ertragen konnten. Und das waren auch die Leute, die Gerrit abgrundtief hasste. Langsam, so langsam, dass er es gar nicht merkte, veränderte sich das ausgemergelte Gesicht vor seinem geistigen Auge, wurde kleiner, weicher, die Augen färbten sich braun, bis er plötzlich Alex vor sich sah. Es würde nicht lange dauern, bis sie aussah wie die anderen Häftlinge. Sie war auch jetzt schon sehr dünn, hatte die letzten Monate wahrscheinlich nicht viel zu essen gehabt. Zutiefst verunsichert begab er sich in seine Unterkunft. Das Robert ihm grinsend nachsah, merkte er nicht.
Robert sah Gerrit verwirrt zu dessen Unterkunft gehen, nein schleichen. Er schien unendlich müde und so kraftlos, wie er ihn noch nie erlebt hatte, seit er ihn kannte. Sicher hatte er gehofft, dass der Anblick von Alex ihn schocken würde, sonst hätte er sie nicht so hart ran genommen und er hätte ihm auch viel eher gesagt, dass sie im Lager ist und dass er sie selbstverständlich erkannt hatte. Dass sein Plan allerdings so schnell solche Früchte tragen würde, hätte er nie im Leben gedacht. Für ihn war das ein Beweis, dass sein Freund und Vorgesetzter nicht wirklich an das glaubte, woran er als relativ hochrangiger SS-Offizier glauben sollte. Ein Beweis, dass Gerrit diese Jüdin Alex mehr wert war als der Führer und das große gemeinsame Ziel.
Gerrit war tatsächlich fertig. Anders konnte man es nicht nennen. Seit die Wandlung angefangen hatte, damals als die rechten Mächte Deutschland übernommen hatten, war er damit beschäftigt, die neue Zeit für sich zu nutzen. Er hatte gelernt, sich angepasst und gehorcht. Darin war er gut gewesen und das hatte sich ausgezahlt. Natürlich waren hin und wieder leise Zweifel oder Fragen in ihm aufgetaucht, aber er hatte sie schnell unterdrückt und sich auf das Wesentliche konzentriert. Er hatte nicht das Bedürfnis gehabt, selber zu denken, etwas in Frage zu stellen. Er hatte einfach die Augen und sein Herz verschlossen, um aus dem Elend seiner Kindheit heraus zu kommen. Für ihn gab es nichts wichtigeres. Doch jetzt hatte er sich geöffnet. Alex hasserfüllter, vorwurfsvoller Blick hatte ihn so tief ins Herz getroffen, dass er es zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt spürte. Und Brancos ehrliche, vorwurfsvolle Fragen, trotz der Art, wie er ihn immer gedemütigt und misshandelt hat, hatten ihm die Augen aufgezwungen. Und zwar mit so brutaler Härte, dass er damit kaum umgehen konnte. Das ganze Weltbild, welches er auswendig gelernt hatte, an welches er versucht hatte, zu glauben, war gerade mit einem Stoß ins Wanken geraten. Und Gerrit konnte es nicht aufhalten. Er sah die Risse, die sich durch seine Ansichten zogen, die immer breiter wurden und ihn zu zerstören schienen. Ihn oder den Panzer, den er sich zu seinem eigenen Schutz zugelegt hatte. Ihm schwirrte der Kopf. Und ihm war furchtbar schlecht. Er dachte an sich selber als kleines Kind, welches zitternd in einer Ecke der Wohnung gesessen hatte. Verängstigt hatte er immer wieder auf die Schläge seines Vaters gewartet und in diesem Punkt war er von ihm nie enttäuscht worden. Er dachte an seinen ersten Schultag, wo er mehr konnte als die anderen, weil Alex ihm kurz zuvor ein wenig erzählt hatte. Er dachte an die schlimmen Dinge, die er Branco oft angetan hatte, um sich stark zu fühlen und er schämte sich. Er dachte an die Sprüche, die er anderen Leuten an den Kopf geworfen hatte, an die Schläge, die er ausgeteilt hatte, ohne provoziert worden zu sein und er schämte sich. Zum ersten Mal in seinem Leben schämte er sich für etwas. Und er dachte, dass vielleicht doch nicht alles richtig war, was er zu wissen glaubte. Und durch den kleinen Spalt der inneren Tür, die er gerade aufgestoßen hatte, stürzte so viel auf ihn ein, dass er von einem plötzlichen Schwindel erfasst zu Boden sank. Zitternd, das Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckt, kniete er keuchend auf den kalten Bodenbrettern und konnte nicht verhindern, dass ihm heiße Tränen über die Wangen liefen.
Als er sich wieder etwas gefangen hatte, verstand er den Ausbruch nicht mehr so richtig. Gut, seine Gedanken waren sehr wirr im Moment, aber er lebte doch gut. War er wirklich bereit, das alles aufzugeben? Ging es den Leuten hier wirklich so schlecht? Würden die Gefängnisse besser sein als dieses Lager? Er hatte angefangen, nachzudenken und genau hinzusehen. Das würde er nie wieder abstellen können. Er zog sich richtig an, wusch sich das Gesicht und ging zu seinem Vorgesetzten. "Oberst…" Der sah Gerrits steife Haltung, den ernsten Blick. "So förmlich?" "Ich würde mich gern ein wenig mehr in die Organisation des Lagers einarbeiten. Ich bin seit zwei Jahren hier, aber eigentlich kenne ich nur die Barackenbelegung, die Wacheinteilung und die Arbeitsstellen der Häftlinge." "Interesse an mehr lobe ich mir. Planst du eine Beförderung?" Die Augen des Oberst blitzten, denn es gab nur einen Poster, der höher war als der, den Gerrit bekleidete. Und das war sein eigener. Gerrit rang sich ein Lächeln ab, was hoffentlich locker wirkte. "Wer weiß? Man muss ja vorankommen." "Was möchtest du wissen?" "Wie funktioniert die Essensverteilung genau?" "Unsere Ärzte geben eine Empfehlung, wieviel ein Häftling am Tag braucht um zu überleben und die jeweils fürs Kochen zuständigen Häftlinge kochen das Essen dann. Sie sind auch für die Verteilung zuständig." "Geht das fair zu?" "Mehr oder weniger. Es wechselt ja ständig." "Kann denn jeder Häftling kochen?" Das tiefe Lachen des Oberst war zu hören. "Zum Leidwesen der Häftlinge, nein. Natürlich nicht. Die Leute sollen froh sein, dass sie überhaupt was bekommen." Gerrit schwieg kurz und nickte leicht. "Aber…" "Gerrit, ich hasse Sätze, die mit 'aber' beginnen." "Ich weiß, Oberst, aber wäre es nicht besser, wenn die Leute kochen, die nicht mehr raus können? Wir haben hier ältere Häftlinge, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. In letzter Zeit gibt es eigentlich keine anderen Urteile mehr." Der runzelte die Stirn. "Was ist denn mit dir los? Wir haben ein Problem mit der Überbelegung in diesem Lager und du hast Angst, dass den Häftlingen das Essen nicht schmeckt?" "Reiner Eigennutz", warf Gerrit schnell ein. "Wenn immer dieselben Leute kochen, lernen sie es. Das heißt, das Essen wird schmackhafter. Wenn es den Häftlingen schmeckt, sind sie zufriedener und können besser arbeiten. Wir kriegen schließlich Geld, je mehr Arbeit erledigt wird und vor allem, je besser." "Mmm." Zu Gerrits Verblüffung dachte der Oberst tatsächlich nach. "Anscheinend habe ich dich unterschätzt. Ich dachte, du kannst nur kämpfen und Befehle erteilen. Du bist ein guter Anführer für die Wachen. Aber so viel wirtschaftliches Denken habe ich dir gar nicht zugetraut." "Wie gesagt, ich möchte weiterkommen. Sicher, meine Bezahlung lässt sich sehen, aber es ginge noch besser. Und Sie wollen doch auch nicht schuften, bis sie irgendwann umkippen?" "Sicher nicht." Lachend lehnte sich der Oberst zurück. "Wir können hier alles umstrukturieren. Selbst in München interessiert es keine Sau, wie wir hier arbeiten, solange wir Häftlinge aufnehmen und es schaffen, uns selber zu finanzieren. Denken wir doch mal nach. Kochen könnten also die Leute, die zu schwach, alt oder krank sind, um zu arbeiten." "Krank nicht, Oberst. Sie könnten dadurch die anderen Häftlinge anstecken. Wir bräuchten ein Lazarett, damit sich nicht jede kleine Grippe gleich auf die ganze Baracke ausweitet. Das schwächt jedes Mal die Leistung." "Das habe ich mir auch schon überlegt. Wir könnten den alten Lagerschuppen ausbauen. Ein wenig von innen verkleiden, vielleicht mit diesen komischen beschichteten Holzplatten. Die kann man so wunderbar abwaschen. Einige Häftlinge könnten als Pfleger arbeiten, wir haben durchaus Ärzte hier sitzen, die zur körperlichen Arbeit nicht taugen." "Das ist noch ein Thema. Weder Sie noch ich haben viel Ahnung von Buchführung, aber wir haben Ladenbesitzer, Ingenieure, Buchhalter hier im Lager, die sich binnen eines Jahres kaputt schuften und sterben, ohne dass wir davon etwas haben. Warum nutzen wir nicht die Fähigkeiten der einzelnen Leute gezielter?" Der Oberst nickte eifrig und ließ sich vom Elan seines Untergebenen anstecken. Der sprühte plötzlich vor Ideen, wo er noch vor einigen Tagen stupide seine Arbeit verrichtet hatte. "Lass uns das ganze Mal überschlafen und morgen setzen wir uns hin und schauen mal, was wir schnell und was längerfristig umsetzen können." "Wir sind ein kleines Lager und damit flexibel. Wir können sicher das meiste sehr schnell erledigen." "Nahrung, Medizin, Arbeit." "Hygiene." "Viel zu tun. Packen wir es an." Gerrit stand auf und salutierte. "Danke fürs Zuhören." "Danke für die Ideen. Wenn sie erfolgreich sind, werden sie mir zugeschrieben." "Damit kann ich leben, Oberst." Mit einem Lachen scheuchte der ihn hinaus. Gerrit hatte Recht, in diesem Lager saßen Schätze, man musste sie nur heben. Warum war er nicht selber schon längst auf die Idee gekommen? Wahrscheinlich wurde er langsam alt. Er schüttelte den Kopf. Nein, andersrum. Er hatte Gerrits Fähigkeiten von Anfang an gesehen und jetzt kamen die Beweise für seinen guten Riecher.
Ein klasse Teil!!!! Da geht wohl Roberts Rechnung im Moment nicht auf, so angetan, wie der Oberst von Michael ist! Bin mal gespannt, wie schnell und vor allen dingen, was sie umstrukturieren!!!! Freue mich schon auf einen neuen Teil!!!
Robert fiel fast die Kinnlade herunter, als er am Morgen von den Ideen erfuhr. Gerrit sprühte geradezu vor Energie und auch der Oberst war begeistert. So hatte er das nicht geplant. Aber er hatte ja nicht ahnen können, dass sich Gerrits Niedergeschlagenheit so entwickeln würde. Und dass er die Haftbedingungen erleichtern wollte, passte Robert überhaupt nicht. Er genoss diese leidenden Wesen um sich herum. Sie zeigten ihm, wie gut es ihm ging. Leider konnte er nichts machen. Er beschloss zu warten und erst einmal zu sehen, ob sich für ihn dadurch eine Möglichkeit bot, vielleicht auch einige Früchte zu ernten, die seine beiden Vorgesetzten gerade säten. Schneider hingegen machte seinem Unmut laut Luft und sprach aus, was die meisten Wachleute dachten. "Besseres Essen, weniger Arbeit, dann tanzen uns die Häftlinge bald auf der Nase herum." "Keine Sorge", brummte der Oberst. "Darüber habe ich auch nachgedacht. Wir verschärfen die Strafen für alles. Wenn wir den Leuten hier ein besseres Leben bieten, dann erwarte ich strengsten Gehorsam und Loyalität. Wer nicht mitzieht, wird erschossen." Gerrit hob den Blick. "Oberst… erschossen? Wir dürfen doch gar nicht…" Er nahm ein Telegramm von Michael entgegen und las es. Derweil erklärte Oberst Naseband den anderen kurz, was im Schreiben stand. "Berlin hat die Befugnisse von Lagerleitern in Bezug auf Bestrafungen sehr gelockert. Wir dürfen jetzt schwere Züchtigungen vornehmen, das heißt, mehr als 20 Stockschläge bei geringen Vergehen und bei Fällen von Ausbruchsversuchen, aktivem Widerstand, Bildung von Geheimorganisationen, tätlichen Angriffen und Hochverrat bin ich berechtigt, die Todesstrafe zu verhängen. Und Hochverrat ist für mich, wenn ein Häftling versucht, sich eigene Vorteile zu verschaffen." Gerrit hatte das Schreiben inzwischen gelesen und es war wesentlich härter formuliert, als sein Vorgesetzter es gerade gesagt hatte. Eigentlich erlaubte es den Lagerkommandanten alles und nahm den Häftlingen jegliche Rechte, von denen sie eh nicht viele gehabt hatten. "Wir sollten die Häftlinge informieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man unseren guten Willen versuchen würde auszunutzen." "Du glaubst wirklich noch an das Gute in diesen Landesverrätern." Robert schüttelte ungläubig den Kopf. "Man sollte sie 24 Stunden am Tag schuften lassen bis sie umfallen." Einiger der Wachleute nickten leicht. Gerrit kürzte die Debatte ab. "Oberst Naseband hat sich bereits entschieden und ich erwarte, dass alle seine Ideen umgesetzt werden." Der lächelte geschmeichelt, weil Gerrit ihm so freiwillig den Ruhm überließ. "So ist es. Hier herrscht keine Demokratie und wir sind nicht an euren Meinungen interessiert. Ihr tut, was wir sagen. Und sollte ich mitbekommen, dass jemand von euch seinen Frust übermäßig an den Häftlingen auslässt, bekommt ihr Probleme von einem Ausmaß, welches ihr euch nicht vorstellen könnt. Vergehen werden gemeldet und Gerrit oder in schlimmeren Fällen ich selber verhängen die Strafen. Verstanden?" "Ja, Oberst", riefen die Männer laut. Da der Versammlungsplatz der Wachleute etwas entfernt von dem der Häftlinge lag, hatten diese nicht mitbekommen, was gerade beschlossen worden war. Einige standen neugierig in den Türen, schlossen diese aber schnell wieder, als die Wachleute sich zerstreuten und auf ihre Posten gingen. "Komm mit rein, wir müssen konkrete Änderungen besprechen." Gerrit folgte dem Oberst und nahm vor dessen Schreibtisch Platz. "Also, was tun wir genau?" Der nahm einen Zettel und einen Stift. "Punkt 1: Essen. Bisher bekommen die Häftlinge einmal Nahrung. Abends. Ich würde mitgehen, wenn wir ihnen zwei Mal täglich etwas geben. Aber wir befinden uns im Krieg, es gibt nicht unendlich viel." "Wir haben doch den kleinen Acker hinter dem Lager. Wenn wir dort auf eigene Faust Gemüse, Kartoffeln oder ähnliches anbauen, hätten wir mehr. Sollen die Häftlinge es machen. Arbeiten sie gut, haben sie mehr zu essen." "Sehr gute Idee. Sie bekommen morgens Brot und Haferflocken mit Wasser. Das gibt Kraft für den Tag. Und abends Gemüse, Kartoffeln oder Brot und an Feiertagen ein wenig Fleisch oder Fisch, wenn wir es auftreiben können." Gerrit staunte. Das war mehr als großzügig. Und das sagte er dem Oberst auch. "Ich weiß. Aber dafür erwarte ich Einsatz, Einsatz, Einsatz." "Wenn die Häftlinge tatsächlich selber Sachen anbauen wollen, dann brauchen sie etwas Freizeit." "Montags Baracke 1, Dienstags Baracke 2 und so weiter. Darüber diskutiere ich auch nicht. Wer etwas tun will, kann es machen, wer rumlungern will, soll das tun. Ich bin mal gespannt, wer freiwillig arbeitet." "Ich auch", gestand Gerrit. "Aber Sie sagten arbeiten so, als hätten Sie mehr Ideen, was die Häftlinge in ihrer Freizeit noch tun könnten." "Du hast mich mit deiner Bemerkung über Fachkräfte wirklich zum Denken gebracht. Ich möchte, dass die Häftlinge Wasserleitungen legen. Erst in unseren Baracken. Wenn das alles funktioniert, würde ich die Materialien besorgen, damit auch die Häftlingsbaracken und Toiletten fließend Wasser bekommen. Das dürfte die Hygiene doch wesentlich erhöhen." "Da gebe ich Ihnen Recht. Und das senkt natürlich die Krankheitsrate." Oberst Naseband nickte. "Außerdem möchte ich, dass die Baracken ausgebessert und in den hinteren Teilen noch Öfen aufgestellt werden." Verblüfft sah Gerrit seinen Vorgesetzten an. "Langsam nimmt das ja Hotelcharakter an." Der schüttelte lachend den Kopf. "Nein, aber ich bin jetzt gierig geworden. Ich will, dass die Leute Schiss haben, von hier woanders hin verlegt zu werden. Die sollen sich für uns den Arsch aufreißen, verstehst du?" "Ich verstehe schon, aber ob das so funktioniert. Die Leute sind von ihren Familien getrennt, sollen, so wie es im Moment aussieht, größtenteils den Rest ihres Lebens hier verbringen. Ich erwarte nicht, dass uns eine Welle der Dankbarkeit entgegenschwappt." "Wir werden sehen. Wir können ja auch jederzeit die alten Sitten wieder einführen. Aber weiter im Text. Wir bauen die kleine Baracke aus und machen ein Lazarett daraus, was wir gestern schon besprochen hatten. Verwaltung: Hör dich um. Ich könnte tatsächlich Leute gebrauchen, die etwas Grips haben. Aber das müssen Häftlinge sein, denen wir wirklich vertrauen können. Sie sollen die Buchführung des Lagers machen, Einnahmen überwachen, die Bezahlung der Angestellten und so weiter." Gerrit saß schweigend da und rieb sich über das Kinn. Eine Person fiel ihm sofort ein, die das fachlich konnte, aber diese Person hasste ihn so abgrundtief, dass er sich ihrer Loyalität nicht sicher war. "Gerrit?" "Ja?" Er schreckte hoch. "Entschuldigung, ich war schon beim Sortieren der Leute." "Gut, dann geh jetzt in die einzelnen Baracken, bestimme die… tja, wie nennen wir sie… Barackenältesten. Sie sind für die Ordnung zuständig. Ich möchte einen gewissen Grad an Selbstkontrolle. Es müssen verlässliche Männer und Frauen sein, denen wir trauen können, die aber nicht jeden in die Pfanne hauen wollen." "Verstehe. Kein Problem." "Erkläre den Leuten, dass sich hier einiges ändern wird, vor allem zu ihrem Vorteil. Und richte ihnen aus, dass ich keine Vergehen gegen die Ordnung mehr dulde. Keine." "Ja, Oberst." Gerrit stand auf, salutierte und verließ das Büro.
Alle Häftlinge waren heute da, weil der Oberst nicht wollte, dass alles zehn Mal erläutert werden musste. Gerrit ging also zur ersten Baracke. Auf dem Weg dahin sah er in den Himmel. Er war blau und klar, es war angenehm warm. Ein toller Tag. In seine Augen stahl sich ein Lächeln. Er fühlte sich richtig wohl und hatte sein schlechtes Gewissen fast vergessen. Als er vor der Gefangenenbaracke 1 stand, zögerte er und ging dann zur zweiten. Warum er wollte, dass Branco die Nachricht als Erster erfuhr, war ihm nicht klar. Dass dies seine Art der Entschuldigung war, konnte er sich einfach noch nicht eingestehen. Er betrat die Baracke und ließ die Tür offen. Alle Häftlinge sprangen von ihren Bett auf, die Gespräche verstummten. "Guten Morgen, die Herren. Setzt euch ruhig hin, es dauert ein wenig, was ich zu sagen habe." Die Männer sahen sich verwundert an. Einige erwiderten sogar den Gruß höflich, so überrascht waren sie über Gerrits Wandel vom eiskalten SS-Mann zum Menschen. Nach und nach setzten sie sich. Gerrit sah sie der Reihe nach an. 50 Augenpaare waren auf ihn gerichtet. "Ich hoffe, ihr benehmt euch, sonst muss ich mir leider noch andere Soldaten herholen." Einige murmelte etwas, die meisten senkten die Blicke und legten offen die Hände in den Schoß. "Ihr habt euch sicher schon gewundert, warum ihr heute hier seid und nicht bei der Arbeit. Das hat einen für euch sehr guten Grund. Hier im Lager wird sich einiges ändern. Oberst Naseband und ich sind der Meinung, dass wir eure Arbeitskraft etwas koordinierter einsetzen sollten." Lang und breit erläuterte er den Männern die neuen Ideen. Die meisten waren sehr skeptisch, doch in einigen Gesichtern sah man Hoffnung aufleuchten. "Ihr merkt sicher, dass euer Leben sich hier verbessern kann, aber das hat natürlich einen Haken. Wir erwarten absoluten Gehorsam und werden Vergehen aufs Härteste bestrafen. Berlin hat die Todesstrafe erlaubt für schwere Vergehen. Welche das sind, ist euch ja wohl klar." Alle nickten. "Arbeitet fleißig und es soll euer Schaden nicht sein. Wer wirklich nicht kann, wird betreut werden, darauf habt ihr mein Wort." Einige der Männer nickten eifrig. Branco, der bis dahin mit offenem Mund gelauscht hatte, erhob sich vorsichtig. "Leutnant?" "Ja?" Gerrit fixierte ihn. "Was ist?" "Sind die Änderungen vorübergehend oder schon länger in Planung." "Sie sind sehr spontan." Er funkelte Branco an. "Aber wenn es funktioniert, ist es gut möglich, dass die Änderungen dauerhaft sind." Gerrit sah sich die Männer an. "Berger." Der alte Mann sprang auf. "Was hast du früher gearbeitet, bevor du gemerkt hast, dass dich Männer auf unnatürliche Art interessieren?" "Koch, Leutnant." Der Mann senkte beschämt den Blick. "Prima. Du wirst für die Baracke ab heute das Essen zubereiten. Dafür musst du nicht mehr mit den anderen raus und arbeiten. Du hältst sowieso keine halbe Stunde durch." Mit glitzernden Augen nickte der Mann. "Ich kann auch die Baracke etwas in Schuss halten. Hier kann ich mich ab und an hinsetzen, wenn es nicht mehr geht." "Mach das. Das ist eure Sache, wie ihr hier hausen wollt." Er sah Brancos Augen, die immer größer wurden und grinste innerlich. Seinen alten Schulkameraden hatte er gründlich verblüfft. "Ihr braucht einen Barackenältesten. Er ist zuständig für die Ordnung hier. Wenn etwas vorfällt, muss er die Erklärung liefern. Eine undankbare Aufgabe." Die Männer zögerten, schließlich sagte Berger leise: "Ich könnte ja… also, wenn kein anderer will…" Einige atmeten erleichtert auf. "Gut, versuchen wir es. Sollte etwas nicht klappen, habt gefälligst den Mumm und sagt es mir, bevor es richtige Probleme gibt. Ich kann mir vorstellen, dass ihr mir nicht vertraut, aber wir sollten zusammen arbeiten. Ich will mehr Kohle, ihr bessere Haftbedingungen. Einfache Rechnung, die für beide Seiten aufgehen kann. Aber seid gewarnt, wenn einer querschlägt, büßen es alle. Gibt es hier Ärzte in der Baracke?" Zwei Männer erhoben sich. Gerrit gab ihnen die Anweisung, sich um die Wehwehchen der Häftlinge zu kümmern und schlimmere Sachen umgehend zu melden. Die Männer erhoben sich schnell, als Gerrit sich zum Gehen umwand. Einige tuschelten leise miteinander. Sie waren immer noch vollkommen verwirrt. Branco meldete sich noch einmal zu Wort. Gerrit sah ihn fragend an. "Können Sie dem Lagerkommandanten unseren Dank aussprechen?" Einige murmelte zustimmend, die meisten nickten stumm und unsicher. Lächelnd nickte Gerrit. "Natürlich kann ich das. Aber ob es ein Erfolg wird, liegt ganz allein an euch." Damit ging er raus und zur Frauenbaracke. Alex saß in der hintersten Ecke und hatte die Beine dicht an den Körper gezogen. Aber ihren hasserfüllten Blick konnte er bis zur Tür spürten. Er versuchte, das zu ignorieren und erklärte auch hier sämtliche Neuerungen. Aufgeregtes Getuschel war die Folge. Normalerweise hätte Gerrit dazwischengebrüllt, aber seine Laune war heute einfach zu gut. Noch nie hatte er soviel Freude an einer Arbeit gehabt. "Meine Damen, bitte." Alle Augen richteten sich erstaunt auf ihn. "Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an mich oder jemand anderen der Wachen." Zweifelnd sahen ihn die Frauen an. Gerrit seufzte innerlich. Das Misstrauen, was man ihm hier entgegenbrachte, hatte er sich selber zuzuschreiben. Er sah Alex an. "Komm mit vor die Tür." Sie blieb steif sitzen, bis eine ältere Frau ihr zuzischte: "Geh schon. Denkst du, es bringt was, sich zu wehren?" "Ich will nur reden", sagte er leise. Sie stand auf und folgte ihm vor die Tür. Er schloss sie und zog Alex um die Ecke zwischen die Baracken. "Alex, es tut mir unendlich leid, was passiert ist. Ich wusste nicht…" "Hör auf, Gerrit. Erspar es uns beiden. Ich habe ewig gebraucht, um dich zu vergessen. Um nicht mehr zu weinen, wenn ich an dich denke. Du hast mich behandelt wie ein Stück Dreck. Das habe ich nicht verdient. Und das gestern…" Ihre Stimme versagte, aber sie hob langsam den Blick. Tränen liefen über ihre Wangen, aber sie wischte sie weder weg. Jede einzelne war eine stumme Anklage an ihn. "Alex…" Seine gute Stimmung war mit einem Mal verschwunden. Hatte er wirklich gehofft, das ganze mit seinen guten Ideen wieder wett zu machen? "Halt den Mund. Du spielst in meinem Leben keine Rolle mehr. Ich verachte dich. Auch für diese Uniform. Ich würde auf dich spuken, wenn ich nicht so panische Angst vor einer Strafe hätte." Gerrit ertrug den Anblick nicht mehr und senkte den Kopf. "Branco geht es ganz gut", sagte er leise. "Geh wieder rein." Ihre Augen funkelten, als sie den Namen ihres Freundes hörte. "Robert hat ihn schlimm verprügelt." "Er ist hart im Nehmen. Er schafft es schon. Geh rein und sag keinem, dass wir uns kennen, oder zumindest nicht, dass wir mal befreundet waren." Er sah sie jetzt wieder an. Der Hass in ihren Augen war verschwunden, Traurigkeit glitzerte jetzt darin. "Ja, Leutnant." Sie drehte sich um und ging. Gerrit seufzte. Er hatte Alex verloren, als Freundin, als Vertraute. Wirklich bewusst war es ihm erst jetzt geworden und er bedauerte es, zum ersten Mal seit Jahren. Vielleicht konnte er wenigstens ein wenig Achtung zurückgewinnen. Er wunderte sich, dass er die Beziehung von ihr und Branco so einfach akzeptierte, aber er hatte ja auch kein Recht, etwas anderes zu fühlen. Langsam ging er zur Gefangenenbaracke 5 und hielt auch dort seine Rede. Und je mehr das Erstaunen der Häftlinge in Freude und Hoffnung umschlug, desto mehr stieg seine Laune wieder an.
Erst am Nachmittag war er wieder im Büro seines Vorgesetzten und erstattete ihm Bericht. "Sie misstrauen dem Angebot, aber einige scheinen Hoffnung zu schöpfen. Ich denke, den meisten bedeutet diese Hafterleichterung eine Menge, sie haben nur Angst, es zuzugeben." "Das denke ich mir auch. Behalte deine Leute ein wenig im Auge. Die meisten sind nicht begeistert und ich fürchte, einige werden doch versuchen, es an den Häftlingen auszulassen." "Wie weit darf ich gehen?" "So wie die Gesetze es zulassen. Körperverletzung kannst du eins zu eins bestrafen. Ich habe mich deutlichst dazu geäußert und wer nicht hören will, muss fühlen. Natürlich packen wir die Gefangenen nicht in Watte, aber es muss wirklich in Grenzen bleiben. Ein ordentlicher Deutscher muss keine hilflosen Gefangenen foltern." Gerrit nickte. "Was, wenn jemand aufgrund der Misshandlung stirbt?" "Dann hat derjenige eine Gratiskugel der Armee verdient, der dafür verantwortlich ist. Mord wird in der Armee mit Erschießung bestraft." Michael sah Gerrit an. "Hast du schon mal einen Menschen getötet?" "Nein. Bisher war es nicht nötig." "Wärst du bereit?" "Ja, Oberst." Innerlich fühlte Gerrit etwas anderes. Aber er konnte sich nicht weigern. "Ich bin vorhin kurz an Gefangenenbaracke 2 vorbei gekommen. Dort standen einige Männer vor der Tür, einer von ihnen sah ziemlich lädiert aus. Wie hieß er doch gleich?" "Branco. Branco Vukovic." Gerrit zögerte. "Er war mit mir in einer Klasse. Ich habe ihm seine Kindheit ziemlich zur Hölle gemacht." "Der Stärkere ist eben im Vorteil." "Ja, Oberst. Gut fühle ich mich trotzdem nicht. Eine der Schrammen in seinem Gesicht ist von mir, eine alte Sache, aber ich denke, wir sind quitt. Eigentlich vertraue ich ihm sogar. Er ist ein ehrlicher Typ und will nur überleben." "Er ist schmal und zierlich. Kein Arbeiter." "Nein, nicht wirklich. Er hat aber Grips. Sein Zeugnis können Sie vergessen. Sein Vater wurde ins Gefängnis geworfen, als er in der dritten oder vierten Klasse war. Er hat an einer kommunistischen Zeitung mitgearbeitet. Von da an gingen Brancos Noten in den Keller und es lag nicht an seinen Leistungen." "Verstehe." Forschend sah er Gerrit an. "Du willst etwas gut machen bei ihm, oder wie soll ich deine Anpreisungen verstehen?" "Irgendwie schon", gab der zu. "Vielleicht finden wir einen Job in der Verwaltung für ihn, aber noch nicht gleich. Schick ihn dorthin arbeiten, wo man ihn nicht total kaputt macht." "Er darf nicht mit Robert als Wachmann in einer Gruppe sein. Robert hasst ihn." "Hat er ihn so zugerichtet?" "Ja. Allerdings hat Branco ihn provoziert. Ich sehe die Sache jetzt als geklärt an und werde weitere Attacken hart ahnden." "Sehr gut. Du scheinst ja alles im Griff zu haben. Wie sieht es mit medizinischen Fachkräften aus?" "Wir haben fünf Ärzte, einer ist Chirurg. Zwei Hebammen und zwei Pflegerinnen. Und einen gut ausgebildeten jüdischen Zahnarzt. Ich denke, selbst unsere Leute können ihnen vertrauen. Die Ärzte haben einen Eid geschworen, Menschen zu helfen und soweit ich die Leute kenne, halten sie sich daran, auch wenn sie ihren Patienten, also uns, den Tod wünschen." "Würdest du hingehen?" "Selbstverständlich. Ohne zu zögern." Der Oberst war zufrieden mit den ersten Ergebnissen. "Na dann schauen wir mal, ob es sich einpendelt. Ich bin wirklich gespannt, ob wir hier Vorreiter in einer neuen Art der Lagerführung werden können." "Gibt es eigentlich viele Lager?" "Ja, seit Kriegsbeginn sind noch einige aufgemacht worden. Aber was man von denen so hört…" Schweigend blickte Michael auf einen Bericht. "Wir sollten froh sein, dass wir hier sind." "Das bin ich." Gerrit zögerte. "Könnte das unter uns bleiben, dass Branco und ich uns kennen? Er ist kein Kommunist aus Überzeugung und ich möchte ihm die Zeit hier nicht schwerer machen als nötig." "Du hast wirklich ein sehr schlechtes Gewissen. Da hilft nur eins. Arbeite es ab, aber sorg dafür, dass die anderen Häftlinge es nicht merken, sonst ist er eines Morgens tot." Ernst sah Michael ihn an. "Es bleibt unter uns." "Vielen Dank, Oberst." Gerrit war ehrlich erleichtert. "Raus jetzt. Ich muss noch arbeiten." "Ja, sofort." Er sprang auf und verließ hastig das Büro. Draußen atmete er erleichtert durch. Er sah zu den Baracken hinüber. Einige Gefangene standen vor der Tür, argwöhnisch beäugt von den Wachen. Sie unterhielten sich leise, blickten sich immer wieder um. Branco ging mit zwei Männern zwischen den Baracken hin und her, deutete etwas an und redete mit den Männern. Sie nickten hin und wieder oder schüttelten hastig den Kopf. Als Gerrit auf ihn zukam, sah er ihn herausfordernd an. "Was macht ihr hier?" "Wir überlegen, wie wir am besten die Leitungen legen können, von denen Sie gesprochen haben, Leutnant." Erstaunt sah Gerrit ihn an. "Hast du davon Ahnung?" "Mein Vater war Klempner. Ich habe ihm oft geholfen. Ein Fachmann bin ich sicher nicht, aber ich kann mit zufassen und auch mit planen." "Wenn ihr euch die anderen Baracken ansehen wollt, sagt mir Bescheid. Um die Gefangenenbaracken herum könnt ihr euch frei bewegen, aber nur bis zur Grenze des Versammlungsplatzes." "Ja, Leutnant", sagten die Männer gleichzeitig. Branco zögerte. "Können wir eventuell Papier, Bleistift und etwas zum Messen haben?" "Ja, Moment." Gerrit lief in seine Unterkunft und besorgte das Notwendige. Draußen traf er auf Robert. "Na, machst du den Laufburschen für Branco?" "Wenn ich dafür bald fließend Wasser in meiner Behausung habe, mache ich das gern." "Der Kleine ist doch zu blöd zum Scheißen, wie soll der Rohre verlegen." Ärgerlich sah Gerrit Robert an. "Ich habe unserem Vorgesetzten gerade erzählt, dass dein Übergriff auf Branco alte Differenzen waren, die jetzt beseitigt sind. Ihm haben die Verletzungen, die er hat, nämlich gar nicht gefallen. Sorge dafür, dass Oberst Naseband das auch glaubt." Der zögerte. "Er hat mich beleidigt." "Ich weiß. Mich hat er auch kurz auf die Palme gebracht. Aber die alten Rechnungen sind beglichen. Reichsjustizminister Gürtner hat sein Herz für Lagerinsassen entdeckt, auch wenn er jetzt mit dem neuen Erlass einige Dinge wieder revidiert hat. Lass dir nichts wieder mit ihm Zuschulden kommen, klar?" "Versprochen, Gerrit. Ich halte mich von ihm fern." Auch wenn Robert die Häftlinge hasste, wusste er doch, wann er sich besser erst einmal im Hintergrund hielt. "Dafür sorge ich. Du wirst nicht mit ihm allein sein. Es ist besser. Er kennt dich zu gut und weiß, wie er dich in Rage bringt." Robert nickte. Vielleicht war es tatsächlich besser, gerade diesen Typen erst mal in Ruhe zu lassen, bevor er sich wegen dem noch Ärger einhandelte. "Ich halte mich zurück." Gerrit nickte zufrieden. Anscheinend war mit Robert doch noch zu reden. Er brachte Branco die Sachen, die der brauchte. "Die Zettel sind abgezählt. Ich verlange sie ganz wieder zu sehen. Klar?" "Wir zeichnen keine Ausbruchspläne." Brancos Stimme klang provozierend, er konnte einfach nicht anders. "Das hoffe ich für euch." Gerrit ging und ließ die Männer stehen.
"Kennst du den? Du bist doch erst seit drei Tagen hier?" Sergej Potkow, ein polnischer Jude aus Augsburg, sah Branco erstaunt an. "Wieso springt der Chefaufseher, wenn du rufst?" "Weil wir uns aus der Schule kennen und er mich da verdammt mies behandelt hat. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund scheint er sein Gewissen entdeckt zu haben." "Das ist ja genial. Ein Haussoldat." "Nein, Sergej. Ich würde nie den Fehler machen, ihm zu vertrauen. Niemals. Er denkt letztendlich nur an sich und wenn es ihm dienen würde, würde er mir mit einem Lächeln eine Kugel in den Kopf jagen." "Im Moment ist er unheimlich nett. Unheimlich." Sergej zog seine Jacke enger. "Ich bin seit fast zwei Jahren hier und heute ist der erste Tag, wo ich keine Angst vor ihm habe." Branco deutete auf den blauen Fleck auf seiner rechten Wange. "Das war Gerrit, vorgestern." Seine beiden Begleiter sahen ihn mit leichtem Unbehagen an. "Traust du den neuen Sachen?" "Sie wären für uns gut. Und die Begründung für die Einführung klingt ja einleuchtend. Aber ich zweifle, dass die Wachen das so gut finden. Wir sollten verdammt vorsichtig sein." Er sah auf die Zettel in seiner Hand. "Ich werden den Teufel tun, irgendeinen von den Typen zu provozieren. Ich hänge an meinem Leben, auch wenn ich den Rest davon in diesem Lager verbringen muss." Seine Begleiter nickten langsam und widmeten sich dann wieder ihrer Arbeit.
Zwei Wochen ging alles gut. Die Häftlinge begannen, sich besser zu fühlen und wieder etwas Lebensmut zu gewinnen. Dankbar für die bessere Behandlung, erledigten sie ihre Arbeit mit solch einem Elan, dass Oberst Naseband sich noch einmal lang und breit bei seinem Untergebenen für dessen Ideen bedankte. Und natürlich auch für den Mut, diese Ideen auszusprechen. Kaum einer der Häftlinge saß an seinem freien Tag herum, alle arbeiteten fleißig. Entweder auf dem Acker oder am Lager selbst. Sie bekamen auf Michaels Anweisung hin alle Dinge zur Verfügung gestellt, die sie benötigten. Sorgfältig bemühten sie sich, die Dinge zu verändern, die auch ihnen etwas bringen würden. Nur zu den Wachleuten hielten sie einen größtmöglichen Abstand. Als Gerrit eines Morgens aus seiner Baracke trat, sah er seine Wachleute auf einem Haufen stehen. Zwei Männer schlugen mit Gummiknüppeln auf einen sich am Boden windenden Mann ein. Die anderen Wachleute standen drum herum und grölten begeistert. Auch Robert war unter den Leuten, die die Schläger anfeuerten. Ohne dass er es gemerkt hätte, war Gerrits Hand zu seinem Schlagstock geglitten. Er sah Michael aus dem Augenwinkel, der aufgrund des Lärms aus seinem Büro kam, dann aber abwartend in der Tür stehen blieb. Gerrit schob seine Männer grob beiseite. Als sie ihn erkannten, verstummten sie, doch da war er schon über den Schlägern. Einem trat er mit Wucht in die Seite, den anderen schlug er mit aller Kraft ins Genick. Als der Mann, dem er in die Seite getreten hatte, hochschoss und ihn angreifen wollte, schlug er erneut zu und traf ihn im Gesicht. Aus seinem Mund schoss ein Schwall Blut und der Mann sank mit einem Aufschrei zu Boden. Mit einigen Schlägen und Tritten trieb er die Männer von dem Gefangenen weg, der halb bewusstlos am Boden lag. "Ihr seid eine Schande für diese Uniformen. Eine Schande für Deutschland. Man sollte euch elende Feiglinge vor einen Panzer spannen, dann spart unser Land wenigstens etwas Benzin." Die Männer sahen ihn schockiert an, wichen vorsichtig zurück. Auch Robert war erschrocken über Gerrits Vorgehen. So war der noch nie mit seinen Leuten umgesprungen. Er sah seine Kollegen an, die schlimm verletzt auf dem Boden lagen. "Bringt die beiden in ihre Betten und wenn sie gesund sind, werden sie sich für eine angemessene Bestrafung bei mir melden." "Aber…" Robert hielt inne. "Ja, Robert? Welchen Grund gab es, diesen Häftling so zuzurichten, was, wie ihr ja wisst, gegen das Gesetz ist? Keiner von euch hat die Erlaubnis, für Vergehen Strafen zu vollziehen. Noch weniger entscheidet ihr, welche Strafen angemessen sind." "Der Mann hat uns angegriffen. Da mit dem Spaten." Robert deutete auf das Gerät. "Und warum hat man es mir nicht gemeldet? Wieso habt ihr ihn mit eurer Kraft und Kampferfahrung nicht einfach entwaffnet und dann zu mir gebracht?" Schweigen. Keiner wagte etwas zu sagen. Also gab es keine vernünftige Erklärung, keine Begründung, außer der Lust am Schlagen. "Bringt die beiden weg. Ich kümmere mich um den Mann und es Gnade euch Gott, wenn er nicht sehr schnell wieder gesund wird. Dann habt ihr zwei", er deutete auf die Schläger, die ihn aus vor Schmerz und Zorn funkelnden Augen ansahen, "einen Mord am Hals. Und die Strafe dafür kennt ihr." Er zog seinen Revolver und hielt ihn hoch. Die Männer verschwanden, immer noch erschrocken, wie sich die Situation entwickelte hatte. Michael nickte Gerrit zu und ging wieder rein. Seufzend steckte Gerrit seine Waffe weg und ließ sich neben den Gefangenen nieder. Er sprach ihn an, aber der lag mit verdrehten Augen auf dem Boden. Zwei Männer kamen angelaufen, Ärzte aus den Gefangenenbaracken. Als sie ein Stück von Gerrit entfernt waren, blieben sie unsicher stehen. Er sah auf. "Kommt schon her und helft ihm." Sie ließen sich neben ihm nieder. Nach einigen kurzen Griffen blickte Sarwen Jonis auf. Er stammte irgendwo aus Osteuropa, hatte aber in München studiert und gelebt. "Wir brauchen vernünftige Materialien, sonst wird er sterben. Die Männer haben ihn schwer verletzt." "Verflucht noch mal. Was ist hier passiert? Und seid ehrlich." "Georg", er deutete auf den Mann am Boden. "wollte nur den Spaten zurückgeben. Er hat ihn weder erhoben, noch ist er gerannt oder irgendetwas. Es gab keinen Grund, ihn so zuzurichten." Offen sah der Mann ihm in die Augen. Gerrit nickte. "Das dachte ich mir." Er sah auf. Viele Häftlinge standen draußen vor den Baracken und er winkte einigen Männer zu. "Kommt her und gafft nicht. Bringt ihn rein. Jonis, du kommst mit mir mit. Wir gehen zu unserem Arzt und du wirst dir die Medikamente und benötigten Instrumente holen. Jeden Pfennig werden die Soldaten zurück zahlen. Komm." Der noch recht junge Arzt folgte Gerrit unsicher, während einige der Gefangenen ihm mit offenem Mund nachsahen. Der Vorgesetzte der Wachleute hatte seine eigenen Leute schlimm verletzt, um sie von einem Gefangenen weg zu bekommen. Er hatte sich für kurze Zeit auf ihre Seite gestellt. Anerkennung lag in einigen der sonst meist verschreckt schauenden Augenpaare. Gerrit schob den jungen Arzt in das Zimmer, in welchem die Medikamente und Instrumente gelagert wurden. Er wies einmal herum. "Nimm mit, was immer du brauchen kannst." Er sah sich um. "Ich warte draußen. Bedien dich, aber nutze mich nicht aus." Zehn Minuten später kam Jonis wieder heraus und hatte die Hände voller Materialien. Gerrit nahm ihm die Dinge ab, ohne einen Blick darauf zu werfen. Nur die Tablettenschachtel ganz oben fiel ihm auf. "Das sind keine starken Schmerztabletten." "Nein." Jonis wand sich leicht. "Sie sind für die Frauen. Sie wollen ja arbeiten, aber viele haben starke Schmerzen, wenn sie ihre Tage haben. Viele nur am ersten Tag, aber da genug für einen Monat." Unglücklich sah der Mann sie an. "So leidest du mit jedem Kranken mit?" "Ja, Leutnant." Gerrit sah noch einmal auf die Tablettenschachtel. Er murmelte den Namen. "Ich besorge davon noch welche, aber geh sparsam mit um." Ein strahlendes Lächeln erschien auf Jonis Gesicht. "Ja, Leutnant. Vielen, vielen Dank." Er war nicht glücklich hier zu sein, aber zumindest hatte er jetzt wieder eine Aufgabe. Er durfte sich wieder um Menschen kümmern, die ihn brauchten. Gerrit sah bei der Behandlung eine Weile zu und ging dann wieder raus. Er lehnte mit fast geschlossenen Lidern an der Wand von Gefangenenbaracke 3, als er eine Stimme hörte. "Danke für dein Eingreifen. Du hast ihm das Leben gerettet." Er öffnete die Augen nicht, wollte ihre braunen Augen nicht sehen. "Ich hoffe es. Er hat nichts getan." "Nein, hat er wirklich nicht. Ich habe alles gesehen." "Ich glaube auch Jonis, warum sollte er mich anlügen. Sollte ich meinen Posten verlieren, wegen meines harten Einschreitens, wird Robert der Leiter der Wachen und das wird für die Häftlinge nicht angenehm." "Das haben wir inzwischen auch kapiert. Wir sind nicht so blöd wie manche denken." Jetzt öffnete Gerrit die Augen doch und sah sie an. "Wer dich für blöd hält, ist ein Vollidiot." Alex nickte ernst. "So ist es." Damit verschwand sie wieder in ihrer Baracke.
Gerrit gab seinen Bericht über den Vorfall in schriftlicher Form am Nachmittag ab. Dort stand auch, dass er Medikamente rausgegeben hatte, das Geld aber vom Lohn der Soldaten abziehen würde, um die Apotheke wieder aufzustocken. Michael las ihn aufmerksam und zeichnete ihn gegen. Dann kam er in einen Aktenordner. "Du hast Richard so stark verletzt, dass er womöglich Schäden zurück behält." "Stirbt der Häftling, sollte das Richards geringstes Problem sein." "So ist es. Aber pass auf, Gerrit. Du stehst nicht auf der Seite der Häftlinge. Deine Leute hassen dich dafür, dass du den Mann verteidigt hast und so brutal dazwischen gegangen bist. Zwei haben sich bei mir beschwert. Natürlich habe ich sie weggeschickt und ihnen gesagt, ich will nie wieder etwas davon hören, wenn sie nicht wollen, dass ich mal genau nachfrage, warum niemand von ihnen dazwischen gegangen ist." Gerrit presste die Lippen hart zusammen. "Ich passe auf mich auf. Zur Not kann ich mich wehren."
Ein spitzen Teil!!! Super klasse geschrieben!!! Echt gut das die Änderungen so gut ankommen.... aber Gerrit sollte echt aufpassen mit der Sympatie *nicht dagegen sei, im gegenteil* Gerrit scheint ja wieder etwas besser gestellt zu sein vor Alex!!!!
Ich bin super gespannt, wie es weiter geht!!! Es bringt immer super viel Spaß deine Teile zu lesen!!!
Sein Vorgesetzter hatte Recht. Gerrit musste sich etwas einfallen lassen, um seine Untergebenen bei Laune zu halten. Aber wie? Ihr Lieblingsbeschäftigung war die Demütigung und Misshandlung der Gefangenen und dass Gerrit es ihnen verboten hatte, machte sie wütend. Immer mehr nahm er wahr, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde, dass ihm verachtende Blicke folgten, wenn er über den Hof lief. Offene Anfeindungen wagte niemand, dafür hatte er zu viel Einfluss. Er galt inzwischen als Ziehsohn des Oberst. Aber die Wut brodelte in ihnen, vor allem, weil ihre Kameraden immer noch nicht wieder einsatzfähig waren, trotz vier Wochen Bettruhe. Gerrit hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Robert war der einzige, der immer wieder offen stichelte und hier und da kleine Spitzen fallen ließ. Es freute ihn, dass Gerrit solche Probleme hatte und er sorgte mit kleinen Hetzreden dafür, dass der Zorn der Wachen immer weiter wuchs. Der Zorn, der geboren war aus ihrer Langeweile. Inzwischen war es Herbst geworden. Die Luft war feucht, aber noch recht warm. Die kleinen Felder hinter dem Lager waren abgeerntet, für die Häftlinge gab es nicht viel zu tun an ihren freien Tagen. So hatten die Leute einen Tag die Woche Zeit, um sich etwas zu erholen. Das und das, im Verhältnis zu anderen Lagern, gute Essen, sorgte dafür, dass die meisten einen recht gesunden Eindruck machten. Einige von ihnen aus Gefangenenbaracke 2, welche heute am Dienstag frei hatten, standen vor der Tür und genossen die warmen Sonnenstrahlen, die zwischen den Wolken immer mal hindurch brachen. Jetzt, da Gerrit seine Wachen im Zaum hielt, wagten sie sich auch wieder auf den Hof. Branco stand mit ihnen zusammen und flüsterte mit diesem oder jenem. Auf der anderen Seite des Versammlungsplatzes der Häftlinge standen dicht am Zaun Schneider und zwei seiner besten Freunde. Böse funkelte sie zu den Gefangenen hinüber, spielten mit ihren Schlagstöcken herum oder streichelten die Schäferhunde. "Gegen einen fairen Kampf Mann gegen Mann hätte ich ja nichts", sagte Georg, der langsam wieder aufstehen konnte. "Ich auch nicht. Eins gegen eins, so dass man ein Chance hat." Sascha Wegener, ein stämmiger Jude, nickte heftig. "Da würde ich es auch mit diesem Abschaum aufnehmen." Erschrocken sah er Gerrit an, der gerade vorbei kam, stehen blieb und eine Augenbraue hochzog. "Entschuldigung. Ich meinte, den Abschaum da drüben am Zaun." Innerlich lachend, äußerlich böse guckend, wand Gerrit sich ab. Er hörte Branco leise lachen. "Ich wette, du würdest es mit fast jedem dieser Typen locker aufnehmen können." "Wetten?", fragte Gerrit und wand sie wieder den Häftlingen zu. "Kannst du nicht. Du hast keinen Einsatz, außer deinem Leben und dieses solltest du hüten." Er lachte leise, aber in seinem Kopf formte sich ein Gedanke. "Hast du das eben ernst gemeint, Sascha? Du würdest einen fairen Faustkampf gegen einen meiner Wachleute austragen?" "Klar, wenn ich eine Woche zum Üben bekomme, Leutnant." Gerrit stieß einen Pfiff aus und winkte die Wachen zu sich. Sie kamen langsam heran, schauten ihn skeptisch an, während sie die Gefangenen geflissentlich ignorierten. "Sag mal, Karl, du hast doch früher mal geboxt, oder?" "Ja, Leutnant." "Lust mal wieder einen Gegner vor die Fäuste zu bekommen?" Der Mann, der fast so groß war wie Gerrit selber, aber noch um einiges breiter, lachte. "Wenn das eine Herausforderung sein soll, lehne ich ab. Will ja nicht im Lazarett landen." Nach kurzem, tiefem Durchatmen lächelte Gerrit freundlich. "Nicht gegen mich. Sascha hier würde gegen dich kämpfen. Und damit das Ganze etwas mehr Pfiff bekommt, könnte man doch um einen kleinen Einsatz boxen. Sagen wir, einen Monat doppelte Rationen für die Häftlinge der Baracke, wenn Sascha gewinnt und ein paar gute Flasche Bier auf meine Kosten, wenn du gewinnst." "Woher wollen Sie Alkohol bekommen, Leutnant?" Der Mann war mehr als interessiert. "Ich habe meine Quellen." Karl sah sich den vorgeschlagenen Gegner an. "Und den darf ich vermöbeln?" "Ihr kämpft bis einer am Boden liegt. Kommt der nicht mehr hoch, steht der Sieger fest. Traust du dich?" Die Soldaten redeten alle durcheinander. Karl nickte und erhob die Stimme. "Klar. Den Juden stampfe ich unangespitzt in den Boden." "Wenn du ihn fair besiegst, bin ich auch zufrieden. Um genauer zu sein, ich erwarte das von einem deutschen Offizier." Karl Schneider sah Gerrit strahlend an und auch die anderen grinsten breit. Schneider salutierte zackig. "Wann legen wir los?" "Am Sonntag? Reicht die Zeit zum Trainieren?" Sascha nickte. Warnend sah Gerrit seine Leute an. "Er hat bis Sonntag frei und wagt es nicht, ihn irgendwie am Training zu hindern. Ich hoffe doch mal, dass wir das mit Würde und Ehre hinbekommen." "Jawohl, Leutnant", sagten die Männer im Chor. Dann schoben sie Karl weg und redeten in einer Tour auf ihn ein. Der blieb kurz stehen und wand sich um. "Machen Sie den Schiedsrichter?" "Ja, kann ich machen." "Gut, dann wird es wenigstens eine faire Beurteilung." Er lächelte, so offen wie seit Wochen nicht mehr und ging dann mit den anderen mit, die ihm gute Ratschläge erteilten, wie er den Juden am besten schlagen konnte. Branco stand lachend an die Wand gelehnt. Dann zog er Sascha zu sich rüber. "Du wirst diesen Nazi zu Brei verarbeiten, nicht wahr?" "Für einen Monat doppelte Rationen? Aber selbstverständlich." Die Mithäftlinge taten dasselbe, wie die Deutschen eine Minute vorher. Sie scharrten sich um Sascha und gaben ihm gute Ratschläge. Außerdem boten einige an, mit ihm zu trainieren, auch wenn das blaue Flecken bedeutete. Gerrit ging grinsend zum Büro des Oberst, um dem mitzuteilen, was er gerade angerichtet hatte. Sein Blick wanderte kurz über den Hof, wo auf einer Seite die deutschen Offiziere ihren Kämpfer umscharrten, auf der anderen Seite die Häftlinge den ihren. Abgesehen von den Sachen sah man keinen Unterschied. 'Vielleicht sind wir doch nicht so verschieden', dachte er kopfschüttelnd.
"Also wirklich, Gerrit. Wir leben doch nicht im alten Rom." "Der Grundsatz Brot und Spiele ist aber gar nicht so verkehrt. Meine Wachen sind unausgeglichen, sie brauchen Abwechslung. Und die Häftlinge haben sogar die faire Chance, mehr Essen zu bekommen. Jeder kann gewinnen." "Was, wenn der Jude gewinnt? Wie würden deine Leute dann reagieren?" "Ich hoffe ehrlich gesagt auf Karl, er ist ein sehr guter Kämpfer, der Beste von uns. Sollte Sascha ihn allerdings schlagen, müssen die Leute zeigen, aus welchem Holz sie wirklich geschnitzt sind. Ich denke, sie würden die Niederlage wegstecken, wenn man ihnen einen Rückkampf anbieten würde. Vielleicht finden sich noch andere, die gern kämpfen möchten. Es wäre Unterhaltung für alle, Ablenkung und Abbau von Aggressionen." Der Oberst lachte. "Naja, solange du nicht mitmachst." "Wenn Branco mich nicht herausfordert, werde ich mich zurückhalten. Bei ihm könnte ich nicht kneifen." "Verstehe ich. Na dann, organisiere deine Kämpfe. Boxen ist ein sehr beliebter Sport, warum sollen wir ihn hier nicht betreiben? Aber halt mir einen guten Platz frei. Wenn hier schon mal was passiert im Lager, möchte ich es selbstverständlich auch sehen. Und pass auf, dass du die Kontrolle über die ganze Sache nicht verlierst." "Ja, Oberst." Gerrit war zufrieden, dass der ihm freie Hand ließ, auch wenn ihn sein Konzept der Aggressionsbewältigung noch nicht ganz überzeugt hatte. Es würde klappen. Es war eine hervorragende Möglichkeit, seine Wachen wieder zu besänftigen, zu beschäftigen und für die Häftlinge war es die Gelegenheit, einem deutschen Offizier von Gleich zu Gleich gegenüber zu treten. Es gab einige, die sich danach sehnten, das wusste Gerrit nur zu genau. "Darf ich mich entfernen? Ich möchte Richard und Hans im Lazarett besuchen." "Natürlich." Mit etwas gemischten Gefühlen verließ Gerrit das Büro seines Vorgesetzten und ging über die leicht aufgeweichte Erde zu der kleinen Baracke, in der die kranken deutschen Offiziere lagen. Im Moment waren es nur die zwei, für deren schlechten Zustand er selber verantwortlich war. Allerdings waren sie nicht allein, denn einige ihrer Kameraden waren bei ihnen und erzählten begeistert vom neuem Einfall ihres Vorgesetzten. Als der eintrat, verschwanden sie schnell. Richards Gesicht sah immer noch schlimm aus. Gerrit hatte ihm mehrere Zähne ausgeschlagen, die Nase und den Kieferknochen gebrochen. Alles war noch geschwollen. Hans ging es besser, er sollte nur noch liegen, weil sein Nacken bei Bewegungen schmerzte. Er wollte auch aufstehen, als Gerrit auf ihn zukam, doch der winkte ab. "Bleib ja liegen, sonst bekomme ich noch Ärger mit dem Doktor." Er sah von Hans zu Richard. "Wie geht es dir?" "Es wird wieder Leutnant. Bis auf die Zähne." Er nuschelte sehr stark. "Ich werde mich nicht entschuldigen, denn ihr wart im Unrecht. Das ist euch hoffentlich klar." Die Männer nickten leicht. "Disziplin und Gehorsam sind wichtig, Kameraden. Das wisst ihr genau. Ich werde es nicht dulden, dass sich jemand von meinen Leuten über meine Befehle hinwegsetzt, weil er… sich angegriffen fühlt." Die letzten drei Worte hatte er scharf betont. "Eurem Opfer geht es wieder soweit gut, daher habe ich mich entschlossen, auf weitere disziplinarische Maßnahmen zu verzichten. Ihr werdet nur von eurem Lohn die Instrumente und Medikamente bezahlen, die für seine Behandlung verwendet werden mussten." Hans senkte den Blick und schluckte. "Danke, Leutnant, wir wissen, dass wir etwas übers Ziel hinausgeschossen sind. Es wird nicht wieder vorkommen." "Das hoffe ich. Seht zu, dass ihr wieder gesund werdet, ich brauche euch da draußen und nicht hier. Ihr habt euch lange genug ausruhen dürfen." Er nickte ihnen zu und ging in Richtung Tür. "Leutnant", nuschelte Richard. "Wäre es möglich, den Arzt zu überzeugen, dass ich den Kampf sehen kann?" Damit der Mann sein triumphierendes Lächeln nicht sah, drehte Gerrit sich nicht um, sondern sagte nur knapp. "Ich denke schon."
Robert kochte vor Wut, als er an diesem Abend mit seinem Trupp Häftlinge ins Lager zurück kam und die fast ausgelassene Stimmung bemerkte. Wie ein Lauffeuer hatte sich Gerrits Idee mit dem Kampf herumgesprochen und die meisten hofften, dass man diese sportlichen Ereignisse regelmäßig austragen konnte. Sie waren begeistert und lobten Gerrit, den sie noch einen Tag zuvor zum Teufel gewünscht hatten, jetzt wieder in den Himmel. "Wankelmütiges Pack", knurrte Robert leise. "Gerrit, Gerrit, Gerrit, du schaffst es doch immer wieder. Aber keine Sorge, ich bringe dich schon noch zu Fall. Liefere mir eine kleine Schwachstelle und ich werde dich daran an die Wand nageln."
Die Zeit bis Sonntag verging rasend schnell und mit der Zeit sah Oberst Naseband ein, dass Gerrits Idee nicht ganz verkehrt sein konnte. Die Wachen waren gut gelaunt und freuten sich auf Sonntag. Und auch die Gefangenen waren gelöster als je zuvor. Die, die arbeiten mussten, machten das mit einem Eifer, dass man meinen könnten, sie würden dafür bezahlt. Die, die in ihren Baracken waren, halfen Sascha beim Training. Egal aus welcher Baracke, alle unterstützen ihn, auch wenn die anderen Gefangenenbaracken von einer eventuellen Belohnung im Siegesfall nichts hatten. Karl wurde von Gerrit auf Erfolg getrimmt. Er scheuchte ihn Kilometer um Kilometer durch die Gegend. Selbstverständlich lief er mit, da er seit frühester Kindheit nichts von anderen verlangte, was er nicht selber zu leisten in der Lage war. Die Skepsis und die Wut Gerrit gegenüber verschwand und seine Kameraden wandten sich auch wieder vermehrt an ihn. Man sprach noch einmal über die Behandlung von Gefangenen und auch wenn die Wachleute Gerrits liberale Haltung nicht wirklich gut hießen, erkannte sie doch, dass er auf ihrer Seite stand und fingen auch wieder an, ihm zu vertrauen. Gerrit merkte aber gerade in dieser Situation, dass der Oberst damals, im Lager der Hitlerjugend, als er ihn für dieses Arbeitslager ausgesucht hatte, mit seiner Einschätzung von Roberts Charakter vielleicht gar nicht so falsch gelegen hatte. Er beschloss, dass er seinen 'besten Freund' wohl doch ein wenig mehr im Auge behalten musste. Der versuchte nämlich immer noch, die Männer gegen ihn aufzuwiegeln. Jetzt hatte er allerdings keinen großen Erfolg mehr.
Der Sonntag war ein kühler, regnerischer Tag, aber trotzdem war das gesamte Lager auf den Beinen. Auf dem Versammlungsplatz hatten die Häftlinge Pfähle in den Boden getrieben und mit Seilen eine Art Boxring aufgebaut. Auf einem der Pfähle hing ein Topf, den Gerrit in Ermangelung eines Gongs aus der Küche geholt hatte. Er sah auf seine Uhr. Die Kämpfer standen im Ring, jeder an einer Ecke. Hinter Karl standen der Arzt des Lagers und ein Wachmann mit einem Wassereimer und einem sauberen Lappen. Hinter Sascha sah man Jonis und einen Häftling, ebenfalls mit Eimer und Lappen. Die Kämpfer trugen nur kurze Hosen und Schuhe, damit der jeweils andere nicht an den Sachen ziehen und somit eventuell einen Vorteil erlangen konnte. Auf einer Seite des Rings standen die Wachen, die frei hatten. Sie redeten laut miteinander, rauchten und riefen einigen Häftlingen kleine Beleidigungen entgegen. Auf der anderen Seite, etwas entfernt, die Gefangenen. Sie winkten einfach ab, lachten provokant und wünschten Sascha alles Gute. Hinter den Häftlingen standen in einem Halbkreis die Bewacher, ihre Gewehre im Anschlag. Gerrit hatte das angeordnet, damit niemand auf dumme Gedanken kam. Der Oberst saß auf einem Stuhl vor seinem Büro. Er hatte von dort einen sehr guten Blick und war sehr gespannt. Mit Gerrit hatte er nämlich eine kleine Geldwette abgeschlossen. Gerrit hielt natürlich zu seinem Wachmann, Michael hatte deshalb auf den Häftling gewettet. Als alles vorbereitet war, hob Gerrit die Stimme. "Die Regeln des Kampfes: Gekämpft wird immer zwei Minuten, dann gibt es eine halbe Minute Pause. Der Kampf endet erst, wenn einer der beiden Kontrahenten am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann. Sobald ein Kämpfer mit etwas anderem als den Fußsohlen den Boden berührt, geht der andere Kämpfer zurück in seine Ecke und wartet auf mein Zeichen. Bei Verstößen wird der Kampf abgebrochen und derjenige gewinnt, der sich an die Regeln gehalten hat. Alles verstanden?" "Ja, Leutnant", sagten die beiden Männer laut. "Dann geht in die Mitte des Ringes." Stille trat ein, alle Augen waren auf Gerrit gerichtet, der einen Metallschöpflöffel nahm und damit gegen den Topf schlug. Als das Startzeichen für den Kampf ertönte, fing Karl sofort an, seinen Gegner mit einem Hagel harter Schläge einzudecken, die aber hauptsächlich auf dessen erhobenen Unterarmen landeten und deshalb relativ wirkungslos verpufften. Die Männer und Frauen außerhalb des Rings feuerten durch lautes Zurufen ihre Favoriten an, schrieen Tipps hinauf oder versuchten den anderen Kämpfer durch Beleidigungen aus dem Konzept zu bringen. Es herrschte ein Lärm wie bei einem Aufstand und eine Begeisterung, als wäre dies ein Volksfest. Gerrit grinste vor sich hin, vor allem, als er Roberts finsterem Blick begegnete. Dann blickte er wieder zu den Kämpfern hinüber, schließlich war er der Schiedsrichter. Doch beide hielten sich an die Regeln, dass nur die Fäuste eingesetzt werden durften und keine Treffer unterhalb der Gürtellinie platziert werden sollten. Begeisterung und Spannung machten sich breit, je länger der Kampf dauerte. Der Elan auf beiden Seiten ließ etwas nach, die Kämpfer umtänzelte sich, lauerten auf ihre Chancen und schlugen gezielter zu. Sascha hatte, nachdem Karl müde geworden war, angefangen ihn mit Schlägen einzudecken, so dass er einmal kurz getaumelt war. Dann hatte der Offizier sich allerdings wieder gefangen. Die achte Runde brach an, die Begeisterung der Zuschauer war nicht mehr in der Lautstärke zu hören, da viele jetzt gespannt und schweigend dem Kampf zuschauten und nur noch gute Schläge bejubelten oder entsetzt aufstöhnten, je nachdem ob ihr Favorit dem Sieg entgegensteuerte oder eben der Niederlage. Sascha kassierte von Karl einen derben rechten Haken, der ihn in den Dreck schickte, aber er rappelte sich schnell wieder auf. Auf Gerrits Frage hin, ob er noch kämpfen konnte, nickte er. Der wies die Kämpfer an, fortzufahren. Sascha hielt die Deckung jetzt wieder oben, so dass Karls rechte Gerade nicht viel brachte. Auch der linke Haken, den der versuchte, landete nur wieder auf den Oberarmen seines Kontrahenten. Sascha sah, dass Karl immer ein und dieselbe Schlagfolge benutzte. Rechte Gerade, angedeuteter linker Haken. Er grinste und senkte die Deckung ein wenig und wich einen Schritt nach hinten. Der linke Haken von Karl wurde dadurch weiter und die Deckung blieb länger offen. In diesem Moment holte Sascha aus und hieb dem Offizier seine rechte Faust mit aller Kraft gegen das Kinn. Mit einem Aufstöhnen sackte Karl zu Boden und blieb mit verdrehten Augen liegen. Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen der Wachen, im selben Moment übertönt vom Jubelgeschrei der Häftlinge. Sascha zog sich schnell zurück in seine Ecke, als Gerrit in den Ring stieg und sich über Karl beugte. Der kam langsam wieder zu sich. Die Menschen um den Ring wurden leise und warteten gespannt auf das Urteil. "Sieger ist eindeutig, zu meinem Bedauern, Sascha." Er trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Glückwunsch. War ein wirklich unglaublich guter Kampf." Der schüttelte die Hand und lächelte breit. Als plötzlich Karl hinter Gerrit auftauchte, zuckte er zusammen. Doch der reichte ihm ebenfalls die Hand und bat um einen Rückkampf. Unsicher schaute Sascha Gerrit an. "Ich habe nichts dagegen. Dafür war es viel zu spannend." "Dann, ja. Wann immer es der Oberst gestattet." "Macht das mit Gerrit aus, ich war nur Zuschauer." Der Oberst beglückwünschte den Sieger und klopfte Karl auf die Schulter. "Man kann nicht immer gewinnen. Aber man sollte aus Niederlagen lernen. Außerdem habe ich so meine Wette gewonnen, nicht wahr, Gerrit?" Der verzog säuerlich das Gesicht. "Ja, Oberst." "Sie haben auf mich gewettet?", fragte Sascha verblüfft. "Klar. Wir konnten ja nicht beide auf unseren Offizier setzen und Gerrit steht nun mal immer hinter seinen Leuten." Damit ging er. 'Danke, Oberst', dachte Gerrit mit einem leichten Lächeln, als er in die Gesichter seiner Wachen sah, die ihm offen zunickten. Die Wachen umringten Gerrit und einige baten ihn, auch kämpfen zu dürfen. Der blickte in die Gesichter der Häftlinge. "Ich lasse euch Papier bringen. Wer Lust hat, zu kämpfen, trage sich ein. Wenn es genug Kämpfer gibt, können wir das gern als regelmäßige Veranstaltung einführen." Lauter Jubel von allen Seiten. Rainer hob den Arm und sah Gerrit an. "Leutnant, ich will auch kämpfen." "Du kämpfst wie ein Mädchen", warf ihm Karl vor, der sich inzwischen wieder etwas erholt hatte. Beleidigt drehte der sich um. "Gut, dann kämpfe ich eben für die weiblichen Gefangenen. Wenn ich gewinne, kriegen sie das Essen." Einige der Frauen applaudierten begeistert. Die Wachen lachten über den Vorschlag. Gerrit grinste leicht. Er hatte seinen Leuten die Übergriffe auf die weiblichen Gefangenen untersagt, was diese anfangs sehr geärgert hatte. Bis sich einige der Frauen anboten, den Wachleuten gegen kleine Aufmerksamkeiten die einsamen Stunden zu versüßen. "Warum nicht, du Held aller Damen. Wir suchen dir einen Gegner in deiner Gewichtsklasse und wenn du ihn schlägst, bekommen die weiblichen Gefangenen die Rationen." Gerrit sah, wie sich eine hübsche rothaarige Frau zu Rainer schob und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Der lächelte geschmeichelt und schob sie schnell wieder weg, aber im selben Moment fanden auch andere Wachleute die Idee hervorragend.
In den folgenden Monaten fanden fast wöchentlich Kämpfe statt, egal bei welchem Wetter und die Begeisterung auf beiden Seiten war ungebrochen. Und da mal die eine, mal die andere Seite gewann, verlor niemand die Lust an diesem sportlichen Wettkampf. Gerrit hatte als derjenige mit der Idee dazu alle Sympathien plötzlich auf seiner Seite. Die Wachen gehorchten besser als je zuvor und die Häftlinge taten alles, damit er keine Schwierigkeiten hatte. Man konnte das Leben im Lager für einige Monate fast als harmonisch und ruhig bezeichnen, bis zu dem Tag, als plötzlich einige wichtige Briefe auf dem Schreibtisch von Oberst Naseband landeten.
Gerrit der Held des Lagers Echt klasse geschrieben!!!! Das mit den Briefen klingt ja überhaupt nicht gut.... Bin gespannt, was da jetzt passiert... Bitte schreibe schnell weiter!!!
Es gibt Tage, die möchte man vergessen. Gerrit wusste an diesem Morgen noch nicht, dass dieser so ein Tag für ihn werden würde. Als er sich im Büro seines Vorgesetzten einfand, schaute der ihn verwirrt an. "Oberst, gibt es Probleme?" "Nein. Setz dich", forderte er etwas ungehalten und bewies damit, dass dem nicht so war. "Seit wann werden wir denn über gestorbene Familienangehörige von Häftlingen informiert?" Gerrit zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Bürokratie eben." "Möglich." "Um wen geht es denn?" Der Oberst reichte ihm einen Brief. Gerrit las ihn. In kurzem Beamtendeutsch stand dort die Bitte, dem Gefangenen die Nachricht vom Tod des Vaters zu unterrichten. Als er den Namen las, atmete er tief durch. "Ich sage es ihm." "Das ist gut, danke. Ich bin nicht so gut darin, solche Nachrichten zu überbringen." "Kein Problem, ich mache das schon. Aber das scheint nicht der Grund zu sein, weshalb Sie so nervös sind." Der Oberst winkte ab. "Ach, das erzähle ich dir später. Ich warte noch auf eine Bestätigung aus Berlin. Bis dahin möchte ich die Pferde nicht scheu machen." "Gut, dann mache ich einen Rundgang durchs Lager. Mal schauen, ob es irgendwelche Probleme gibt." "Bei uns doch nicht mehr. Wir haben doch dich." Mit einem leichten Grinsen entließ er Gerrit. Der ging nach draußen, wo sein Gesicht sofort einen ernsten Ausdruck annahm. Die Benachrichtigung schwirrte ihm im Kopf herum. Wie sollte er ihm das beibringen? Jonis kam auf ihn zu. "Leutnant, darf ich Sie kurz sprechen?" Gerrit schreckte aus seinen Grübeleien hoch. "Wie? Ach Jonis, klar, sicher." Dessen Gesicht zeugte von ebenso unwillkommenen Neuigkeiten. Er sah sich um, ob jemand zuhörte. "Eine der Gefangenen ist schwanger." "Super. Ganz toll. Wie konnte das passieren?" "Sicher nicht hier im Lager, sie ist im sechsten Monat." "Das heißt, eine Abtreibung kommt nicht in Frage." "Sie will das Kind behalten." Gerrit lachte auf. "So ein Unsinn. Wir sind doch hier kein Kindergarten. Es interessiert mich im Übrigen auch nicht, was sie will. Das Kind muss weg." Jonis schwankte. "Aber ich kann es nicht mehr abtreiben. Die Mutter würde dabei höchstwahrscheinlich sterben." "Verflucht noch mal. Ich hab doch auch so genug Probleme." Gerrit seufzte. "Wer ist es?" "Alexandra Rietz."
Der zweite Tiefschlag an diesem Tag. Gerrit scheuchte Jonis davon und wollte erst einmal seine Gedanken ordnen. 'Wie kann das sein? Sie ist seit ungefähr einem Jahr hier.' Die Wachen hatten sie nicht mehr angefasst, dafür hatte er selber gesorgt. Er seufzte und schlug sich leicht gegen die Stirn. Er hatte einigen Häftlingen selber den Auftrag gegeben, das Lager aufzuräumen, wahrscheinlich waren sie und Branco da mal allein gewesen. Der Zeitpunkt kam hin. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich ein sehr blass aussehender Robert auf ihn zuschleppte und ihn zur Begrüßung erst einmal anhustete. "Was ist denn mit dir los?" Er trat einen Schritt zurück. "Ich weiß nicht. Der Arzt meint, ich hätte eine Grippe, aber mir ist total schlecht." "Ist das ein Versuch, dich vor der Außentruppbetreuung zu drücken?" "Ja, Leutnant." Ein leichtes Grinsen lag auf seinem Gesicht, wurde aber schnell von einem schmerzverzerrten Stöhnen weggewischt. "Schon gut, schon gut. Hau ab. Leg dich hin und werd gefälligst schleunigst wieder gesund. Das ist ein Befehl." Robert salutierte. "Danke, Leutnant Grass." Damit verschwand er. Gerrit sah sich um und winkte dann Otto Seidel zu sich, einen noch neuen, aber recht intelligenten, jungen Mann. Der hatte die Pläne für heute erstellt und die Gefangenen aufgeteilt. "Welchen Trupp sollte Robert leiten?" "Den Ausgangstrupp für Büroleute." Seidel grinste breit. Büroleute waren die Gefangenen, die von Gerrit inzwischen für Büroarbeiten eingeteilt worden waren. Es waren alte, chronisch kranke oder intelligente Gefangene. Vor allem waren es aber Leute, die einfach körperlich für schwere Arbeiten nicht geschaffen waren. Für Gerrit bot diese Konstellation eine gute Möglichkeit mit den zwei Menschen mal zu sprechen, die er dringend sprechen musste. "Ich übernehme den Trupp selber. Muss auch mal wieder raus." "Jawohl, Leutnant. Sie müssen mit den Leuten zum Kartoffelernten. Drüben am Seegerbach. Kisten und drei Wagen stehen dort. Die Kisten sollen aufgeladen werden, deshalb nicht zu voll sammeln. Zehn der Kisten dürfen wir mitnehmen und für uns nutzen." "Dann brauche ich 20 Gefangene zum Schleppen." "So ist es, Leutnant. 20 Leute habe ich für den Trupp eingeteilt." Gerrit sah die Liste durch. Es waren die Gefangenen, die er auch eingetragen hätte. Vor allem waren die dabei, die er brauchte. "Gute Arbeit, Seidel. Endlich mal jemand mit Grips." "Ich wollte Ingenieur werden, oder Physiker. Habe immer gern theoretische Probleme gelöst. Aber mein Vater wollte, dass ich was Vernünftiges mache." "Väter wissen nicht immer, was gut für einen ist." Gerrit lachte leise. "Wenn es dich nicht unterfordert, kannst du diese Arbeit gern weitermachen. Es ist sehr theoretisch und ich hasse es." "Gern, Leutnant. Das macht mir richtig Spaß." "Gut zu wissen." Er schlug dem Mann, der nur zwei Jahre jünger war als er, leicht auf die Schulter. Dann ging er zum Tor. Hier wartete er, bis die Wachen, die ihn und den Trupp begleiten würden, die Gefangenen gebracht hatten. Als alle da waren, marschierten sie los. Er ging vor, hinter ihm liefen die Häftlinge, dahinter die Wachen mit entsicherten Waffen.
Die Arbeiter waren seit Stunden bei der Arbeit. Sie war nicht sehr schwer und da die Wachleute einfach im Gras herumlagen, arbeiteten die Häftlinge langsamer, als es ihnen möglich gewesen wäre. Gerrit sah zu Branco hinüber, der auf dem Boden kniete und Kartoffeln einsammelte. Neben ihm kniete Alex, die unter weiten Sachen ihren Bauch versteckte. Seufzend ging er zu den beiden. Sie sahen ihn fragend an. Sein Blick zeugte nicht von guten Nachrichten. Langsam hockte er sich hin, sah sich um, ob jemand in der Nähe war und sah Alex an. "Hättest du mir nicht eher von deiner Schwangerschaft berichten können?" Sein Blick fiel auf Branco. "Oder hättet ihr beide nicht einfach besser aufpassen können?" "Es ist mein Kind und meine Entscheidung." Trotzig sah sie ihn an und legte die Hände auf ihren Bauch. Branco pflichtete ihr bei. "Und meins." "Ihr beiden spinnt doch." Gerrit tippte sich gegen den Kopf. "Ist euch nicht bewusst, wo ihr derzeit lebt? Dann sage ich euch das gern einmal, auch wenn es euch eventuell schockiert. In einem Arbeitslager! Du kannst das Kind nicht behalten, Alex. Das ist unmöglich. Sei froh, dass wir nicht in einem der großen Lager sind." Er wies auf seinen Schlagstock. "Dort hat man andere Methoden, Schwangerschaften abzubrechen." Sie sah Gerrit geschockt an, dann Branco. "Aber ich bin schon im sechsten Monat, sagt Jonis. Man kann es nicht wegmachen. Und das würde ich auch nicht überleben." "Alex, du würdest es schaffen, aber es ist eh zu spät dafür. Dieses Kind wird wohl zur Welt kommen, kann aber definitiv nicht im Lager bleiben." Er wand den Blick ab, als Tränen in ihre Augen traten. "Ein Heim kommt nicht Frage. Es ist zum Teil jüdisch, kein deutsches Heim nimmt es und wenn doch, hätte es dort die Hölle auf Erden." Grübelnd setzte er sich auf den Boden. "Ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen. Ganz schnell." Sie schluchzte. Branco strich ihr sanft über den Rücken. Mehr war zwischen den Häftlingen nicht erlaubt. Es dauerte eine ganze Weile, bis Alex sich wieder etwas im Griff hatte. Gerrit seufzte. "Ich fürchte, ich habe noch mehr schlechte Nachrichten. Branco…" Er zögerte und sah dem jungen Mann dann in die Augen. "Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, gerade jetzt, wo du auch noch andere Probleme hast, aber wir haben einen Brief bekommen vom Münchner Gefängnis. Dein Vater ist vor einer Woche dort gestorben." Der sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Tränen schwammen darin. Dann sank er in sich zusammen. Er hatte seinen Vater so gehasst, weil er ihn für seine verkorkste Kindheit verantwortlich machte. Aber er hatte doch immer gehofft, noch einmal mit ihm sprechen zu können, er war doch schließlich sein Vater. Jetzt würde er ihn nie wieder sehen. Alex legte die Arme um ihn und zog ihn an sich. Einige der Wachen sprangen auf, doch Gerrit winkte ab. Also ließen sie sich wieder nieder. Ihr Vorgesetzter schien alles im Griff zu haben. "Es tut mir leid, Branco. Ganz ehrlich." Damit stand Gerrit auf und ließ die beiden allein. Er ging zu seinen Wachen zurück. "Lasst die beiden in Ruhe. Sie sind zwar Häftlinge, aber letztendlich auch nur Menschen. Brancos Vater ist gestorben, das Münchner Gefängnis hat es uns mitgeteilt." "Scheiße, sowas zu erfahren." Schneider nickte. "Ich dachte, es geht um das Kind von den beiden." "Auch. Ich muss eine Familie finden, die es aufnimmt." Fluchend schlug er neben sich auf den Boden. "Als hätte ich nicht genug andere Probleme. "Kann ich mal mit Ihnen sprechen, Leutnant?" Schneider sah zu den halb dösenden Kameraden hinüber und stand etwas unentschlossen auf. Gerrit zog eine Augenbraue hoch, wegen der förmlichen Frage, erhob sich und ging neben dem Mann her, bis sie außer Hörweite waren. "Das Baby, es ist ein Achtel jüdisch, oder?" Gerrit nickte. "Das ist ja das Problem. Wer will sich schon damit belasten?" "Meine Frau kann keine Kinder bekommen, ich würde es nehmen." Erstaunt sah Gerrit Schneider an. "Wirklich?" "Ja. Aber nur, wenn ich es adoptieren darf. Ich möchte, dass es offiziell mein Kind ist. Und in den Papieren müssen die Eltern Deutsche sein." Er hatte zögernd gesprochen. "Ich besorge die Papiere. Das bekomme ich hin." Gerrit strahlte den Mann an. "Danke. Du hast mir gerade ein riesiges Problem abgenommen." "Meinst du? Die Frau ist hartnäckig, ob die die Papiere unterschreibt?" "Hartnäckig mag sie sein, aber nicht dumm. Es gibt keine Alternative, das werde ich ihr schon erklären." Gerrit klopfte ihm dankbar auf die Schulter und ging wieder zu den beiden hinüber. "Schneider würde sich um euer Kind kümmern, aber er will eine Adoption mit gefälschten Papieren. Ihr verliert jegliches Recht an dem Baby, werdet als Eltern nicht existieren und es nie wieder sehen." Er versuchte hart und unnachgiebig zu klingen. "Nein", sagte Alex. "Das kannst du nicht von mir verlangen, Gerrit." Branco schluchzte immer noch leise, fing sich aber langsam wieder. Er sah sie an, dann Gerrit. "Wie ist er wirklich, als Mensch. Wie ist seine Frau?" "Seine Frau ist eine der nettesten Personen, die es gibt und sie wünscht sich nichts mehr als ein Baby. Es würde dort alle Liebe und Fürsorge bekommen, die es sich nur wünschen kann." "Mein Kind soll in einer SS-Familie aufwachsen? Lernen, wie wertlos Juden sind?" "Alex, du hast dich nie als Jüdin gefühlt, nie diesen Glauben praktiziert. Du wurdest reingedrängt, weil dein Großvater einer war. Sei vernünftig, auch wenn es viel verlangt ist. Du hättest Ruhe während der restlichen Schwangerschaft. Schneider wird dich behüten wie einen Schatz. Du bekommst die beste medizinische Betreuung und das Kind wird in einer wohlhabenden Familie aufwachsen. Es wird ihm weder an Liebe fehlen, noch an finanziellen Mitteln", bekräftigte er noch einmal mit Nachdruck. Branco schniefte und sah Alex fest an. "Wir haben keine andere Wahl. Sei vernünftig, Alex. Ich will das Kind nicht abgeben, aber er wird es uns einfach wegnehmen, wenn wir nicht zustimmen." Er deutete auf Gerrit. "Super", sagte der. "Jetzt bin ich wieder das Arschloch. Aber bitte, dann eben so, wenn ihr euch besser fühlt. Unterschreibt oder das Kind kommt irgendwo hin und da kann ich für nichts garantieren." Er stand auf und ging weg. Weder seine Stimme noch sein Blick hatten zu seinen harschen Worten gepasst. Branco kam nach einiger Zeit zu ihm und Schneider. "Wir sind einverstanden." "Mal gucken, was die Gene hergeben." Schneider sah ihn von oben an. Gerrit grinste. "Nicht die körperliche Kraft, die du hast, aber beide sind sehr intelligent und willensstark." Der Wärter fixierte Branco ernst. "Du weißt, ich habe für euch Häftlinge nicht so viel über. In meinen Augen seid ihr nichts wert, weil ihr gegen das System arbeitet. Aber von angehendem Vater zu angehendem Vater kann ich dir versprechen, das Kind bekommt alles, was es braucht. Und ich werde dafür sorgen, dass es Alexandra an nichts fehlt. Sie kann meine Decken haben, mein Essen, alles was sie braucht. Oder wir bringen sie zu meiner Frau und sie bekommt das Kind dort. Mir ist alles Recht. Sie darf nur nicht versuchen zu fliehen, das wäre ihr Tod, egal ob das Baby auf der Welt ist oder noch in ihrem Bauch." Der nickte. "Ich verlasse mich darauf. Es ist schwer, das Kind wegzugeben, aber gut zu wissen, wohin es kommt. Ich werde mit Alex reden." Damit ging er. "Mumm hat er, der Kleine." "Hab ich ihm reingeprügelt", sagte Gerrit, nicht ganz ernst gemeint. "Könntest du sie wirklich zu euch nehmen? Kann ich mich darauf verlassen, dass es ihr gut geht?" "Das schwöre ich Ihnen, Leutnant. Es bleibt unser Geheimnis, weihen Sie den Oberst ein, er wird froh sein, wenn sich das Problem so erledigen lässt." Zufrieden nickte Gerrit. Für ihn waren zwei Probleme erst einmal gelöst. Am Abend würde er mit dem Oberst reden und sich anhören, was den noch belastete. Alles war lösbar. Dass ein weiteres, viel schwerwiegenderes Problem erst noch auf ihn wartete, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
"Guten Abend, Oberst. Verzeihen Sie die Störung, ich würde gern noch kurz etwas mit ihnen besprechen." "Ja, gut. Setzt dich, Gerrit." Der Mann legte einige Akten beiseite und lehnte sich dann zurück. "Also?" "Branco weiß das mit seinem Vater." "Ist schlimm, sowas zu erfahren. Wie geht es ihm?" "Er schafft das schon. Aber heute Morgen ergab sich noch ein weiteres Problem. Allerdings könnte ich es lösen, wenn Sie ein oder zwei Mal wegschauen." Interessiert zog Oberst Naseband eine Augenbraue hoch. "Welches Problem?" "Alexandra Rietz ist schwanger?" "Wegmachen." "Sie ist im sechsten Monat." "Verflucht", schimpfte der Mann. "Was schlägst du vor?" "Schneider will das Baby, seine Frau kann wohl keine Kinder bekommen, wünscht sich aber sehnlichst eins. Er möchte die Frau mitnehmen, damit seine Frau sie versorgen kann und damit sie in Ruhe das Kind zur Welt bringt." "Eine Gefangene mit nach Hause zu einem meiner Offiziere? Wie stellst du dir…" Er legte die Hand über seine Augen. "Gut, ich werde es nicht bemerken." "Das ist noch etwas. Schneider will natürlich kein jüdisches Kind, daher müssten die Adoptionspapiere gefälscht…" "Stopp", sagte der Mann und stand auf. "Mach mit dem Kind, was du willst, aber sorg dafür, dass nichts auffällt. Ich will die Details gar nicht wissen. Raus jetzt." "Oberst, was war das andere Problem, welches Sie heute morgen belastet hat?" "Das ist nichts akutes. Wir reden ein anderes Mal drüber. Ich muss heute noch nach München, du passt auf das Lager auf. Und noch etwas, Gerrit, meine Wagen steht noch drüben neben dem Lager. Er ist offen und ich werde nicht nachschauen, ob ich jemanden mitnehme." "Der bewaffnete Wachmann auf dem Rücksitz wird Sie also nicht stören?" "Nein. Er nicht und auch die Gefangene neben ihm nicht. Und ich werde wohl beim Haus von Schneider kurz anhalten, falls jemand vielleicht aussteigen möchte." Gerrit grinste breit. "Danke, Oberst." "Alles für das Lager. Und jetzt verschwinde endlich." "Jawohl, Oberst." Gerrit salutierte und verließ eilig das Büro. Er suchte Schneider auf und wies ihn an, Alex in das Auto von Oberst Naseband zu bringen. Möglichst unauffällig natürlich. Er selber ging zu Branco und holte ihn aus der Baracke. "Alex kommt heute noch nach München. Dort wird man sich sehr gut um sie kümmern. Mehr kann ich für euch nicht tun." Er wand sich um und ging in Richtung seiner Baracke. Brancos leises 'Danke' hörte er noch.
Ein klasse Teil!! Arme Alex, das sie das Kind weggeben muss, aber das ist ja verständlich.... Schneider von ist es echt 'nett', dass er das Kind nimmt!!!! Der Oberst hat auch in Bezug darauf eine gute Einstellung!!! Bin mal gespannt wie es weiter geht und was der Oberst von München für Nachrichten mitbringt!!! Bitte schreibe schnell weiter!!
Die Monate vergingen, es wurde Winter. An einem Tag kam der Oberst von einer Besprechung aus München zurück und parkte seinen Wagen wie üblich hinter seiner Bürobaracke. Gerrit hatte an diesem Tag Wachdienst und stand gelangweilt am Tor. Seine Aufmerksamkeit erhöhte sich erst in dem Moment, als sich die Hintertüren des Wagens öffneten und zwei Personen ausstiegen. Ein bewaffneter Offizier und eine Frau. Alex sah sich traurig im Lager um und hielt ihren flachen Bauch mit ihren Armen umschlungen. Langsam ging sie auf ihre Baracke zu. Der Blick war auf den schneebedeckten Boden gerichtet, die Gestalt gebeugt. Nach einem Blick zu seinen Leuten, die alle mit den Gedanken in ihren warmen Baracken waren, ging Gerrit zu Alex hinüber. "Wie geht es dir?", fragte er sanft. "Ich habe mein erstes Kind bei fremden Leuten gelassen. Bei Menschen, die mich verachten. Was denkst du wohl, wie es mir geht?" "Das Kind wird es gut haben bei den Leuten, glaube mir." Sie hob den Blick. Über ihre von der Kälte geröteten Wangen liefen dicke Tränen. "Ich vermisse meine Kind." Sie schluchzte auf. Er nickte leicht und versuchte sein Mitleid zu verdrängen. "Es ging nicht anders. So lebt es wenigstens und hat eine Zukunft. Halte dich daran fest." Hin und her schwankend zwischen dem Gefühl für Realität und dem Mitleid mit Alex Situation, schob er sie in ihre Baracke. "Die anderen Frauen sind alle arbeiten. Bleib hier." "Scherzkeks. Wo soll ich denn hin?" Sie ging zu ihrem Bett und legte sich müde hin. Gerrit ging in der Zeit zu Branco, der in Michaels Büro saß und sich um einige Abrechnungen kümmerte. "Wie weit bist du?" "So gut wie fertig. Noch eine Stunde, dann dürfte ich durch sein. Wieso drängelst du? Ich dachte, es hat keine Eile?" "Ich brauche dich für etwas anderes. Du kannst das morgen fertig machen." Branco packte seine Unterlagen zusammen und legte sie auf einen Schrank. "Gut. Oberst, darf ich mitgehen?" Der winkte ab und deutete damit seine Zustimmung an. Dann hob er den Blick. "Gerrit, ich erwarte dich heute Abend nach deiner Schicht hier. Ich muss etwas sehr wichtiges mit dir besprechen." "Ja, Oberst." Er öffnete die Tür und ließ Branco raus. Mit gespielter Ruhe schlenderte er rüber zu den Baracken. "Gerrit, was soll das? Wozu brauchst du mich?" "Ich brauche dich für gar nichts. Aber Alex." "Sie ist hier?" Gerrit sah ihn an. Branco war blass geworden. "Ja. Sie ist wieder da. In ihrer Baracke." Er schob ihn zur Tür, hielt ihn dann aber fest. "Ich riskiere hier eine Menge. Ihr habt ungefähr eine Stunde. Wenn ich klopfe, kommst du sofort raus, klar?" Er nickte hastig. "Solltest du dich nicht an die Abmachung halten, lass ich dich erschießen." "Ja", sagte Branco leise und schlüpfte in die Baracke. Er glaubte Gerrit jedes Wort.
Im Halbdunkel sah Branco seine Freundin auf ihrem Bett liegen. Sie hatte sich zusammengerollt und schluchzte leise. Er rannte fast zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. Vorsichtig strich er über ihre Schulter. Ganz langsam drehte sie sich um und sah ihn verwirrt an. Als sie ihn erkannte, schluchzte sie erneut. "Alex, mein Engel, ich bin so unglaublich stolz auf dich." Verwirrt sah sie ihn an. "Wieso?", brachte sie mühsam hervor. "Was habe ich getan, worauf du stolz sein könntest?" "Du hast unser Kind gerettet. Ich weiß, wie schwer das war. Es zerreißt auch mich fast, dass ich es niemals kennen lernen werde. Aber unser Kind wird eine Zukunft haben." Sie drehte sich jetzt richtig zu ihm um, richtete sich auf und schlang die Arme um seinen Hals. Den Kopf auf seine Schulter gelegt, schmiegte sie sich schutzsuchend an ihn. "Vielleicht können wir es uns zurückholen, wenn wir hier raus sind." Er schüttelte den Kopf. "Nein, das können wir nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass wir hier jemals raus kommen." "Wie kannst du das sagen?" Sie hob den Kopf und sah ihn eine Weile an. "Es ist die Wahrheit und wir sollten uns damit abfinden." Er strich ihr über die Wange. "Ich habe dich vermisst, Alex." Zärtlich küsste er sie, doch sie wehrte ihn ab. "Branco, bitte. Ich habe dich auch vermisst, aber ich kann das jetzt nicht. Nicht hier." Er nickte traurig. "Ich verstehe dich. Tut mir leid, ich bin echt unsensibel geworden." "Bist du wirklich", sagte sie lächelnd. Ihre Hand glitt über sein schmales Gesicht. "Wie kommt es, dass du hier bist?" "Weil Gerrit es anscheinend nicht erträgt, dass du leidest. Er steht vor der Tür und hält Wache." Sie schwankte leicht. "Das wird so schnell nicht wieder passieren, oder?" "Nein, wahrscheinlich nicht. Vielleicht nie wieder." Mit einem Mal glitt ein Lächeln über Alex Gesicht. Es wischte ihre tiefe Trauer weg, wenn auch nur für den Moment. Der Schleier, der über ihren Augen gelegen hatte, verschwand und wich einem Glitzern, welches Branco sehr vertraut war. Als sie ihn hart an sich zog, ihn fordernd küsste und anfing, ihm die Anstaltskleidung auszuziehen, ließ er dies nur allzu willig mit sich geschehen. Und zum ersten Mal fror er in diesem Winter in der Baracke nicht.
Gerrit hörte das leise Stöhnen, welches aus der Gefangenenbaracke zu ihm drang. Unwillig verdrehte er die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Leise vor sich hin brummend, blickte er hinüber zum Wald, wo der Arbeitstrupp sicher bald auftauchen würde. Als er die ersten Leute sah, schlug er leicht gegen die Tür. Mit zerstrubbeltem Haar und gerötetem Gesicht tauchte Branco nahezu augenblicklich in der Tür auf. Er sah sich um und huschte in seine Baracke. Gerrit folgte ihm nach einer Weile. "Schade, dass du pünktlich warst. Hätte dich zu gern erschossen, schon dafür, dass ich mir das anhören durfte." Brancos Lippen kräuselten sich leicht. "Weiß ich. Danke, Gerrit, auch in Alex Namen. Sie kann dir im Moment einfach nicht danken. Sie braucht jemanden, den sie für unsere derzeitige Situation und für unser verschwundenes Kind verantwortlich machen kann und das bist du." "Immer wieder gern." Gerrit wand sich zur Tür um. "Wenn Alex jetzt wieder schwanger ist, kriegt ihr beide ein Problem." Damit verschwand er und ging ins Büro seines Vorgesetzten. Der wollte ja schließlich noch mit ihm sprechen.
Als Gerrit das Zimmer des Oberst betrat, stand vor dem eine Dose auf dem Tisch. Fragend sah er sie an. Der Mann bot ihm einen Platz an und blickte dann wieder auf das Blatt Papier in seinen Händen. Minuten später wand er sich an seinen Untergebenen. "Gerrit, es haben sich einige Dinge geändert. In den großen Lagern hat man angefangen, die Endlösung der Judenfrage aktiv in die Tat umzusetzen. Und zwar nicht mehr, indem man die Menschen mit harter Arbeit und schlechtem Essen langsam zu Grunde gehen lässt, sondern hiermit." Er tippte auf die Dose. "Was ist das, Oberst?" "Giftgas." Erschrocken riss der Augen auf. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinem Gehirn formte sich ein einziger Satz, während Oberst Naseband weitersprach. 'Alex ist Jüdin.' "Eine Schande ist das, Arbeitskräfte einfach umzubringen, jetzt wo unser Land immer mehr Soldaten braucht. Aber wir haben konkrete Anweisungen aus Berlin. Sobald es Frühling wird, werden wir mit dem Bau einer Gaskammer beginnen. Ich denke, bis Herbst sollte sie einsatzfähig sein. Du wirst den Bau beaufsichtigen. Und dann schau nach, ob wir die Juden, die für uns direkt arbeiten, im Büro und im Lazarett, durch ebenso qualifiziertes nichtjüdisches Personal ersetzen können. Eventuell sollen die Juden ihre Nachfolger anlernen." Der Mann sah Gerrit an. "Natürlich bleibt die ganze Sache vorerst unter uns. Du wirst deinen Männer Bescheid sagen und sollte sich einer von denen verplappern, erschieß ihn. Ich will keine Panik hier im Lager und keine Meutereien. Nach den ersten Toten werden die Leute hoffentlich zu schockiert sein, um sich großartig zu wehren." Gerrit erhob sich und salutierte fahrig, dann verließ er ohne ein Wort zu sagen das Büro, rannte zur Toilette und übergab sich. Seine Knie gaben nach und er sank auf den kalten Boden. Das ging doch nicht, was man hier vorhatte. Sicher hatte er von den Gerüchten gehört, dass diese Methode der Vernichtung von Menschenleben in anderen Lagern üblich war, aber doch nicht hier. Nicht in diesem human geführten Lager. Was sollte er den Leuten sagen, die er zur Gaskammer brachte? Das konnte er nicht, ihnen in die Augen sehen und sie in den Tod schicken. Alex in die Augen sehen und sie in den Tod schicken, verbesserte er seine Gedanken. Sicher, er glaubte an den Staat und er verfolgte mit aller gebotenen Härte dessen Feinde und Kritiker, aber durfte er wirklich so weit gehen? Oder musste er es einfach? Langsam stand er auf und wankte in sein Zimmer, wo er einen Schluck kalten Kaffee trank. Angewidert verzog er das Gesicht. Ihm war immer noch schlecht und es kam nicht von der Bitterkeit des Getränks. "Verfluchte Scheiße", murmelte er leise. "Ich kann das nicht. Das bringe ich nicht. Aber ich kann mich nicht weigern. Dann… dann…" Er setzte sich langsam auf sein Bett und stützte den Kopf auf die zitternden Hände. Leise murmelte er das, was ihn am meisten ängstigte. "Ich will hier nur noch weg. Einfach weg, aber wenn ich jetzt aufgebe und weglaufe, habe ich alles umsonst gemacht und lande dort, wo mein Vater war; in der Gosse."
Nachdem er lange in seinem Zimmer gesessen hatte, ging er zu seinen Leuten und unterrichtete sie von den neuen Befehlen. Mit Erleichterung sah er den Widerwillen und die Unsicherheit in vielen Gesichtern. Er befehligte also nicht nur gewissenlose Soldaten, sondern Menschen. Dass Robert sich für diese Neuerung aussprach und sie als 'lange überfällig' betitelte, wunderte ihn nicht wirklich. Der war in den letzten Monaten so erschreckend eiskalt geworden, dass man das mit normaler menschlicher Kälte nicht mehr bezeichnen konnte. Gerrit beantwortete einige Fragen seiner Leute, obwohl er selber nicht genau wusste, was kommen würde und verließ dann die große Unterkunftsbaracke, die für solche Versammlungen genutzt wurde, wenn Häftlinge nichts mitbekommen sollten. Kälte schlug ihm ins Gesicht, vereinzelt fielen Schneeflocken vom Himmel. Er schlug den Mantelkragen hoch und zog die Jacke enger um sich. Die Tür hinter ihm knarrte und Robert kam heraus. Er hatte Wachdienst und dementsprechend schlechte Laune. "Naja, bald haben wir weniger zu tun. Inzwischen sind drei Viertel unserer Häftlinge Juden." Er grinste Gerrit offen an. "Schaffst du es, Alex zu unserem neuen Haus zu bringen oder darf ich es tun?" Wütend fuhr der ihn an: "Stell noch eine so blöde Frage und du darfst neben ihr sitzen und aufpassen, dass sie tief einatmet. Geh zu deinem Dienst." Robert lachte jedoch nur über dessen Ausbruch und schulterte sein Gewehr. "Jawohl, Leutnant." Er salutierte und verschwand in Richtung Tor.
Ohne auf seine Schritte zu achten, kochend vor Wut, lief Gerrit über den Hof und fand sich am Zaun wieder, der das Lager zum Fluss hin abgrenzte. Ihm fiel wieder ein, was der Oberst vor einigen Jahren mal zu ihm gesagt hatte: 'Es gibt Feinde, denen kannst du blind vertrauen, aber es gibt Freunde, denen solltest du niemals den Rücken zudrehen.' Er würde Robert besser künftig nicht mehr den Rücken zudrehen, das war sicherer für ihn. Er seufzte und sah im selben Moment den Feind, dem er blind vertraute, vor sich. Zwei Gefangene besserten hier unter Brancos Anleitung die Umzäunung aus, bewacht von einem Wachmann. "Rainer, nimm die beiden mit rein, den Rest können sie morgen machen. Mit ihm hier muss ich noch ein Wörtchen reden." Er packte Branco hart am Kragen. "Hat der was ausgefressen?" "So ähnlich." Als die Männer weg waren, ließ Gerrit ihn los. "Tut mir leid", sagte er flüsternd. "Ich wollte dir keine Angst machen." Selbst im düsteren Licht einer Laterne sah er dessen blasses Gesicht und die schreckensgeweiteten Augen. "Nein, natürlich nicht. Wolltest du ja nie." "Halt die Schnauze und hör mir zu. Wir haben ein Problem. Weißt du, was in den anderen Lagern praktiziert wird?" "Was meinst du? Folter, medizinische Versuche an Häftlingen, Mord?" "Gaskammern." "Ja, davon haben wir gehört. Die meisten, die hier sind, beten jeden Abend zu ihren Göttern, dass alles hier im Lager so bleibt, wie es ist." Gerrit lachte freudlos auf und wand den Blick in Richtung Zaun. "Was ich dir jetzt sage, darf auf keinen Fall an das Ohr eines anderen Häftlings dringen." "Wieso sagst du es mir dann?" "Weil du Alex liebst." Wütend sah er den Mann an. Branco stutzte. "Alex… Gut, was ist los?" Aufmerksam lauschte er Gerrits Worten. "Dreckschweine", brachte er schließlich hervor. "Und was willst du von mir? Was soll ich tun? Mit Alex fliehen? Gut, mach ich, sorg einfach dafür, dass man uns nicht abknallt." Seine Stimme zitterte und überschlug sich fast vor Panik. Fliehen? Daran hatte Gerrit überhaupt noch nicht gedacht. Ihm war zwar der Gedanken gekommen selber wegzulaufen, aber Alex zur Flucht zu verhelfen… Seine Wangen glühten. "Fliehen", murmelte er und sah sich hektisch um. "Ja, das ist es. Ihr zwei müsst hier raus. Bring sie in ein sicheres Land, werde glücklich mit ihr, aber bring sie weg von hier." Branco sah den Mann vor sich an, als hätte der nicht alle Tassen im Schrank. "Ähm… Gerrit, geht es dir nicht gut? Wir können hier nicht raus. Dies ist ein sehr gut bewachtes Arbeitslager." "Und ich bin Chef der Wachen." "Und du bist tot, wenn wir weg sind." "Das würde dir sicher das Herz brechen." "Nein. Es wäre mir egal. Aber damit würdest du Alex zurück gewinnen und das will ich nicht." Schweigend sahen sich die beiden Männer an. Schließlich packte Gerrit Branco am Arm und zog ihn zu seiner Baracke. Vor der Tür zischte er ihm leise zu: "Ich überlege mir was und ich erwarte, dass du mitmachst." "Natürlich mache ich mit. Ich würde alles für sie tun", zischte der zurück. Er machte sich mit einer heftigen Bewegung von ihm los und verschwand im Inneren der Baracke.
Die nächsten Wochen verbrachten sowohl Gerrit als auch Branco mit intensivem Nachdenken. Gerrit grübelte über einen Fluchtplan, der es Branco und Alex ermöglichen könnte, sicher zu entkommen und ihm die Möglichkeit bot, hier zu bleiben. Leider passte das hinten und vorn nicht zusammen. Noch nie war ein Häftling aus diesem Lager ausgebrochen und der Oberst würde ihn persönlich dafür verantwortlich machen, sollte dies geschehen. Also musste er mit den beiden zusammen türmen. So konnte er sein Leben retten. Anscheinend nur so. Branco hingegen überlegte angestrengt, ob er nicht doch die anderen Häftlinge vor ihrem Schicksal warnen sollte. Doch er sah ein, dass es ihnen nichts bringen würde. Sie würden in Angst leben, bis es soweit war und vielleicht Dummheiten machen. Und das konnte Gerrit in Gefahr bringen und damit den Fluchtplan. Nachdem Branco sich innerlich darauf eingestellt hatte, bis zum Ende seiner Tage in diesem Lager zu bleiben, erschien ihm die Hoffnung auf eine Flucht und auf ein freies Leben mit Alex wie das Paradies. Und er wollte das nicht gefährden.
Im Frühjahr, als die Tage schließlich frostfrei waren, begann man mit dem Bau eines neuen Steinhauses auf dem Gelände des Lagers. Allerdings war das Wetter so unbeständig, dass man bis Mitte Mai nicht viel machen konnte, so dass es sehr schwer werden würde, das Haus mit der ganzen raffinierten Technik bis zum Herbst fertig zu stellen. Der Oberst war ungeduldig und stellte Gerrit deshalb zur Rede. "Ich kann doch nicht hexen, Oberst. Und für das Wetter bin ich auch nicht verantwortlich." "So brauchen wir ja bis zur zweiten Heuernte bis das alles fertig ist." Er setzte sich brummend in seinen Sessel. "Wie hast du es den Häftlingen erklärt, was wir da bauen?" "Ich habe ihnen gesagt, dass es ein Waschhaus wird, Duschen und so weiter, welches sie auch benutzen dürfen. Die Technik für das Gas machen später nur noch unsere Leute und Fachkräfte aus München, damit die Häftlinge nichts mitbekommen." "Sehr gut. Dann geh wieder an die Arbeit. Und treib die Bauarbeiter etwas an." "Jawohl, Oberst." Gerrit trat ins Freie. Sein Blick ging ins Leere und auf seinem Gesicht lag ein dünnes Lächeln. Dank seines Vorgesetzten hatte er endlich einen konkreten Plan. Sofort ging er zu dem Rohbau, der langsam aus dem schlammigen Boden empor wuchs. Branco beaufsichtigte die Bauarbeiten und versuchte dabei, nicht allzu widerwillig auszusehen. Er hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um nicht mehr als hier und da kleine Fehler zu machen und damit die Bauarbeiten zu stören, denn eine offene Sabotage würde auf die Dauer niemandem etwas bringen. "Branco, wir müssen über die Pläne sprechen." Er winkte ihn ein Stück weg von den anderen zu einem Stapel Holzbalken. Scheinbar lässig legte er sich mit dem Rücke dagegen. Der Wind blies ihm ins Gesicht und trieb einige Frühsommergerüche vom Wald herüber. "Ich habe einen Plan", sagte er leise und sah sich um. "Im Herbst, während der zweiten Heuernte, werde ich euch in einen kleinen Arbeitstrupp einteilen. Die Arbeit ist leicht, es werden nur zwei oder drei Wachen dabei sein und wir sind relativ weit weg vom Lager. Das ist perfekt." "Muss ich das jetzt alles sofort verstehen?" "Nein. Du musst nur eines wissen. Im Herbst seid ihr frei. Dann kannst du mit Alex das Land verlassen." "Und du?" "Ich verschwinde auch. Aber keine Sorge, ihr seht mich nicht wieder." Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend an, bevor Gerrit zum Tor ging, um seinen Dienst dort anzutreten. Branco ging wieder an seine Arbeit und sprach mit einigen der Häftlinge, die beim Bau halfen. Hinter dem Holzstapel, so dass man es von vorn nicht sehen konnte, stand Robert, unbeweglich und mit weit aufgerissenen Augen. Sekunden später warf er die Zigarette, die er hier heimlich geraucht hatte, mit einem immer breiter werdenden Grinsen zu Boden, wo sie zischend in einer Pfütze verlosch.