Falls ihr runterscrollt und euch fragt, wo das erste Kapitel bleibt; es kommt sofort, aber ich denke, in diesem Fall ist das Vorwort einen eigenen Eintrag wert, da manche Leute sonst einfach drüber hinweg lesen würden. Allein, dass ich ein Vorwort schreibe, zeigt dass diese Story etwas anderes ist als meine bisherigen. Ich muss einfach einige Dinge loswerden, bevor ihr das lest. Wer eine nette, seichte Fanfiction mit mehr oder weniger Sinn erwartet, hört bitte hier auf mit Lesen. Ihr wärt nur enttäuscht. Für die, die auf Stories zum Mitdenken stehen und auf Geschichte, könnte das hier was sein. Isi, Bhelial, Gummy, danke fürs Betalesen und Mut machen. Bisher habe ich auf Betaleser immer verzichtet, aber hier wollte ich einfach eine zweite, dritte und vierte Meinung haben. 'Schuld und Sühne' spielt im Zeitraum Sommer 1937 bis Sommer 1943, also kurz vor und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Aber genau dieser Krieg spielt in meiner Geschichte eigentlich nicht mehr als eine kleine Nebenrolle. Mir geht es mehr um die Menschen zu dieser Zeit, um die Frage, warum manche so oder so handelten und um die Verhältnisse der unterschiedlichen Gruppen (hier vertreten durch die uns bekannten Kommissare) zueinander. Allein die Zeit dürfte klar machen, dass es sich nicht um eine K11-Story im eigentlichen Sinn handelt, sondern mehr in Richtung einer freien Story mit bekannten Charakteren geht, ungefähr so wie Hexenjagd. Allerdings ist diese Story wesentlich ernster. Der damaligen Zeit entsprechend, habe ich sie weitestgehend ernst und düster gehalten. Da ich während des Schreibens allerdings nach einiger Zeit Albträume bekommen habe, habe ich dann einige seichtere Teile eingebaut. Ich möchte ja niemandem einen Schaden verpassen. Wertungen habe ich in dieser Story weitestgehend vermieden, natürlich ging es nicht immer. Und dass meine Haltung zu vielen Themen mit durchklingt, mag man mir bitte verzeihen. Jeder Leser sollte allerdings eine eigene Meinung zu den Geschehnissen von damals haben und hoffentlich genug fundiertes Wissen, welches diese Meinung stützt.
Ich denke es ist auch so klar, aber ich möchte zwei Dinge doch noch einmal deutlich sagen: 1. Die teilweise extremen Sprüche, Bezeichnungen und Bemerkungen einzelner Charaktere und deren Ansichten entsprechen gewiss nicht meiner persönlichen Meinung, sondern stammen aus Informationsmaterial aus dem Internet, Büchern und Filmen, sowie dem Geschichtsunterricht. 2. Die rechtsextreme Ausrichtung, die ich einigen der Kommissare angedichtet habe, damit sie bestimmte unterschiedliche Menschengruppen der damaligen Zeit vertreten können, entspricht selbstverständlich NICHT der Realität!!! Ich sage das mal extra dazu, damit sich niemand künstlich aufregt.
Auch wenn es ein heikles historisches Thema ist, welches ich hier verwendet habe, bleibt 'Schuld und Sühne' letztendlich nur eine von mir erdachte Geschichte, basierend auf einigen historischen Fakten, versetzt in eine vergangene Zeit und ausgeschmückt mit viel Kreativität und künstlerischer Freiheit. Legt bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Ich denke, wer die Story liest, wird feststellen, dass man mir mangelnden Respekt und mangelnde Ernsthaftigkeit nicht vorwerfen kann.
Diskussionen über fachliche Dinge sind sehr willkommen, sollten aber bitte nicht mehr Platz einnehmen, als die Storyteile, die ich kapitelweise online stellen werde. Sollte am Ende eine Diskussion geschichtsinteressierter Leute entstehen, habe ich natürlich nichts dagegen. Mitdenken und Kritik sind erwünscht, aber bitte, bitte kein sinnloses Gemecker, ohne die Fakten zu kennen. Erst lesen, dann denken, dann kritisieren.
So, genug gequatscht. Ich hoffe, ich habe nichts Wichtiges vergessen und auch niemanden verschreckt.
Der Himmel war blassblau, der Sommer näherte sich dem Ende, das Wetter hatte aber noch nicht auf Herbstanfang umgeschalten. Die Sonne ging langsam auf, kletterte höher und höher, das Blau wurde dunkler, die Temperaturen stiegen. Die Strahlen der Sonne fielen blass ins Zimmer und weckten langsam dessen Bewohner auf. Die Frau quälte sich aus dem Bett, tiefe Ringe lagen unter den Augen, gezogen vom harten Kampf ums tägliche Überleben und von zuwenig Erholung. Sie setzte Wasser für den morgendlichen Kaffee auf, der sie soweit in Schwung bringen sollte, dass sie sich zur Arbeit in die Fabrik schleppen konnte. Bei jedem Schritt, den sie tat, bei jedem Handgriff, der nötig war, um den Morgen wie gewohnt zu beginnen, stöhnte sie leise auf. Sie hatte seit Jahren schweres Rheuma, ihre Gelenke waren geschwollen, aber das Geld, um die vom Arzt verschriebenen Medikamente zu kaufen, fehlte der Familie. Also musste sie die Zähne zusammenbeißen und einfach weitermachen. Sie warf einen verbitterten Blick zu ihrem Mann hinüber, der unrasiert und stinkend unter seiner flickenbesetzten Decke lag und schnarchte. Neben dem Bett stand eine angefangene Flasche Bier. Dafür ging das meiste Geld drauf, welches sie in ihren 12-Stunden-Schichten erarbeitete. Dieser Mann war ihr Untergang, das wusste sie seit Jahren. Seit er aus dem Krieg zurück war, war er vollkommen verändert. Bevor er an die französische Front gegangen war, war er ein junger Mann gewesen, sprühend vor Energie und mit einem strahlenden Blick in die wunderbare Zukunft, die man den Soldaten für ihre Mühen und Opfer versprochen hatte. In seine eisblauen Augen hatte sie sich damals am meisten verliebt. Wegen seiner Spontanität und seiner Zuversicht, dass alles gut werden würde, hatte sie ihn geheiratet. Zurückgekommen war ein alter Mann, der im Schlaf vor Albträumen schrie und der tagsüber versuchte, die Bilder in seinem Kopf mit Alkohol zu dämpfen. Er hatte eine Kugel ins Knie bekommen, seitdem war es steif. Arbeit fand er mit dieser eigentlich leichten Behinderung nicht, dafür gab es zu wenige Stellen in Deutschland. Selbst hier in München sah es im Moment sehr schlecht aus. Außerdem war er mitten in der Ausbildung zum Bauarbeiter in den Krieg gezogen und hatte somit auch keinen Beruf gelernt. Ihr trüber Blick glitt hinüber zur anderen Ecke des Zimmers, welches ihr Zuhause war. Dort lag, unter einer viel zu kurzen Decke, so dass die nackten Füße darunter hervorschauten, die Hoffnung ihres Lebens. Ihr einziges Kind, ihr Sohn. Sie wusste, dass sie ihn heute verlieren würde, aber sie wünschte ihm für seinen Weg stumm alles Gute. Als er sich regte, wischte sie sich über die Augen, drehte sich zur Tür um und verließ schnell das Zimmer, um über den Flur hinweg die Toilette aufzusuchen, die die Familie sich mit anderen Mietparteien dieses Hauses teilen musste. Steif bewegte der Junge, der gerade seinen 16. Geburtstag gefeiert hatte, die kalten Zehen und zog die Füße dann für einige Minuten an, damit sie ein wenig warm wurden. Mit geschlossenen Lidern hob er die Hände über den Kopf und ließ sie über die uralte, teils schimmlige Tapete gleiten, die an vielen Stellen bereits von der Wand herab hing. Er tat dies jeden Morgen, bevor er die Augen öffnete. Dann wusste er wenigstens, wofür er aufstand, wofür er lernte und wofür er sich in der Schule abmühte. In seinem Leben gab es nur ein Ziel: Er wollte hier raus. Raus aus diesem miefigen, kleinen Zimmer, welches er sich mit seinen Eltern teilte, seit er auf der Welt war. Raus aus dem vierstöckigen Wohnblock, wo Arbeiter hausten, die nicht viel Geld hatten. Weg von den hoffnungslosen Gestalten, die 1918 aus dem Krieg zurück gekehrt waren, ohne das ersehnte Glück gefunden zu haben. Weg von denen, die so in die Knie gesunken waren, wie das Land selber. Er schlug die Augen auf, sah den vertrauten Schrank, als er leicht den Kopf zur Seite drehte. Wenn er daran vorbei spähte, erblickte er seinen Vater, noch schnarchend unter der Decke des elterlichen Bettes. Drehte er den Kopf auf die andere Seite, konnte er aus dem Fenster sehen. Davor verlief die dreckige Straße und auf der anderen Straßenseite stand ein weiterer Wohnblock, ebenso trostlos wie der, in dem er wohnte. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit drei klapprigen Stühlen. Ihm gegenüber an der Wand, direkt neben der Tür, war eine verrostete Spüle mit einem Ding, welches man mit viel Phantasie als Wasserhahn bezeichnen konnte. Dort kam, vermischt mit Luft, eiskaltes, braunes Wasser heraus. Dieses trank die Familie, damit wurde gekocht und man wusch sich auch mit dieser Brühe. Nichts davon war für die Gesundheit gut, aber es gab keine andere Möglichkeit. Daneben war der einzige schöne Fleck seines Zuhauses. Der Ofen. Auf ihm kochte seine Mutter das Essen, wenn mal genug Geld für etwas zum Kochen da war. Und er spendete Wärme. In den kalten Winternächten, wenn der Wind durch das undichte Fenster pfiff, konnte man davor sitzen und von einer besseren Zukunft träumen. Langsam hob er den Blick zu einem großen Porträt. Ein Mann blickte mit strengen Augen auf das Zimmer hinab und auf die Menschen, die es bewohnten. Schwarze Haare, ein kleiner, schmaler Mund, darüber ein Oberlippenbärtchen. Dieser Mann war vor vier Jahren das Staatsoberhaupt des deutschen Volkes geworden und gleichzeitig die Hoffnung der Armen des Landes. Seine Methoden mochten radikal sein, seine Ansichten waren teils neu, teils schon lange in den Köpfen der Menschen vorhanden, aber er sprach sie aus. Er wollte den Menschen Arbeit geben, der Jugend Nationalstolz und dem ganzen Land das Ansehen, welches es verdient hatte. Darum folgten sehr viele ihm bereitwillig, auch wenn sie nicht mit allem einverstanden waren, was er von sich gab. Das Gesicht des Jungen spannte sich an. Er setzte sich aufrecht hin, hob das Kinn ein wenig und schaute den Mann an. Das war die Zukunft, seine Zukunft. Er hatte nie die Hoffnung auf eine gehabt, aber jetzt sah er sie vor sich, wenn er die Augen schloss und niemand würde sie ihm kaputt machen. Die Tür wurde leise aufgestoßen. Das Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er senkte den Blick. Die grauen Augen seiner Mutter sahen ihn an. "Guten Morgen, mein Junge. Zieh dich schnell an, bevor er wach wird." Verwirrung blitzte ihr aus seinen eisblauen entgegen, der einzigen Gemeinsamkeit, die ihn und seinen Vater verband. "Mama, ich habe keine Angst mehr vor ihm. Die Zeiten, als ich mich leise aus der Wohnung gestohlen habe, sind vorbei", erinnerte er sie mit milder Stimme. "Jaja, schon Recht." Sie nickte leicht und wand sich dem Wasser zu, welches inzwischen kochte. "Zieh dich an. Die Schule wartet." Seufzend fügte sie hinzu: "Dein letzter Tag dort." Er lächelte, sprang aus dem Bett und schlüpfte in seine alten Sachen, die er am Vortag einigermaßen gereinigt und geglättet hatte. Heute war sein Tag, das fühlte er. Heute würde er sein Abschlusszeugnis bekommen und am Nachmittag ging es dann ins Lager. Dort würden er und einiger seiner Freunde über mehrere Wochen hinweg geprüft werden und am Ende vielleicht eine gute Ausbildung bekommen. Er strich sich über die kurzen blonden Haare, die dringend mal wieder gewaschen werden mussten. Ordnung und Sauberkeit predigte man der Jugend von heute, aber wie sollte er diese Regeln in diesem gammligen Zimmer befolgen? Er nahm sich seine Tasche mit den wenigen Schulbüchern, die er besaß und den Rucksack, in welchem seine kümmerlichen Habseligkeiten verstaunt waren. Wenn es nach ihm ging, würde er diese Wohnung nie wieder betreten. Sicher, er liebte seine Mutter, würde sie wahrscheinlich auch vermissen, aber in seinen Augen war sie schwach und er hasste nichts mehr als Schwäche. Er straffte sich und sah wieder zu dem Porträt hoch. "Ich bin bereit für meine Zukunft, mein Führer", murmelte er leise. Dann wand er sich seiner Mutter zu. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und beschäftigte sich mit einem Kaffeefilter. Ihre Hände zitterten und ihre Schultern zuckten leicht. Sie weinte leise. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und beugte sich hinab. "Machs gut, Mama. Sei nicht traurig, ich schreibe dir aus dem Lager und halte dich auf dem Laufenden." Sie schluchzte auf und drehte sich um. Da sie ihren Sohn kannte, hörte sie die Lüge in dem Versprechen heraus. Er würde nicht schreiben, wenn ihn niemand dazu zwang. Ihre schmalen Arme, die ihn ernährt hatten, umschlangen seinen Körper. "Machs gut, mein kleiner Junge." Ihr Kopf lag gegen seine Brust gepresst, höher kam sie schon lange nicht mehr. Langsam beugte er sich hinab und küsste sie auf die Wange. "Für mich ist es das Beste, Mama. Wünsch mir Glück, bitte." "Alles Glück dieser Welt, mein Junge. Ich wünsche dir, dass du findest, was du suchst." Er nickte und straffte sich, nachdem er die Umklammerung seiner Mutter sanft aber nachdrücklich gelöst hatte. Ein letzter Blick galt seinem Vater. Er versuchte, sich dieses Bild genau einzuprägen, das unrasierte Gesicht, der Speichelfaden, der aus seinem Mundwinkel sickerte, die eingefallenen Wangen. So wollte er niemals enden. Seine linke Hand tastete nach der Klinke, drückte sie herunter und stieß die Tür auf. Hinter sich schob er sie hastig wieder zu. "Was soll der Lärm", grunzte Georg seiner Frau zu. "Was flennst du?" Er blinzelte verwirrt in die Morgensonne. "Dein Sohn hat gerade die Wohnung verlassen, wahrscheinlich für immer." Sein Blick fiel auf die Tür. "Gut so. Der wird es schon schaffen, schließlich ist er mein Fleisch und Blut und ich habe endlich ein eigenes Bett. Und mehr Geld bleibt für uns auch, wenn wir ihn nicht mehr durchfüttern müssen. Ich habe für dieses Land meine Gesundheit geopfert, soll sich das Land jetzt um meinen Sohn kümmern. Es hat nur Vorteile für uns, also heul nicht." Damit drehte er sich um und schlief wieder ein, während seine Frau leise vor sich hin weinend am Tisch sitzen blieb.
Mit Schwung riss Gerrit die Tür auf und sprang auf die Straße. Er ließ die kleine Wohnung, den alten Flur, das knarrende Treppenhaus, hinter sich und trat in die Sonne hinaus. Warme Luft wehte ihm entgegen. Der Tag würde wieder sehr heiß werden. Seinen klammen Sachen tat sie ebenso gut, wie seinen kalten Armen und Beinen. Er stellte die Tasche mit den Büchern auf den Gehweg und schulterte den Rucksack. Als er die Büchertasche aufhob und nach vorn blickte, sah er, dass sich die Tür vom Haus nebenan öffnete. Zögernd trat ein Junge ins Freie, blickte sich um und erstarrte. "Morgen, Gerrit", grüßte er unsicher. In seinen Augen flackerte die Angst. 'Elender Feigling', dachte Gerrit grinsend. "Morgen." Sein Gruß war klar, zackig, so wie man es ihm in der Hitlerjugend beigebracht hatte. Sein Gegenüber schien dadurch noch eingeschüchterter, was auch Sinn und Zweck der Sache war und der einzige Grund, warum er überhaupt mit seinem Nachbarn sprach. Der Junge war kleiner, dünner und hatte kurze schwarze Haare und braune Augen, in denen die Angst so fest eingemeißelt war, wie in Stein. Gerrit wusste, dass er nicht ganz unschuldig daran war. Unzählige Male hatte er ihn durch die Straßen gejagt, zusammen mit seinen Freunden, hatte ihn geschlagen, nur um seine Wut loszuwerden und um sich stärker zu fühlen. Vor allem, seit dessen Vater im Gefängnis saß, war er ein willkommenes Opfer. Langsam trat er auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und sah, wie der noch mehr in sich zusammen sackte. 'Früher habe ich nur ein Opfer gesucht, um meinen Frust loszuwerden, nie einen Gegner. Hättest du dich nur ein mal gewehrt, hätte ich dich in Ruhe gelassen.' Er lächelte bei dem Gedanken, dass sein Nachbar sich wehren würde. Sein blauen Augen funkelten, doch er ging einfach weiter. Hier, wo keiner seiner Freunde es sah, wenn er den Schwächling fertig machte, wo sie ihn nicht anfeuerten und ihn bewunderten, war es unsinnig, seine Zeit zu vertrödeln. Er musste sich eh beeilen. "Wir sehen uns in der Schule", knurrte er leise und rannte dann los. Seine Füße flogen über das unebene Pflaster, er sprang zwischen den wenigen Autos und den Kutschen über die Straßen, ohne nach rechts und links zu sehen. Der kühle Wind, den er jetzt fühlte, tat ihm gut, ermunterte ihn, weiter zu laufen. Seine Atmung ging schneller, aber nicht keuchend, wie bei anderen in dieser Situation. Er war gut im Sport, er war stark und ausdauernd. Der Sprint bis zum Treffpunkt war für ihn eine leichte Sache.
Als er den Platz betrat, erwartete Gerrit das vertraute Bild eines jeden Tages in seinem Leben, seit er in die Schule gekommen war. Seine beste Freundin, Alexandra Rietz, Tochter eines Unternehmers, saß auf dem Brunnenrand, der den Mittelpunkt des Platzes bildete und wartete auf ihn. Neben ihr lag, eingewickelt in hellbraunes Papier, Essen für Gerrit. Ohne sie wäre er längst verhungert oder kriminell geworden, wie so viele Jugendlichen in seiner Situation. Alex, wie sie von allen genannt wurde, blickte auf, als sie sich beobachtet fühlte. Nur kurz wand sie die Aufmerksamkeit von ihrem Buch ab, lächelte ihm zu und las dann wieder. Gerrit ging zu ihr hinüber, zog wortlos sein Hemd aus und fing an, sich zu waschen. Es war ihre Idee gewesen und sie hatte ihm damit einen großen Gefallen getan. Denn in den letzten Jahren waren Ordnung und Sauberkeit immer wichtiger geworden. Und Dank ihr kam er immer adrett in die Schule. Dank ihr hatte er Essen. Dank ihr war er in allen Fächern der Beste. Sie hatte mit ihm gelernt, immer wieder, jeden Tag eigentlich. Entweder hier am Brunnen oder in einem Schuppen, etwas entfernt in einer kleinen Gartenanlage. Dort gab es einen kleinen Ofen, so dass sie bei kaltem Wetter nicht frieren mussten. Zu ihm nach Hause hatten sie nie gekonnt, wegen seines Vaters und zu ihr hatte er nie gewollt, denn dann hätte sein Neid auf ihr gutes Leben die Freundschaft gefährdet. Ja, sie hatte ihm in jeder Hinsicht geholfen, nur in einem Fach verweigerte sie ihm die Unterstützung; in Rassenkunde. Dieses Fach war ihr ein Dorn im Auge und sie war auch nicht sehr gut darin, weil sie sich weigerte, das zu lernen, was die Lehrer ihr dort beibringen wollten. Gerrit war es leicht gefallen, er musste eigentlich nur wiederholen, was die Lehrer vorbeten, dann kamen die guten Noten von allein. Als er mit dem Waschen fertig war, zog er sich ordentlich an und machte sich über das Essen her. Erst jetzt legte sie ihr Buch weg und sah ihn lächelnd an. "Guten Morgen, Gerrit." "Morgen, Alex", nuschelte er mit vollem Mund. "Danke für das Essen." "Es war bei uns übrig." Derselbe kurze Dialog wie jeden Morgen. Wie sehr genoss er diese wenigen Minuten der Ruhe, bevor es in die Schule ging. Seine Haare trockneten langsam, er selber fühlte sich frisch und sauber und konnte auch noch das Loch in seinem Magen bekämpfen. In diesem Moment vergaß er den Ärger zu Hause und war nur noch ein Kind. Er liebte den Morgen am Brunnen. An dem Ort, wo sich für ihn alles verändert hatte. Hier, wo er zum ersten Mal Hoffnung geschöpft hatte, Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Hoffnung kam nicht von ungefähr, sondern von dem Mädchen, welches an seinem ersten Schultag hier am Brunnen gesessen hatte. Am Brunnen auf dem weitläufigen Platz, der den Arbeiterstadtteil von dem der wohlhabenden Leute trennte und der genau die Hälfte der Wegstrecke zwischen seiner Schule und seinem Zuhause markierte. Damals hatte er sie geneckt, weil sie lesend dagesessen hatte. Sie hatte ihn böse angefunkelt, mit einem Funken Spott in ihren Augen und gesagt, dass sie zumindest schon lesen konnte. Er, in seinen dreckigen Sachen, würde es wohl nie so weit bringen. Gerrit hatte sie empört angesehen und sie gefragt, was seine Sachen mit seiner Fähigkeit zu Lesen zu tun hätten und sie hatte ihn nach einer Minute des verblüfften Schweigens breit angegrinst. Sie hatte ihm geraten, sich zu waschen, was er getan hatte und sie hatte ihm ihr Schulbrot gegeben. Als er eine Stunde später die Schule betreten hatte, kannte er bereits zwei Buchstaben und war zum ersten Mal im Leben richtig stolz auf sich. Damals hatte er bemerkt, dass er keineswegs so dumm war, wie sein Vater ihm immer versucht hatte, einzureden.
Ich wage es jetzt einfach mal den ersten Kommentar zu dieser Story zu schreiben ...
Nachdem ich dein Vorwort gelesen habe war ich echt gespannt was denn da kommen mag. 2. Weltkrieg bzw. NS-Dikatur (wenn ich das mal grob so überschreiben kann) sind Themen, die mich schon immer interessiert haben, allerdings in einem speziellen Bereich: was hat die normale Bevölkerung gedacht/ gemacht, bzw. nichts dagegen gemacht. Die geschichtlichen Fakten schön und gut, aber der menschliche Faktor überwiegt in der Thematik meiner Meinung nach, kommt aber konsequent zu kurz (z.B. im Schulunterricht) Lange Rede, kurzer Sinn ... Das erste Kapitel ist klasse, ich bin wirklich gespannt, was da noch so alles kommen wird. Die momentane Ausgangslage klingt jedenfalls sehr interessant. Und die Atmosphäre kommt so richtig rüber ... Du schreibst über ein wirklich schwieriges Thema, dafür ebenfalls meine Hochachtung!
So Kitty, ich hab mir mal die neue Geschiche durchgelesen
Ich muss sagen, du hast dir wirklich ein sehr schweres Thema ausgesucht und ist aber trotzdem sehr interessant. Du hast den ersten Teil sehr bildlich geschrieben, sehr eindrücklich. Man kann sich genau vorstellen, wie diese Leute leben, wie sie vielleicht denken. Dein Schreibstil macht das ganze bisher zu einer richtigen Augenweide Auch wenn es ein ernstes Thema ist. Ich bin schon gespannt und freue mich schon auf einen neuen Teil.
Ich danke euch für die Kommis und das positive Interesse. Und eine Anmerkung noch an die Robert-Fans... einer muss das Arschloch vom Dienst sein und dafür muss bei mir eben der Neuling herhalten. Ich hab nix gegen ihn... nicht mehr zumindest. Was genau ich damit meine, werdet ihr bei den nächsten Kapiteln noch merken.
Kapitel 2 - Eine Entscheidung fürs Leben
Ein alter Mann fegte den Dreck vor seinem Laden und Glasscherben zusammen, der Reisigbesen kratzte über die leicht verwitterten Steine. Unbekannte hatten letzte Nacht die Scheibe des Ladens eingeschlagen, die Glassplitter glitzerten im Sonnenlicht. Quer über der Tür prangte in leuchtend roter Schrift das Wort: 'Saujude' Gerrit lachte, als er es las. Alex, welche neben ihm lief, sah ihn empört an. "Findest du das etwa komisch?" "Was denn, ist doch nur die Wahrheit." Sie blieb stehen. "Wie bitte? Was hat der Mann dir getan?" "Er ist Jude." "Was hat der Mann dir getan?" "Sie nehmen uns die Arbeit weg. Alles Verbrecher, sagen die Lehrer in der Schule immer. Man müsste sie ausrotten, hat der Leiter der Hitlerjugend erst beim letzten Treffen gesagt." "Hat dir jemals ein Jude etwas getan?", wiederholte sie ihre Frage und war sichtlich bemüht, ruhig zu bleiben. "Klar. Mein Vater ist arbeitslos, weil so viele von denen in Deutschland leben." "Dein Vater ist arbeitslos, wie übrigens viele andere Leute auch, weil es einfach nicht genug Arbeit gibt. Außerdem ist er krank und ich meine nicht sein Bein." "Ich weiß, dass er säuft. Stell dir vor, das ist mir schon aufgefallen. Aber, was soll der Unsinn, von wegen zu wenig Arbeit? Bringen die euch das etwa beim BDM bei?" "Keine Ahnung. Sicher nicht. Da haben wir Sport gemacht und gelernt, dass eine ordentliche Frau blonde und blauäugige Kinder zur Welt zu bringen hat." Sie sah ihren Freund an. "Aber wenn die alle so werden wie du, ist das vielleicht keine gute Idee." Grinsend ging sie etwas schneller. Mit empörtem Gesichtausdruck folgte er ihr. Schnell hatte er sie ein. Sie balgten sich eine Weile lachend und gingen dann weiter in Richtung Schule. "Bin ich froh, wenn ich die Schule hinter mir habe." "Heute ist doch der letzte Tag. Die Prüfungen sind eh vorbei, morgen beginnt der Ernst des Lebens. Was machst du eigentlich?" "Wir fahren heute Nachmittag ins Jugendlager." Er schlug leicht gegen seinen prallen Rucksack. "Einige von uns sollen getestet werden und bekommen dann eventuell gute Arbeit." "Gute Arbeit?" "Ja, irgendein Oberst oder sowas soll wohl kommen." "Was für ein Oberst? Willst du zur Armee?" Gerrit zuckte mit den Schultern. "Oder willst du zur SS oder so einem Verein?" "Warum nicht?" "Weil das verblödete Idioten sind, die da arbeiten. Sadisten." "Vorsicht, Alex. Solche Äußerungen können sehr gefährlich sein." Er sah sie drohend an. "Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten. Nicht mal von dir. Im Gegensatz zu dir, habe ich nämlich noch eine eigene Meinung, die ich äußern kann." Gerrit schwankte, beschloss dann aber, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen. Es führte eh nur zum Streit. Auch wenn er Alex eine Menge anvertraute, es gab Dinge, worüber sie einfach nicht reden konnten. "Wie du meinst." Inzwischen standen sie vor der Schule von Gerrit. "Sehen wir uns heute Nachmittag noch, bevor ich fahre oder musst du zum BDM?" "Ich gehe da nicht mehr hin, das ist mir zu hirnlos. Bis heute Nachmittag." Damit rannte sie rüber zum Eingang für die Mädchen.
Die Schulen lagen zwar in einem Gebäudekomplex, waren aber getrennt. Ein Teil des Hauses war für Mädchen, einer für Jungen. Der Schulhof war von einer Mauer durchzogen und jeder Teil hatte eine eigene Tür. Gerrit lief eilig die Treppe hoch und ging in sein Klassenzimmer. Er grüßte seine Mitschüler und blickte nach hinten in den Raum, wo sein Platz war. Am Nebentisch saß seine bester Freund Robert Ritter. Sie begrüßten sich grinsend. "Du kommst aber spät. Ich dachte schon, zu spät. Und das ausgerechnet am letzten Tag." Robert sah ihn ernst an. Der Junge war kleiner als er und hatte blonde, fast schulterlange Haare. Seit der ersten Schulstunde hatte er Gerrit bewundert, für seine Klugheit, für seine hervorragenden Leistungen im Sport und Gerrit hatte diese Aufmerksamkeit genossen. Obwohl Robert sein bester Freund war, war es doch eine andere Freundschaft, als die zu Alex. Mit ihr konnte er über Dinge sprechen, die ihn berührten, vor ihr konnte er Schwächen zeigen. Vor Robert oder den anderen Jungs würde ihm das niemals in den Sinn kommen. "Hab etwas gebummelt. Beim alten Kerner haben sie die Schaufensterscheibe zerschmissen, schon gehört?" Robert lachte leise. "Klar. Was meinst du, wie das geklirrt hat." "Wie? Du warst dabei?" "Ja. Mit zwei Jungs aus dem Nachbarhaus." Erstaunt und mit einem Hauch von Bewunderung sah Gerrit ihn an. Das hätte er Robert gar nicht zugetraut. "Hast du keinen Ärger bekommen?" "Nein. Zwei Polizisten standen in der Nähe und haben nichts gemacht. Das heißt, sie haben schon etwas gemacht. Sie haben gelacht. Und als der Alte raus gerannt kam und sich beschwert hat, haben sie ihm gesagt, er soll die Schnauze halten." "Warum habt ihr mir nichts gesagt? Ich wäre mitgekommen. Etwas Abwechslung hätte ich mal gebrauchen können." Robert zögerte. Er sah sich um, aber niemand war in ihrer Nähe. Trotzdem senkte er die Stimme. "Naja, ich wusste nicht, wie du darauf reagierst. Ich meine, wegen Alex. Du bist doch mit ihr zusammen, oder?" "Erstens, wir sind nur gute Freunde. Ich kenne sie halt seit Jahren. Und zweitens, was hat Alex damit zu tun? Sie war zwar nicht begeistert, als wir vorbei gegangen sind, aber das ist mir doch egal." "Klar, dass sie nicht begeistert ist. Sie ist doch eine von denen." Verachtung lag in Roberts Stimme. "Darum wundert es mich ja, dass du so viel Zeit mit ihr verbringst." "Moment kurz. Wie meinst du das? Eine von wem?" "Sie ist eine Jüdin." Er betonte jedes Wort, vor allem das letzte. "Was? Du spinnst doch. Alex doch nicht." Gerrit spürte ein Ziehen in seinem Magen. "Das hätte sie mir doch erzählt", murmelte er leise. "Doch, bestimmt. Sie ist sogar beim BDM rausgeflogen, weil ihr Opa Jude ist." Robert sah ihn ernst an. "Meine Schwester hat es mir erzählt. Sie ist… war Alex beste Freundin." "Ihr Opa? Dann ist sie zu einem Viertel Jüdin. Aber sie wurde doch erzogen wie wir." "Sie ist Jüdin und bleibt eine. Gerrit, du bist in unserer Klasse der beste Sportler, in fast allen Fächern bist du der Vorzeigeschüler. Du solltest deine Freunde besser aussuchen, glaube mir. Halt dich von ihr fern, sie ist nichts für einen deutschen Jungen wie dich. Such dir ein anständiges Mädel. Du kannst doch jede haben." Gerrit hörte Robert nicht mehr zu. Er war geschockt. Alex eine Jüdin? Und er war verletzt. Warum hatte sie es ihm verschwiegen? Die Lehrer sagten immer, Juden seien verstockt und falsch. So stand es auch in jedem Lehrbuch. Das wäre natürlich eine Erklärung für ihr Schweigen. Er grübelte und wurde immer ärgerlicher. Mit Alex musste er ganz dringend ein Wörtchen reden.
Als Herbert Grüner, ihr Klassenlehrer, das Zimmer betrat, sprang er schneller auf als alle anderen Jungs, stand strammer und rief lauter den morgendlichen Gruß. Dann gab es auch schon ohne große Umschweife die Abschlusszeugnisse, seines kam zuletzt. Er wurde nach vorn zitiert, wo der Direktor der Schule, der inzwischen auch da war, es ihm persönlich aushändigte. "Gerrit, du bist der stolz dieser Schule. Der beste Abgänger seit Jahren. Aus dir wird etwas werden, das fühle ich. Die heutige Zeit bietet viele Möglichkeiten für einen fleißigen, jungen Mann. Sei immer strebsam und triff die richtigen Entscheidungen, dann wirst du ein ganz großer. Du wirst sicher ins HJ-Lager fahren und dort der Schule und dir alle Ehre machen, nicht wahr?" "Ja, Herr Direktor", antwortete er folgsam. "Gut so, mein Junge, gut so. Von dir wird man sich er noch hören." Er schüttelte ihm die Hand und Gerrit erwiderte den festen Griff. "Mach uns alle stolz." "Ja, Herr Direktor." Damit ging er zu seinem Platz. Sein Gesicht war etwas roter als vorher. Soviel Lob und Ehrung war ihm doch unangenehm, auch wenn es ihn im selben Moment ein wenig Stolz machte. Die anderen Jungen, von denen fast alle seine Freunde waren, klatschten laut und jubelten. Einige applaudierten aus Angst, dabei erwischt zu werden, dass sie Gerrit nicht bewunderten und zujubelten. Nur einer saß steif auf seinem Platz und tat nichts. "Also dann, Jungs oder sollte ich besser sagen, Männer, denn ab heute seid ihr das. Eure Zukunft erwartet euch. Habt keine Angst davor, geht hin und begrüßt sie. Arbeitet fleißig, seid folgsam und strebt nach Ruhm für euer Vaterland. Raus mit euch." Lärmend erhob sich die Klasse und verließ den Raum. Auf der Treppe, die zum Hof hinunter führte, trafen Robert und Gerrit auf den Jungen, der stumm an seinem Platz gesessen hatte. "Branco war nicht begeistert über deinen Erfolg." Robert grinste spöttisch. Eigentlich war ihm der Typ egal, aber zum Ärgern war er immer gut. "Er mag mich eh nicht." Gerrit zuckte mit den Schultern. "Das geht mir gepflegt am Arsch vorbei." Lachend lief er an seinem Nachbarn vorbei und stieß ihn mit dem Arm so hart an, dass der die Stufen hinab taumelte. Er knickte mit dem Fuß um und fiel hin. Unsanft stieß er mit dem Kopf gegen eine Stufe. "War da was?", fragte Gerrit unschuldig und wischte sich nicht existenten Staub vom Ärmel. "Quatsch. Was soll gewesen sein? Da war nur ein wenig roter Dreck auf der Treppe." Robert lachte und auch einige andere Jungs, die auf dem Hof standen, machten sich lustig. "Dreckskommunist", fuhr er Branco an, der auf der Treppe saß und die Hand gegen seine Schläfe gepresst hielt. Brancos Vater saß im Gefängnis, weil er für die Kommunisten bei einer inzwischen verbotenen Zeitung gearbeitet hatte. Er selber war aus der HJ geflogen und galt als Außenseiter. Er sagte nichts, wehrte sich nie, wenn ihn die anderen Jungen ärgerten und hielt sich sonst von ihnen fern, so gut es ging. Gerrit würde es sich nie gefallen lassen, wenn ihn jemand angriff. Er hatte immer zurückgeschlagen, schon weil er sich das bei seinem Vater nie getraut hatte. Bei der HJ hatte man ihm beigebracht, zurückzuschlagen bis der andere am Boden lag und um Gnade winselte, auch und vor allem dann, wenn sein Gegenüber stärker war. Sie gingen vor die Tür, wo Alex wartend am Zaun stand. Robert blickte Gerrit ernst an. "Denk an die Worte des Direktors", raunte er ihm zu. "Triff die richtigen Entscheidungen für dich. Was ist die Freundschaft zu der schon wert im Vergleich zu deiner Zukunft." Damit verschwand er. Er wollte noch nach Hause, etwas essen. Sie würden sich nachmittags am Bahnhof wieder sehen. Gerrit straffte sich, hob den Kopf, setzte einen arroganten Blick auf und ging zu Alex hinüber. "Na, bestanden?" "Ja, sicher doch. Was denkst du denn?" "Ach nichts." Er ging los und sie folgte ihm. "Gerrit, was ist los? Wieso fragst du, ob ich bestanden habe? Schließlich habe ich dir alles beigebracht, damit du die Prüfungen bestehst." "Schon verwunderlich." Er blickte auf sein Schuhspitzen. Alex sah ihn komplett verwirrt an. Was war nur in Gerrit gefahren? Doch das erklärte der mit dem nächsten Satz und Alex wünschte, er hätte es nicht getan. "Naja, die Schule ist schon hart und unsere Lehrer haben immer gesagt, dass Juden von Natur aus nicht so schlau sind." Schockiert blieb sie stehen und blickte ihn an. Ihr Gesicht war hochrot, als hätte er sie geschlagen. "Gut, ich bin Jüdin. Aber ich merke wenigstens noch, wenn jemand Schwachsinn redet." "Das ist kein Schwachsinn." Gerrit blieb ebenfalls stehen und zwang sich, sie anzusehen. "Ich habe mehr Grips als du und du weißt das verdammt gut. Also hör auf, so einen Unsinn zu reden." Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hast du Recht, in diesem Fall. Aber du bist seit einigen Jahren hinter der Zeit. Die neuen Stundenpläne gefallen dir nicht, die neuen Fächer genauso wenig." "Warum wohl?" "Ich mag unsere heutige Zeit, das ganze System. Ich werde hart arbeiten und für dieses Land alles tun, dann habe ich eine Zukunft. Ich will raus aus diesem alten Haus, wo ich jetzt wohne. Raus aus diesem einen Raum, den ich mir mit meinen Eltern teilen muss. Wir haben keine Haus, wie du und deine Familie. Ich gehe zur SS und ich werde stolz darauf sein, wenn sie mich tatsächlich nehmen. Und du wirst mir nicht im Weg stehen." "Das will ich doch gar nicht." Sie sah ihn wütend an. "Wieso versuchst du unbedingt einen Streit zu provozieren?" Gerrit ging auf ihre letzte Frage nicht ein. "Aber du tust es, du hinderst mich daran. Du hättest mir sagen müssen, dass dein Opa Jude ist. Was sollen meine Freunde von mir denken? Ich stehe da wie der letzte Idiot." "Deine Freunde? Ich dachte, wir wären Freunde?" Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er schluckte hart. "Das dachte ich auch. Aber du hast mich angelogen." "Warum sollte ich es dir sagen? Ich kannte meinen Opa nicht, er starb im ersten Weltkrieg, im Kampf für dieses Land. Genauso wie sein Sohn, mein Onkel. Warum sollte ich dir sagen, dass er Jude war? Damit du ihn in einer Tour beleidigst, so wie deine hirnlosen Freunde es tun? Oder willst du auch mich fertig machen? Los, mach es. Sag mir, dass ich eine Drecksjüdin bin." Ihre braunen Augen funkelten ihn an und er sah sowohl die Herausforderung als auch den Hass darin brennen. Noch nie hatte sie ihn so angesehen. Er ballte die Fäuste, aber er brachte es nicht über die Lippen. "Ich mag dich, Alex. Du warst meine beste Freundin, aber wenn ich weiterkommen will, darf ich nicht mit dir befreundet sein, verstehst du das nicht?" "Wenn du das wirklich denkst, dann bist du dümmer, als ich je geahnt habe." "Dann ist es vielleicht ganz gut, wenn wir nicht mehr befreundet sind. Nicht, dass meine Dummheit noch auf dich abfärbt. Wir sehen uns vielleicht eh nicht wieder. Keine Ahnung, was ich mache, wenn ich vom Jugendlager wiederkomme." Tränen glitzerten in ihren Augen, seine Worte taten ihr unheimlich weh. "Wir kennen uns seit zehn Jahren und du wirfst alles weg, nur weil einige Leute sagen, Juden sind nichts wert." "Sie sind nichts wert, das ist eine Tatsache." Im selben Moment klatschte ihre Hand gegen seine Wange. Er hielt sie hart fest, spürte dass er ihr weh tat. "Sei froh, dass ich keine Mädchen schlage. Verschwinde, Alex. Ich will dich nie wieder sehen." "Ich dich auch nicht, du Scheiß-Nazi", schrie sie ihn an, machte sich von ihm los und rannte dann davon. Gerrit war erleichtert, er hatte es hinter sich gebracht. Eigentlich sollte er sich gut fühlen, hatte er doch nur getan, was alle von ihm erwarteten. Aber er fühlte sich nicht gut, ganz im Gegenteil. In seinen Augen brannten Tränen und er sah immer wieder Alex enttäuschten Blick vor sich. Er straffte sich, schluckte hart und lief gedankenverloren durch die Straßen. Erst um vier Uhr musste er am Bahnhof sein, wo ein Zug die Jungen ins Lager außerhalb der Stadt bringen würde. Er dachte an seinen Vater, um sich selber bestätigen zu können, dass er das Richtige getan hatte. Der hatte ihn ständig geschlagen, bis er sich mit 14 zum ersten Mal gewehrt hatte. Er dachte an seine Mutter, die mit stumpfen Augen zur Arbeit in eine Fabrik ging und kaum noch laufen konnte vor Schmerzen. Und er dachte wieder an Alex, die er gerade in die Wüste geschickt hatte, weil sie ihn angelogen hatte. So viel hatte er ihr anvertraut und war dafür von ihr belogen worden. "Genau", nuschelte er. "Sie ist doch selber Schuld. Hätte mich eben nicht anlügen dürfen, dann wären wir Freunde geblieben. Nur deshalb habe ich die Freundschaft beendet." Er zögerte und ballte die Fäuste. "Dummes, jüdisches Mädchen", presste er hervor und sah sich im selben Moment um, ob es auch niemand gehört hatte. Mit weit ausladenden Schritten lief er weiter, seinen Zweifeln davon.
Das ist ja hart von Gerrit... Ich hätte nicht gedacht, dass er eine Freundschaft einfach so weg wirft... Es ist wirklich nicht fair von ihm. Hätte er nicht so gehandelt wie Alex, wenn er in ihrer Situation gewesen wäre? Ich hätte es wohl so wie Alex gemacht, aus Angst vor solchen Reaktionen, wie die von Gerrit...
Ich warte scho gespannt darauf zu erfahren, was nun aus Alex wird und ob Gerrit in die SS reinkommt...
Dein Vorwort macht echt neugierig!!! Die beiden Kapitel sind echt super spitze geschrieben!!! Du kannst echt gut solche Geschichten verfassen!!! Sie bewegen einen und reisen einen förmlich mit, man vergisst alles um einen herum, da man super gebannt diese Geschichte liest!!!! Wirklich klasse geschrieben, auch diese gegensetze und Probleme sind super gut Geschreiben!!! Bin super gespannt, wie es weiter geht!!!!
Ich danke euch für die Kommentare. Hier ist Kapitel 3:
Kapitel 3 - Unbekannter alter Bekannter
Alex war gerannt, schluchzend, völlig verzweifelt, bis sie nicht mehr konnte. Sie sackte in einem kleinen Park neben einer Bank zusammen und weinte hemmungslos. Passanten gingen hastig vorbei. In den heutigen Zeiten kümmerte man sich um seine eigenen Probleme, von denen jeder genug hatte. Gerrit war ihr bester Freund gewesen, er kannte sie besser als jeder andere Mensch. Aber seit dieser Adolf Hitler die Macht in Deutschland an sich gerissen hatte, seit die Nationalsozialisten dieses Land regierten und den Menschen dumme Dinge in den Kopf setzten, die jeder Grundlage entbehrten, hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt. Früher hatte Alex noch von einer Familie mit Gerrit geträumt. Seit sie wusste, was Liebe war, hatte sie sich nach ihm gesehnt, auch wenn er sie nie angerührt hatte. Das gehörte sich nicht, das wusste Alex, aber in ihren Träumen war sie ihm immer sehr nahe gewesen. Und jetzt? Sie hatten sich gegenseitig verletzt, mit Worten, die weder er wirklich empfand, noch sie. Oder glaubte er wirklich, was er sagte? Hielt er sie, die immer mit ihm gelernt hatte, für dumm? Sie, die ihr ganzes Wissen mit ihm geteilte hatte, um ihm eine Zukunft zu ermöglichen? Wie hatte er sie fallen lassen können, nur weil seine sogenannten Freunde es von ihm verlangten? Sie war sich sicher, dass Robert Gerrit ins Gewissen geredet hatte, sich von ihr fern zu halten. Sie hatte diesen Kerl nie leiden können, so wie auch er sie hasst. Früher, weil sie mit Gerrit enger befreundet war als er selber, danach weil sie reicher war als er und jetzt wegen ihrer Abstammung. Es war so unfassbar. Sie wollte zu Gerrit, ihn schütteln, anschreien, zur Vernunft bringen. Sie wollte ihn nicht verlieren, nicht so. Ihre Gedanken wurden von einer Hand unterbrochen, die sich sanft auf ihre Schulter legte. "Ist alles in Ordnung mit dir?" Eine sanfte Stimme sprach zu ihr. Alex hob den Blick und sah den Jungen neben sich stehen, der in Gerrits Klasse gegangen war. Auf seiner rechten Gesichthälfte klebte angetrocknetes Blut, wahrscheinlich war Gerrit daran nicht ganz unbeteiligt gewesen. Sie bemerkte, wie er sie erkannte, erschrocken zurück wich und sich hastig umsah. "Bleib ruhig, ich bin allein." Sie schluchzte wieder. "Ganz allein." Unsicher setzte er sich auf die Bank und zog sie vorsichtig neben sich. "Was ist passiert? Du bist doch Alexandra, oder? Die Freundin von Gerrit." "Nicht mehr." Hass schwang in ihrer Stimme. "Nicht mehr, seit er weiß, wer ich bin." "Wie, wer du bist?" Verständnislos sah er sie an. "Ich bin Jüdin. Zu einem Viertel. Und er hat es heute erfahren." Branco lachte bitter auf. "Verstehe. Und der Herr zukünftige SS-Führer darf sich natürlich mit einer Jüdin nicht sehen lassen." Sie nickte und sah ihn so unglücklich an, dass ihm seine harschen Worte leid taten. "Er kann nichts dafür", rang er sich ab, obwohl ihm nichts mehr zuwider war, als diesen Kerl auch noch zu verteidigen. "Du weißt, woher er kommt. Ich bin sein Nachbar, ich kenne die Gegend und die Leute, die dort wohnen. Irgendwie kann ich es verstehen, dass er tut, was er tut. Er will nur eine bessere Zukunft für sich. Und leider würden es ihm die Menschen übel nehmen, wenn er mit dir zusammen wäre. So sind die Zeiten." "Das ist doch Schwachsinn." Eine Träne kullerte über ihre Wange. "Natürlich ist es Schwachsinn. Ist es sinnvoller, mich als Kommunisten abzustempeln, bloß weil mein Vater einer ist? Ist es schlimm, Kommunist zu sein, wenn ich einer wäre? Früher war ich der beste Schüler, seit mein Vater inhaftiert wurde, gaben mir die Lehrer aus Prinzip keine Note mehr, die besser war als 3, egal wie gut die Arbeit war, die ich geleistet habe. Das hat doch mit Sinn nichts zu tun." Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Aber die Nationalsozialisten werden doch nicht ewig bleiben. Wenn sie weg sind, wird alles wieder gut und Gerrit und viele andere werden sich schämen." Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. "Das könnte dauern." Branco sah sich hastig um. "Sie verbieten immer mehr Parteien. Was soll man denn wählen, wenn es nur eine Partei gibt? Und wer soll die bremsen, wenn die Opposition fehlt? Der Staat wird gefährlich, sagt meine Mutter. Wir wollen Deutschland verlassen. Wir haben noch Familie in Serbien, in Osteuropa. Aber Mutter hat das Geld nicht, um zu fliehen. Ich muss Arbeit finden." "Kommst du da her, aus Serbien?" "Nein. Ich bin Deutscher, meine Familie stammt von dort, aber wir leben seit einigen Generationen hier. Ich bin Deutscher", wiederholte er. "Aber ich bin nicht mehr stolz darauf." Seine dunklen Augen blickten sie traurig an. Alex atmete tief durch und erwiderte den Blick eine Weile. "Willst du mit mir kommen? Meine Mutter kocht immer sehr reichlich." "Ich muss nach Hause. Tut mir leid, Alexandra." Nervös senkte er den Blick. "Alex." Er nickte schüchtern. "Alex. Ich muss meiner Mutter helfen, sie ist mit meinen drei Brüdern völlig überfordert. Die machen ihr ziemlich Ärger, seit Vater nicht mehr da ist." "Mein Vater ist in Nürnberg auf einer Dienstreise. Komm mit deinen Brüdern zu uns. Mama findet es furchtbar, allein in unserem großen Haus zu sein." "Sie hat nichts gegen… die Söhne eines Verbrechers?" Alex sah ihn empört an. "Ich habe die Artikel deines Vaters gelesen. Mein Vater hat die Zeitung früher immer zu Hause gehabt. Das ist kein Verbrechen, was er schreibt. Es ist die Wahrheit, auch wenn sie vielen nicht passt. Und Mama denkt genauso. Außerdem, sie ist mit einem halben Juden verheiratet. Wir stehen nicht besser da als ihr." Lächelnd nickte Branco. "Dann renne ich nach Hause und hole meine Brüder. Danke für die Einladung, Alex." "Immer wieder gern." Sie sah ihm nach. Was hatte sie bis jetzt gegen den Jungen gehabt? Gerrit hatte immer wieder über ihn gelacht und ihn dumm gemacht und sie hatte oft mitgelacht. Aber er schien es ihr nicht übel zu nehmen. Ohne nachzudenken hatte sie die Meinung ihres Freundes übernommen, so wie viele Menschen in Deutschland die Meinung der Nationalsozialisten übernahmen. Beschämt ging sie heim und erzählte ihrer Mutter, was vorgefallen war. Diese schimpfte über Gerrit und eilte dann in die Küche, um mehr Essen für die Kinder zuzubereiten, die hoffentlich gleich kommen würden.
Als es klopfte, öffnete Alex die Tür und sah sich einer Frau gegenüber, die sie unsicher anblickte. Branco lugte über ihre Schulter. "Frau Vukovic?" "Ja. Du musst Alexandra Rietz sein." "Ja, das stimmt. Branco und ich sind in einer Jahrgangsstufe." "Mein Sohn meinte, du hättest ihn und meine anderen Jungs zum Essen eingeladen?" Ungläubig schaute sie das Mädchen vor sich an. "Das ist richtig. Ich möchte mich einfach bei ihm entschuldigen, dass ich immer so gemein zu ihm war." Sofort verteidigte Branco sie. "Du warst nie gemein. Du hast mir nichts getan." Er sah sie verlegen an. "Aber ich habe auch nichts getan, um Gerrit daran zu hindern. Damit bin ich genauso schuldig wie er." Sie trat zur Seite. "Kommen Sie herein." Ihre Mutter kam aus der Küche und strahlte, als sie die Leute sah. "Hallo, willkommen in unserem Haus. Ich bin Anett, die Mutter von Alex." "Sandra Vukovic. Und das sind meine Söhne, Branco, Peter, Karl und Hans." Verwirrt sah Anett die Jungen an, zuletzt Branco. "Sein Name ist nicht gerade typisch Deutsch." "Nein, er stammt aus der alten Heimat meines Vaters." Sie nickte verstehend und sah die Kinder wieder an. "Hallo, Jungs. Dann kommt mal rein, das Essen ist fertig." Alex zeigte in Richtung Küche und sie folgten lachend und lärmend. Sandra hielt Anett kurz fest. "Ich danke Ihnen. Womit haben wir das verdient?" "Die Partei sagt doch immer, wir müssen zusammenhalten und teilen. Alex sagte, Sie haben nicht viel." "Nein. Wir sind sehr arm. Die Essensmarken bekommen wir oft viel zu spät und Arbeit will mir niemand geben." Sie sah traurig aus. "Der Staat bestraft mich für das freiheitliche Denken meines Mannes. Und jetzt werden wir auf der Straße landen. Mein Vermieter hat mir gekündigt. Er will keine Kommunisten im Haus haben. Morgen muss ich raus, mit meinen Kindern." Ihre Stimme zitterte. Anett lief rot an. "Dieser Idiot. Also… das ist doch… unmöglich." Sie sah die Frau an. "Sie bleiben hier. Morgen holen wir ihre paar Sachen. Das Haus ist groß, früher lebte noch eine Familie oben, aber die Leute sind weggezogen. Sie können mit ihren Jungs das ganze obere Stockwerk haben, müssen es nur selber sauber machen." "Aber ich… ich kann das nicht zahlen…" Die Frau trat erschrocken einen Schritt zurück. "Müssen Sie nicht, Sandra. Ich bin so froh, wenn ich nicht mehr allein in diesem leeren Haus bin. Mein Mann ist mehrere Monate im Jahr nicht zu Hause. Und wenn er da ist, wird er sich freuen." Sie lächelte. "Er hat sich immer mehr Kinder gewünscht und natürlich auch einen Sohn." Sandra Vukovic schluchzte auf. Branco trat unsicher auf den Flur. "Mutter, ist alles in Ordnung mit dir?" Er sah Anett fragend an. "Sie ist es nur nicht mehr gewohnt, dass jemand nett zu ihr ist, deshalb weint sie." Sie legte ihr einen Arm um die Schulter. "Ihr werdet morgen alle hierher ziehen." Sie sah Alex an, die Branco gefolgt war. "Ich werde mich um Brancos Mutter und seine Brüder kümmern." Das Mädchen strahlte sie breit an. "Ist das dein Ernst?" "Natürlich." "Oh, Mama." Sie schlang die Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Du bist die beste Mutter der Welt. Hoffentlich werde ich mal so wie du." Geschmeichelt lächelte sie und führte Sandra in die Küche, wo deren Jungs sich gierig über das Essen hergemacht hatten und zufrieden kauten. Alex sah Branco an und nickte ihm zu. Er erwiderte das Nicken. "Vielleicht gibt es in diesem Land doch eine Zukunft für meine Familie." "Es ist gut, dass deine Brüder und deine Mutter hier bleiben können. Aber wir zwei müssen unseren eigenen Weg gehen. Mama wird sich gern zusammen mit deiner Mutter um die Erziehung der Jungs kümmern, du kannst dich endlich auf dich konzentrieren." Er nickte seufzend. "Ich werde mir Arbeit suchen. Irgendwer muss mir doch was anbieten." "Bestimmt. Sobald derjenige merkt, dass du mehr kannst, als dein Zeugnis zeigt." Sie umarmte ihn aufmunternd. "Auch wir gehen unseren Weg." Sie dachte an Gerrit. "Ohne, dass wir uns deshalb verleugnen müssen." Einige Monate später begriff sie, dass das gar nicht so einfach war, wie sie es erhofft hatte.
"Ich kann nähen, kochen, lesen, schreiben, rechnen und denken." Frustriert lief Alexandra den Fußweg entlang. Plötzlich rutschte sie weg. Branco fing sie auf. "Pass auf, wo du hintrittst. Und was das denken angeht… Vielleicht ist das ja genau das Problem, weshalb du keine Arbeit findest." "In der Fabrik hätte ich anfangen können, wenn ich ganz, ganz lieb zum Direktor gewesen wäre. Eine Unverschämtheit." Vorsichtig tastete sie sich über die Wange, die blau anschwoll. Der Mann hatte ihr Nein nicht wirklich akzeptieren wollen und ihr seine Meinung dazu überdeutlich gezeigt. Branco war unglaublich wütend gewesen und schon auf dem Weg zu dem Mann, als Alex ihn doch noch überzeugen konnte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. "Es ist wirklich zum Verzweifeln", murmelte Branco leise. "Ich bekomme in dieser Stadt keine Ausbildung und niemand gibt mir Arbeit. Und von dir wollen die Chefs alles mögliche, aber nicht dein Wissen und Können." Sie blickte auf den Bürgersteig, immer noch seine Hand haltend, die ihren Sturz verhindert hatte. "Vielleicht sollte ich mich nicht so anstellen…" "Alexandra!" Empört sah er sie an. "Nenn mich nicht so. Wie oft denn noch? Außerdem, was ist schon dabei? Es ist doch nur Sex." "Alexandra… Alex bitte. Rede nicht so. Es gehört sich nicht und außerdem würdest du sehr unglücklich hinterher sein." Sie hob den Blick und sah ihn an. "Vielleicht." Seufzend schlang sie die Arme um seinen Arm und lehnte sich gegen ihn. "Weihnachten steht vor der Tür. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, Branco. Vater verdient zwar sehr gut, aber für ihn, Mama, mich, deine Mutter, dich und deine drei Brüder wird das auf die Dauer nicht reichen. Wir haben zwar einige Rücklagen, aber auch die reichen nicht ewig." "Ich weiß das, Alex. Ich weiß es." Er strich über ihre kalte Hand und sah hoch. Sie hatten die Haustür erreicht und er klopfte, damit Alexandras Mutter ihnen öffnen sollte. Aber die tat das nicht. Stattdessen öffnete ihnen ein Mann. Alexandra blickte auf, löste sich von Branco und fiel dem Mann um den Hals. "Papa. Wie schön, dich zu sehen." "Hallo, mein kleines Mädchen." Er drückte sie an sich. Dann sah er ihr ins Gesicht und entdeckte die frische Verletzung. "Woher ist das?" "Es ist nichts, Papa, nur ein Missverständnis." "Dem ich sehr gern die Fresse poliert hätte", fügte Branco hinzu. Der Mann sah ihn an. "Du musst Branco sein. Meine Frau schwärmt von dir in den höchsten Tönen." Aufgrund seiner Arbeit hatte er es noch nicht geschafft nach Hause zu kommen und den 'Familienzuwachs' persönlich kennen zu lernen. "Ja, Herr Rietz. Was das Schwärmen angeht, dafür kann ich nichts." Er zog die Mütze von seinem Kopf und reichte dem Mann die Hand. "Alex, geh bitte rein und hilf deiner Mutter. Ich möchte gern mal mit dem jungen Mann reden." "Ja, Papa." Eilig ging sie in die Küche, um ihre Mutter zu fragen, was ihr Vater von Branco wollte. Der führte ihn in sein kleines Büro im Erdgeschoss des Hauses und bot ihm einen Platz an. "Ich wollte dich erst einmal in unserem Haus willkommen heißen. Seit ihr hier wohnt, war ich nicht mehr hier. Eine Schande ist das. Aber wenigstens muss ich mich jetzt nicht ständig sorgen und habe auch nicht so ein schlechtes Gewissen." "Meine Familie steht tief in Ihrer Schuld, Herr Rietz. Sie und Ihre Frau haben uns hier mit offenen Armen empfangen, wohl wissend, dass nicht viel von uns zurück kommt." Branco seufzte. "Ich wünschte, ich könnte wenigstens etwas Geld beisteuern, aber niemand will mir eine Arbeit geben. Ich würde wirklich alles machen." "Gräm dich nicht, mein Junge." Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. "Ich kenne die Geschichte deiner Familie und ich habe inzwischen die Artikel deines Vaters sehr aufmerksam gelesen. Früher haben sich eher meine Frauen für diese Dinge interessiert, ich habe immer nur die Zeitungen gekauft." Er lachte leise. "Ich stimme zwar nicht in jedem Punkt mit ihm überein, aber im großen und ganzen hat er Recht mit dem, was er sagt. Es war sehr mutig von ihm, die Stimme zu erheben." "Das sagen viele. Ich, als sein Sohn, sehe das anders. Hätte er seinen normalen Beruf weiter gemacht, wäre er noch bei uns. Er hat uns im Stich gelassen." "Sei nicht so hart mit ihm. Er hat für seine Meinung, für seine Ansichten gekämpft. Er ist mutig, mutiger als viele andere, die lieber schweigen." Branco hob den Blick. In seinen Augen glitzerten Tränen. "Für mich war es die Hölle, dass er seine Stimme erhoben hat. Die Lehrer haben mich dafür verantwortlich gemacht, was er geschrieben hat. Meine Mitschüler haben einen Grund gehabt, mich zu verprügeln." Mit einem mitleidigen Blick ging Jürgen Rietz um den Tisch herum. Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. "Das weiß ich. Alex hat oft von dir gesprochen und darüber, wie schlecht Gerrit dich behandelt hat. Ich wusste immer, dass der Junge nicht gut für sie ist. Du scheinst etwas bodenständiger." Erschrocken blickte er den Mann an. "Moment, Herr Rietz, Moment bitte. Ich habe kein Interesse an Alex." "Nein. Natürlich nicht. Du hast deinen Wunsch, ihrem Peiniger die Leviten zu lesen, zurückgestellt, weil sie es so wollte. Warum?" "Weil ich ihr einfach keinen Wunsch abschlagen kann." Der Mann lachte. "Da geht es dir genauso wie mir. Morgen kommst du mit mir einkaufen. In einer Woche sind Weihnachten und ich weiß, was mein Tochter sich wünscht. Damit sammelst du Pluspunkte." Branco nickte langsam. "Außerdem musst du mir helfen, den Tannenbaum zu tragen." "Sehr gern, Herr Rietz."
"Mama, bitte." "Er will Branco wirklich nur etwas näher kennen lernen. Glaub mir doch. Als ich ihm vorhin strahlend und ohne Vorwürfe die Tür geöffnet habe, war seine ganze Zerknirschtheit bezüglich seines langen Wegbleibens wie weggeblasen." Alex setzte sich auf den Küchentisch. "Er freut sich, dass Leute im Haus sind und du nicht böse auf ihn bist. Aber was will er von Branco?" Anett lachte leise. "Er wird ihn nicht aus dem Haus jagen." Mit einem Blick über ihre Schulter fügte er hinzu. "Das würde er dir nicht antun." "Mir? Wieso mir?" Ihre Stimme klang unsicher. "Es gibt die große Liebe auf den ersten Blick. Und es gibt eine, die langsam wächst. Eine, die in schwierigen Situationen entsteht, geboren aus Respekt voreinander." "Mama. Hör auf. Branco und ich…" "Ihr seid nur Freunde, ich weiß. Aber weißt du das auch noch?" Sie sah ihre Tochter lächelnd an. "Du vertraust ihm, gehst mit ihm inzwischen durch dick und dünn. Wie sollte denn ein Mann sein, der deine Aufmerksamkeit erregt?" Sie wollte etwas antworten, schloss den Mund aber schnell wieder und schwieg, bis ihr Vater das Zimmer betrat und den Einkauf am nächsten Tag verkündete. Branco folgte ihm grinsend und zuckte leicht mit den Schultern, als er Alex fragenden Blick sah.
Die nächste Woche verlief in typischer Weihnachtshektik. Die Tage verbrachte Alexandra und ihre Mutter mit Backen. Sie machten Plätzchen, die von den Vukovic-Söhnen sofort vorgekostet wurden, bis nicht mehr viel übrig war. Außerdem wurden Kuchen und andere Sachen vorbereitet. Branco Mutter lag mit einer schweren Grippe im Bett. Täglich schaute der Arzt der Familie Rietz vorbei und Anett kümmerte sich rührend um die Kranke. Branco hatte für einige Tage etwas, was er bisher sehr vermisst hatte. Einen Vater, der ihn auch verteidigte. Der Mann war zwar nicht mehr so angesehen, da seine jüdische Herkunft inzwischen bekannt war, aber er war reich und damit traute man sich noch nicht ihm offen gegenüber zu treten. Zusammen mit dem Mann ging er für die Familie einkaufen, wehrt sich, als der ihn neu einkleiden wollte, allerdings recht erfolglos. Sie besorgten einen wunderschönen Weihnachtsbaum, den Alexandra und er so kunstvoll schmückten, dass es sogar Brancos Brüdern den Atem verschlug. "Was holen wir deiner Mutter?", grübelte Jürgen Rietz, als sie am 23. Dezember auf dem Weg durch die Stadt waren. Branco überlegte lange, bis sie schließlich vor einem Geschäft standen, welches Artikel für Hausfrauen verkaufte. Dort stand im Fenster eine wunderschöne alte Nähmaschine. "Mutter kann sehr gut und kunstvoll nähen. Sie hatte mal so eine alte Nähmaschine, aber leider ging sie kaputt. Wir mussten sie wegwerfen." "Dann kaufen wir die. Meinst du, deine Mutter kann darauf ein paar Dinge herstellen, die wir verkaufen können?" "Bestimmt. Das wird sie freuen, wenn sie sich für die Gastfreundschaft Ihrer Familie revanchieren kann." Branco sah das Preisschild und wurde blass. "Dafür muss sie einige Jahre nähen. Viel nähen." Lachend zog Jürgen Rietz Branco mit sich in den Laden. Der Besitzer versprach, die Nähmaschine am nächsten Morgen zu liefern. Gegen einen Aufpreis natürlich. Sie schlenderten zu einem Juwelier und holten dort Alexandras Geschenk ab. Es war ein goldenes Medaillon auf welchem der Große Wagen zu sehen war, gebildet aus kleinen Edelsteinen. Alexandra hatte es vor vielen Monaten entdeckt und sich sofort in dieses Schmuckstück verliebt. Jetzt hielt Branco die Schachtel mit dem Medaillon in den Händen und konnte den nächsten Tag kaum noch erwarten.
Schlemmen, Lachen, Weihnachtslieder. Branco konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen so schönen Tag erlebt zu haben. Seiner Mutter ging es wieder besser und sie saß mit Anett und Jürgen vor dem Kamin im Wohnzimmer. Die Jungs spielten mit ihren Geschenken und machten dabei einen Lärm, als wären mindesten 15 Kinder im Zimmer. Alexandra ging irgendwann nach draußen. Sie stand in ihrem hübschen dunkelblauen Kleid vor der Tür und blickte hinauf in den sternenklaren Himmel. Sie sah die Sterne funkeln, erkannte einzelne Sternbilder. Ihr Blick blieb am Großen Wagen hängen. Tief in sich spürte sie einen schmerzhaften Stich, den sie nicht einordnen konnte. Sie fühlte sich einsam und lächelte leicht bei dem Gedanken, das zu ändern. Nach einer Weile fing sie an zu zittern. So lange, bis sich eine dicke Jacke über ihre Schultern legte. Sie lächelte leicht, ohne den Blick umzuwenden, denn dass Branco ihr die Wärme spendete, war ihr auch so klar. Sie fühlte die Arme, die sich von hinten um sie legten, merkte etwas Kaltes, was sich an die Haut ihres Halses schmiegte. Überrascht schaute sie an sich hinab und erblickte das Medaillon. Ungläubig strich sie mit den Fingern darüber. Minuten später drehte sie sich langsam um, ihr Blick war auf sein Kinn gerichtet und glitt langsam nach oben. Seine Lippen waren leicht geöffnet, der Atem kondensierte in der eiskalten Luft. Immer höher glitt ihr Blick, bis ihre Augen die seinen trafen. "Danke für die Kette", hauchte sie leise. Branco wollte etwas erwidern, aber er konnte nicht sprechen. Zum ersten Mal in seinem Leben machte er von sich aus einen Schritt nach vorn und küsste die Frau vor sich. Innerlich erwartete er eine schallende Ohrfeige und Alex empörten Blick. Umso überraschter war er, als sie sich in seine Umarmung fallen ließ und den Kuss erwiderte. In die Überraschung und das sich in ihm ausbreitende Glücksgefühl und das Kribbeln in seinem Bauch mischte sich ein böser Gedanke, ein gehässiger Gedanke, der eigentlich gar nicht zu seinem ruhigen, höflichen Wesen passte. 'Du hast mich immer geschlagen und als Dreck beschimpft, Gerrit, aber jetzt habe ich die Frau, die du geliebt hast. Die du wahrscheinlich immer noch liebst, wenn du dieses Gefühl für einen Moment zulassen würdest. Alex hat dich endlich vergessen.'
Ein sehr bewegender Teil!!! Die Familie Ritz ist echt super freundlich! Echt klasse, das Branco und Alex sich gegenseitig helfen und das daraus mehr geworden ist.... Man kann Branco schon verstehen, dennoch gibt das eine Seite an ihm Frei, welche nicht sehr honett ist... Aber es ist verständlich!!! Ich bin super gespannt, wie es weiter geht!!!
Am Bahnhof wartete ein Soldat auf die Jungen. Mit lauten Befehlen trieb er sie zusammen und in den Zug. Sie fuhren eine knappe Stunde, dann hieß es aussteigen. Bis zum Lager war es ein Fußmarsch von einer knappen halben Stunde, dann waren sie am Ziel. Alle Jungs kannten sich hier aus, hatten sie doch jede Ferien hier verbracht. Es gab einen Badesee, Holzhütten und Sechs-Mann-Zelte. Die Hütten waren für die Betreuer und Offiziere, die Zelte für die Jugendlichen. Und es gab ein paar Hütten für Jugendliche, die längere Zeit im Lager blieben. Ein langer Tisch stand vor einem Steinhaus, in welchem sich das Büro und die Küche, sowie Duschen und eine Krankenstation befanden. Auf dem Tisch standen leckere Speisen und ließen den Jungs das Wasser im Mund zusammen laufen. Ein rothaariger, schlaksiger Mann rief sie auf den Appellplatz. "Antreten." Alle stellten sich auf dem Platz auf und sahen ihn erwartungsvoll an. "Ihr seid für das nächste Jahr hier, aber die Zelte werden erst morgen frei. Im Herbst, wenn es zu kalt wird, zieht ihr in die Hütten. Heute Nacht schlaft ihr verteilt in den Zelten, je nachdem wo Betten frei sind, morgen könnt ihr euch dann selber auf einige der freien Zelte verteilen. Im Laufe des Abends werden noch zwei Gruppen aus Augsburg und Nürnberg ankommen, kapselt euch nicht ab, sondern lernt die Jungs kennen. Sie sind für dieses Jahr eure Kameraden, eure Familie." Ein Mann trat aus dem Steinhaus heraus. Er war groß, fast so groß wie Gerrit. Sein Oberkörper war breit, die Arme muskulös. Er hatte eine Glatze, sein Gesicht wirkte mürrisch, die Stirn war leicht gerunzelt. Als er näher kam, sahen die Jungen seine ernsten blauen Augen. Was am meisten auffiel, war seine Uniform. Sie war schwarz. Er trug ein Holster mit einem Revolver und ein Schlagstock hing in seinem Gürtel. Der Mann war definitiv von der SS und damit dort, wo viele der Jungs noch hinwollten. "Mein Name ist Theo Argus", stellte sich der rothaarige Mann jetzt vor. "Ich bin euer Gruppenführer. Und dies hier ist Oberst Michael Naseband. Wie ihr seht, ist er Mitglied der SS. Das heißt für euch, wenn er was sagt, springt ihr. Die, die sich in diesem und im kommenden Jahr bewähren, werden auch so eine Uniform tragen dürfen, wenn sie das Lager verlassen. Und sie werden eine gute Stelle oder Ausbildungsstelle haben. Oberst Naseband selber sucht einen oder zwei sehr fähige Wachmänner für das Arbeitslager, welches er leitet. Diese Arbeit sollte für jeden von euch das sein, was ihr euch für eure Zukunft wünscht, denn damit könntet ihr leben oder von dort aus, wenn ihr wollt, auch noch auf der Karriereleiter nach oben steigen." Der Oberst nickte. "Das ist richtig." Seine Stimme war tief und dunkel. "Aber darum geht es jetzt erst einmal nicht. In den kommenden Monaten, werden wir die Schwachen, die Lustlosen und die nicht Überzeugten aussieben. Wir trennen die Spreu vom Weizen und suchen dann die besten Körner heraus. Ich erwarte von euch allen Disziplin, Gehorsam, Ordnung. Die Worte kennt ihr, die Bedeutung werden wir euch hier eintrichtern. Wem was nicht passt, der mag gehen, dort drüben ist das Tor." Er wies auf das Haupttor. "Morgen fangen wir an. Ihr werdet eine Wanderung machen. Und jetzt geht essen." Die Jungs stürmten davon, was der Oberst missbilligend zur Kenntnis nahm. Nur einer blieb stehen, salutierte etwas ungekonnt und sagte laut: "Ja, Oberst." Michael Naseband sah ihm nach. Die Andeutung eines Lächelns erschien für den Bruchteil einer Sekunde auf seinem Gesicht. "Wenn er morgen Abend wieder der letzte ist, der hier steht, möchte ich seinen Namen wissen." "Jawohl, Oberst."
Am nächsten Morgen traten alle wieder zum Appell an. Die meisten waren noch müde, standen lässig in zwei krummen Reihen. Die Gruppen aus Augsburg und Nürnberg waren inzwischen auch angekommen. Gerrit stand in der ersten Reihe, den Blick geradeaus, die Haltung ordentlich. Vor den Füßen aller Jungs lagen grüne Rucksäcke. "Guten Morgen." Einige antworteten. Die meisten sahen sich die Rucksäcke an. "Ich sagte, guten Morgen." "Guten Morgen, Gruppenführer", erscholl es jetzt. "Das müssen wir noch üben. Wie euch gestern schon gesagt wurde, machen wir heute eine Wanderung. Essen bekommt ihr erst, wenn wir wieder im Lager sind. Trinken nehmt ihr eine Feldflasche mit. Der Weg heute führt über 20 Kilometer Straßen und Wege", einige stöhnten auf, "und 20 Kilometer querfeldein." Als die meisten der jungen Männer anfingen, sich zu beschweren, rief der Oberst, der inzwischen auch auf dem Platz war: "Ruhe, verdammt noch mal. Wer es nicht schafft, kann gleich zum Bahnhof weiter kriechen, wenn er sich erholt hat." Er sah die etwas eingeschüchterten Jugendlichen an. Nur ein Augenpaar blickte furchtlos, ein eisblaues. "In den Rucksäcken ist euer Marschgepäck. Dreißig Kilo aufgeteilt in drei Bleigewichte. Alles verstanden? Gut." Die Jungen sahen sich unsicher an. Nur der Blonde mit den eisblauen Augen nahm den Rucksack und schulterte ihn schnell, aber sehr umsichtig. Er achtete darauf, dass das Hemd unter den Trägern nicht geknittert war und auch, dass die Träger nicht irgendwie gerollt oder verdreht waren. Als alles ordentlich saß, stand er wieder stramm, der Blick geradeaus. "Mmm… Anscheinend sind bis auf einen Menschen hier alle anderen der deutschen Sprache nicht mächtig. Gut, dann erkläre ich euch mal etwas. Das Wort Marschgepäck sagt aus, dass ihr es gefälligst schultert und euch in Marsch setzt." Alle nahmen ihre Rucksäcke hoch, einige keuchten und stöhnten jetzt schon. Dann folgten sie dem Oberst und dem Gruppenführer in einigem Abstand. Immer zwei Jungs liefen nebeneinander her. Robert wollte sich hinten einreihen, doch Gerrit zog ihn weit nach vorn. Vor ihm liefen noch vier andere Jungen. Sie erreichten das Eingangtor zum Lager, dann ging es los.
Es war noch sehr früh am Morgen, die Vögel begrüßten den Tag mit lautem Tschilpen und auf den Wiesen lag leichter Bodennebel. Die Luft war klar und roch würzig nach Gras und wilden Kräutern, der Wind war frisch und wehte den Wanderern ins Gesicht. Doch für die Schönheiten hatte keiner einen Blick. Die Feldwege und die Straßen entlang ging es bei den meisten noch recht gut, auch wenn hier schon einige sehr erschöpft aussahen. Viele beklagten sich über Blasen an den Füßen. Als es ins Gelände ging, über Wiesen und in einen Wald, Hänge hoch und wieder runter, waren diese schnell vergessen. Alle mussten aufpassen, wohin sie traten. Nur Gerrit sah sich den Weg genau an, betrachtete die Umgebung, so als befände er sich auf einem Spaziergang. Er sah sogar einen Hirsch und wies seinen besten Freund auf das Tier hin. Robert keuchte leise. "Das Viech ist mir sowas von egal." Er wollte das Gewicht seines Rucksacks verlagern, doch Gerrit hielt ihn zurück. "Mach das nicht", sagte er leise. "Wenn du am Rucksack rumzottelst, kommt er dir danach noch schwerer vor. Beiß die Zähne zusammen, die Hälfte des Weges haben wir ungefähr geschafft. Und atme gleichmäßiger." Der verdrehte die Augen, aber er befolgte Gerrits Ratschläge. Mit dieser Methode, Probleme zu lösen, war er noch nie schlecht gefahren. Gerrit sah sich weiter die Umgebung an und merkte nach einer Weile, dass der Oberst neben ihm her lief. "Oberst?", fragte er vorsichtig. "Ist etwas?" "Nein, mich wundert nur dein Elan. Du kommst nicht oft raus aus der Stadt oder?" "Nein, Oberst. Nur, wenn ich im Lager bin. Aber da haben wir nie so eine Wanderung gemacht." "Es macht dir nichts aus?" "Nein, Oberst. Es ist faszinierend, das alles zu sehen, zu riechen. Da merkt man doch, wie schön unser Land eigentlich ist." Der Mann nickte lächelnd und ging wieder nach vorn.
Die Zeit verging. Es war schon nach Mittag, aber die beiden Leiter der Gruppe dachten nicht einmal daran, eine Pause zu machen. In einem flotten, aber nicht zu schnellen Tempo ging es gleichmäßig voran. Einige der Jungen hatten den Fehler gemacht, zu schnell zu viel zu trinken, bekamen Seitenstechen oder mussten pinkeln. Dann mussten sie dem Zug hinterher rennen und waren noch mehr aus der Puste als vorher. Der Junge, der direkt vor Gerrit lief, blieb an einer Wurzel hängen und fiel hart hin. Die Gewichte drückten ihn auf den Boden und der Zug geriet ins Stocken. Gerrit trat neben ihn und zerrt ihn auf die Beine. "Los, hoch", zischte er ihm zu. "Ich kann nicht mehr." Sein Gesicht war hochrot, Schweiß lief ihm den Hals hinab. Seine Beine zitterten und er hielt den Fuß leicht hoch. "Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht." "Unsinn, beiß die Zähne zusammen und lauf weiter. Los, sonst bist du raus aus dem Lager." Der Gruppenführer und der Oberst traten zu den beiden. Gerrit straffte sich sofort, stützte den Jungen aber immer noch "Was geht hier vor?", fragte der Gruppenführer. "Ich bin gefallen", murmelte der beschämt. "Und du?", fragte er Gerrit. "Ich habe ihm hoch geholfen. Er meint, er hätte sich den Fuß verstaucht. Ich kann ihn stützen bis zum Lager." "Es sind noch über 10 Kilometer und der Weg wird noch härter." Der Oberst sah ihn ernst an. "Das macht nichts, Oberst." Gerrit erwiderte den Blick genauso ernst und fest. "Der Typ ist schwach. Er ist jetzt schon fertig. Wieso willst du dich mit ihm belasten? Lass ihn doch einfach liegen und genieß weiterhin die schöne Natur. Da hast du mehr davon und lernst noch was fürs Leben." "Wir müssen unsere Kameraden unterstützen. Nur wenn wir zusammenhalten, sind wir stark, Oberst." Dessen Augen blitzten. "So, meinst du?" "Ja, Oberst, so hat man es uns gelehrt." "Nicht alles, was ihr in der Schule gelernt habt, ist richtig, das wirst du noch merken." Sein Blick war fast drohend. "Aber du kannst deinem Kameraden helfen, wenn du willst. Er wird sicher allein laufen können, wenn er seinen Rucksack nicht mehr tragen muss." Gerrit schluckte. Dann nahm er dem Jungen dessen Rucksack ab und dann seinen. Er stopfte den einen in den anderen und stemmte unter einem stillen Aufstöhnen die Last von 60 Kilogramm, was seinem eigenen Körpergewicht entsprach, hoch. "Geht es?", fragte der Oberst lauernd. Er sah den Schweiß, der Gerrit augenblicklich ausbrach. "Ja, Oberst. Kein Problem." Der sah den Jungen an, der gestürzt war. "Kannst du jetzt besser laufen?" "Ja, Oberst", murmelte der zitternd. "Dann los, weiter." Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Gerrit musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht bei jedem Schritt zu keuchen. Das Gewicht zog ihn so nach hinten, dass er weit nach vorn gebeugt laufen musste. Seine Knie zitterten. "Aufrecht gehen", wies ihn der Oberst streng an. "Gerade halten, sonst siehst du die Umgebung nicht mehr." Gerrit richtete sich auf, verlagerte das Gewicht ein wenig. Jetzt taten ihm zwar die Schultern, wo die schmalen Gurte in seine Haut schnitten, weh, aber das Gewicht ließ sich viel besser tragen. Wortlos und ohne ein Schwanken lief er weiter und konnte tatsächlich für einige Zeit auch wieder etwas die Umgebung genießen. Bis die Schmerzen übermächtig wurden und er anfing, das Ende des Marsches herbeizusehnen.
Als sie bei Sonnenuntergang im Lager ankamen, stürzten sich die Jungen wie ausgehungerte Tiere auf den langen Tisch. Gierig tranken sie das Wasser, was dort stand. Einigen wurde davon so schlecht, dass sie sich übergaben. Gerrit stand auf dem Appellplatz, den Rucksack immer noch auf den Schultern, die Augen zur Fahne empor gerichtet. Sein Gesicht war hochrot und schweißnass, die Lippen vor Anstrengung fest zusammen gepresst. "Ruhe", brüllte der Oberst. Er trat auf Gerrit zu. "Wie heißt du?" "Gerrit Grass, Oberst", presste der zwischen seinen hart zusammen gebissenen Zähnen hervor. "Siehst du, Gerrit, was deine Hilfe dir gebracht hat? Du musstest schwerere Arbeit leisten als alle anderen. Und keiner hilft dir, deine Last von den Schultern zu nehmen, nicht einmal jetzt. Nur du stehst hier, wie es sich gehört, dafür haben dir die anderen Jungs einen Großteil des Essens weggessen. Es bringt dir nichts, den Schwachen zu helfen, siehst du das nicht?" "Ich würde es trotzdem jederzeit wieder tun, Oberst. Es gehört sich einfach so." "Ja, das würdest du." Der Mann nickte. "Nimm den Rucksack ab, Gerrit." Als er ihn langsam von den Schultern gleiten ließ, konnte er ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Sein Hemd war an den Schultern rot von seinem Blut, so tief hatten sich die Trageriemen in seine Haut geschnitten. "Zieh dein Hemd aus. Es ist völlig versaut. Ich hole dir eines, was zu dir passt." Er tat es, tiefe, blutende Wunden waren zu sehen. "Seht her, Jungs, das hat man davon, wenn man anderen hilft, die es nicht wert sind." Mit gesenktem Kopf stand Gerrit da, während der Oberst sich umdrehte und kurz weg ging. Er kam mit zwei weißen, dicken Binden zurück, legte sie zusammen und drückte sie vorsichtig auf die Wunden. Mit Pflastern klebte er sie fest. Dann reichte er Gerrit ein neues Hemd. Ein schwarzes. Erstaunt nahm der es entgegen. Der Oberst hob den Blick. "Dieses Hemd müsst ihr euch im Laufe des nächsten Jahres verdienen. Noch nie hat es jemand am ersten Tag bekommen." Sein Blick wurde sanfter. "Zieh es an, mein Junge. Du hast es dir verdient. Du hast alles richtig gemacht, alles umgesetzt, was man dir beigebracht hat. Sogar das umgesetzt, was du hier erst noch lernen solltest. Deine Entscheidung zu helfen war richtig. Natürlich müsst ihr zusammenhalten. Dieses Land braucht keine Einzelkämpfer. Du", er deutete auf den Jungen, dem Gerrit geholfen hatte. "Geh zum Bahnhof. Du bist eine Schande für dein Vaterland. Statt eines Dankeswortes frisst du deinem Kameraden auch noch das Essen weg. Verschwinde." Der Junge stolperte weinend davon. Gerrit hatte inzwischen sein Hemd angezogen. Das Schwarz machte ihn noch größer und stattlicher. "Danke, Oberst", sagte er leise. Sein Hals war vor Stolz wie zugeschnürt. Mit aller Mühe unterdrückte er die Tränen. "Bedank dich nicht. Die Verantwortung, die du damit trägst, ist schwer. Aber heute hast du bewiesen, dass du es kannst. Im Gegensatz zu deinen Kameraden. Sie alle werden morgen dieselbe Wanderung noch einmal machen. Du hast frei, ruh dich aus. Und jetzt, geh Essen. Schau, ob dir die anderen wenigstens ein bisschen übergelassen haben." Gerrit atmete tief durch. "Oberst?" Der hatte sich abgewandt, blieb aber stehen. "Ja?" "Bitte… lassen Sie mich mitgehen. Ich habe heute gemerkt, dass ich nicht so viel Ausdauer und Kraft habe, wie ich dachte. Es ist ein gutes Training und außerdem gehöre ich zu den anderen. Wenn es hier im Lager keine Aufgabe für mich gibt, was soll ich dann hier?" Verblüfft blickte der Mann den Jungen an, der kaum noch stehen konnte. "Mit deinen Schultern willst du 30 Kilo tragen? Oder hoffst du auf einen leichteren Rucksack?" "Es ist nur die Hälfte von dem, was ich heute getragen habe. Es wird gehen. Und sicher erwarte ich keine Sonderbehandlung. Bitte, Oberst." "Wenn du willst. Ich werde dich nicht hier lassen, wenn es für dich eine Strafe ist. Denn die hast du wahrlich nicht verdient." Der Mann grübelte. "Meinst du, du findest den Weg, den wir heute gegangen sind, allein?" "Ja, Oberst. Natürlich. Ich habe einen sehr guten Orientierungssinn." "Gut, dann führst du die Gruppe morgen. Euer Gruppenführer und ich werden als stille Begleiter mitkommen." Er hob die Stimme an, so dass jeder ihn hören konnte. "Es gibt kleine Medaillen zu sammeln, während ihr hier seid. Je mehr ihr habt, desto stolzer dürft ihr auf euch sein und desto mehr Vergünstigungen könnt ihr bekommen." Sein Blick blieb wieder an Gerrit hängen. "Schaffst du die Leitung der Gruppe morgen zu unserer Zufriedenheit, bekommst du die nächste." "Ja, Oberst, wie Sie wünschen." Verwirrt sah Gerrit den Mann vor sich an. Dass der ihm so etwas zutraute. Sein Vater hatte ihn immer als Versager abgestempelt und irgendwie hatte Gerrit Angst gehabt, dass dieser streng dreinblickende Mann genauso dachte. "Ähm… die nächste?" Er sah an seinem Hemd hinab, wo eine kleine blaue Medaille schimmerte. Es war nur ein Streifen. "Die ist für deine Entscheidung zu helfen, ohne Rücksicht auf dich selber." "Vielen Dank." Gerrit salutierte vorsichtig und war unsagbar stolz als der Mann vor ihm den militärischen Gruß erwiderte. Der Gruppenführer trat auf den Mann zu, während Gerrit zum Tisch ging. "Er soll die Gruppe führen? Er kann kaum noch laufen." "Ich könnte den Jungen jetzt sofort auf die Wanderung schicken und er würde nur fragen, wie schnell er sein soll. So einen Willen habe ich noch nie gesehen. Die geistige Kraft dieses jungen Mannes ist unglaublich. Den sollten wir uns vormerken, aus dem wird noch was." "Ja, Oberst Naseband. Wenn Sie meinen." "Das meine ich nicht nur, ich werde dafür sorgen." Er lächelte und strich sich über seine Glatze. "Lassen Sie uns Essen gehen, sonst bekommen wir nichts mehr ab."
Gerrit hatte sich zu den anderen gesetzt, die ihn beglückwünschten. In ihm kochte die Wut. Diese Feiglinge hatten ihm nicht geholfen, weil sie nicht wussten, ob er richtig gehandelt hatte. Keiner wollte sich Ärger einhandeln. Wenn sie das Zusammenhalt nannten, konnte er darauf verzichten. Wütend funkelte er Robert an, der sich an einem Bratwürstchen zu schaffen machte. Wenigstens von ihm, seinem angeblich besten Freund, hätte er Hilfe erwartet. Der schluckte, senkte den Blick und aß schneller. "Respekt, Gerrit", sagte ein blasser Junge neben ihm. "Ich bin Benjamin, ich komme aus Nürnberg. Ich hätte es mir nicht getraut zu helfen. Du hast wirklich Mut." Er sah ihn an. Dessen Blick war offen, seine Worte ehrlich. "Das ist kein Mut. Ich habe nur das gemacht, was man uns immer gepredigt hat. Den Schwächeren helfen, denn nur als Gruppe sind wir stark." "Den Schwächeren helfen? Dann hast du hier viel zu tun." Geschmeichelt lächelte Gerrit. "Mach dich nicht kleiner als du bist. Das passt nicht zu dir." Benjamin zuckte mit den Schultern. Dann schnitt er seine Wurst klein und schob sie Gerrit zu. "Hier. Ich weiß, du kannst das auch allein, aber es ist eine kleine Entschuldigung für meine Feigheit. Schone deine Schultern. Wenn du was brauchst, sag es einfach." "Angenommen", sagte Gerrit leise und machte sich hungrig über das Essen her. Er sah Roberts finsteren Blick, der Benjamin galt. "In welchem Zelt schläfst du?" Er hatte mitbekommen, dass sich die meisten Jungs darüber schon während der Wanderung geeinigt hatten. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf den Beinen zu bleiben, um sich darum zu kümmern. "Keine Ahnung. Wenn es sein muss, schlafe ich auf der Wiese, das ist mir egal." "Blödsinn. Wenn du dich hier draußen erkältest, müssen wir dich morgen noch als Zusatzgewicht schleppen." Er grinste, als er das leise Lachen des Oberst hörte. "Wir haben noch zwei Betten frei. Gerd, Paul, Benno und ich. Du und Robert, ihr könnt bei uns schlafen." Er deutete auf die anderen Jungs, die eifrig nickten. "Danke, machen wir gern." Er sah Robert nicht einmal an. Der würde ihm natürlich folgen, was sonst. "Siehst du", flüsterte Oberst Naseband dem Gruppenführer zu. "Er färbt ab." Der Mann nickte lächelnd.
Gerrit hatte die Nacht nicht gut geschlafen. Die Jungs waren wie die Jungs in der Schule. Sie himmelten ihn an, sahen zu ihm auf, ohne ihn zu kennen. Er war 24 Stunden hier und schon das Vorbild für viele andere. Robert war zufrieden, als er merkte, dass die Jungs auch zu ihm aufsahen, weil er ja Gerrits bester Freund war. Doch während er diese Anerkennung genoss und ausnutzte, versuchte Gerrit mal wieder, den anderen zu helfen, Wissen und Ideen weiterzugeben. Und dann auch noch seine Führungsrolle am nächsten Tag. Als er nach draußen trat, war er der erste. Er zitterte vor Nervosität, lief aufgeregt hin und her. Bis sich eine starke Hand auf seine Schulter legte und ihn festhielt. Er zuckte unter dem Griff etwas zusammen. "Ein Führer, Leiter oder eine Respektsperson sollte nicht so hin und her rennen. So ein Mensch muss Selbstsicherheit und Ruhe ausstrahlen. Und so jemand muss Entscheidungen treffen. Ich glaube, du kannst das, also enttäusch mich nicht." "Ja, Oberst", murmelte Gerrit heiser. Er drehte sich um und sah den Mann an. Der legte den Kopf leicht schief. "Wieso bist du so unsicher? Deine Noten sprechen für Intelligenz, für Können, für Durchhaltevermögen. Was fürchtest du?" "Dass ich nicht schaffe, was man von mir fordert." "Du meinst, was ich von dir fordere?" "Ja, Oberst." "Wärst du gestern unter deiner Last zusammengebrochen, hätte ich dich nicht rausgeschmissen, weil ich das erwartet habe. Dass du diese Last tragen kannst, dich bis hierher zurück kämpfst, hätte ich nicht für möglich gehalten, aber du hast es geschafft. Du müsstest vor Selbstvertrauen platzen. Wieso tust du es nicht?" "Mein Vater hat mir von klein auf beigebracht, dass ich nichts tauge." In seinen Augen brannten Tränen und er senkte den Blick. "Dann ist dein Vater sehr dumm oder blind. Auf solche Menschen darfst du nicht hören, sie stehen dir im Weg. Und wenn du wegen solchen Menschen nur eine Träne vergießt, bist du nicht klüger." Michael Naseband sah, wie der Junge vor ihm den Kopf hob und ihn fest ansah. "So ist es besser. Wer war dein Vater? Wer war er in deinen Augen?" "Die Schule sagt, er war ein Held, weil er im Krieg gekämpft hat. Aber für mich war er eine Verlierer. Er hat nur gesoffen. Meine Mutter hat geschuftet, damit wir wenigstens etwas zu Essen hatten." "Auch ich war im Krieg. Und ich saufe nicht. Er war kein Held, sondern das, was du in ihm siehst. Ein Verlierer. Nimm dir ein Beispiel an deiner Mutter. Sie war stark, hat gekämpft." "Ja, Oberst. Sie war immer stark, aber leider am Ende gebrochen." "Das wird dir nicht passieren. Halte immer den Kopf oben, mein Junge. Du schaffst die Aufgabe heute, das fühle ich und ich habe mich noch nie in einem Menschen getäuscht." "Danke für Ihr Vertrauen, Oberst." "Ich kann dir sehr helfen auf deinem weiteren Weg. Aber du solltest mich niemals enttäuschen. Fehler macht jeder mal, dazu muss man stehen, daraus kann und muss man lernen, aber Feigheit und Verrat dulde ich nicht. Wir verstehen uns?" "Ja, Oberst." Er zögerte. "Ist noch was? Fragen stellen ist keine Schande." Gerrit war erstaunt. Der Mann schien ihn komplett zu durchschauen, jedes Gefühl zu kennen, was durch ihn floss. "Oberst, warum wollen Sie mir… gerade mir helfen?" "Weil ich ehrgeizige, intelligente Menschen mag. Du imponierst mir, warum genau kann ich noch nicht sagen, aber ich erwarte viel von dir in Zukunft. Und wenn du dich so entwickelst, wie ich es erwarte, wirst du noch sehr lange für mich arbeiten, wenn du das später möchtest." "Sehr gern, Oberst. Es wäre mir eine Ehre." "Ich frage dich in einem Jahr noch einmal. Und wenn du dich dann anders entscheidest, werde ich dich durch ganz Bayern jagen." Gerrit lächelte. "Ja, Oberst." Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der Oberst seine Worte ernst meinte. Einige müde aussehende Jugendliche traten ins Freie. Der Oberst straffte sich. Sein Gesicht war ernst und ausdruckslos. "Dann los, Gerrit. Überprüfen wir mal deine Führungskraft." Gerrit nickte und rief alle anderen zusammen, mit mehr oder weniger Elan folgten sie seinen Anweisungen. Er stand jetzt allein vor den anderen, gleichaltrigen Jugendlichen. Ernst sah er sie an und versuchte, seine Unsicherheit zu überspielen. "Guten Morgen", grüßte er mit festerer Stimme als er sich selber zugetraut hatte. "Guten Morgen, Gerrit." Einige grinsten. Für sie war es ein Spiel und einen der ihren dort vorn zu sehen, war für sie lustig. "Ihr wisst, was unsere Aufgabe für heute ist. Und ihr habt euch hoffentlich Gedanken über den gestrigen Tag gemacht. Sicher haben die meisten von euch Blasen oder andere kleiner Blessuren davongetragen. Macht dieselben Fehler wie gestern nicht wieder, sonst wird es heute noch viel schlimmer." Benjamin hob den Arm. "Gerrit, darf ich bitte eine Frage stellen?" "Sicher, Ben." "Wie kann man den Rucksack am besten tragen, ohne dass die dünnen Riemen zu stark in die Schultern schneiden? Ich habe gestern immer wieder das Gewicht verlagert, aber es war hinterher schlimmer als zuvor." "Ihr müsst beim Aufsetzen der Rucksäcke auf zwei Dinge achten. Die Trageriemen müssen ganz glatt auf euren Sachen liegen. Und die Sachen darunter müssen straff gezogen sein. Selbst wenn ihr merkt, dass sich mit der Zeit eine Druckstelle bildet, dürft ihr das Gewicht nicht verlagern. Es wird euch nicht helfen." Er sah die anderen an, die ihm erstaunlich interessiert zugehört hatten. Dann suchte er den Blick des Oberst, der noch am Tisch saß und zusah. Der nickte unmerklich. "Rucksäcke schultern", befahl Gerrit. Langsamer und umsichtiger als gestern nahmen sie ihre Gewichte hoch, richteten die Rucksäcke und ihre Sachen und standen dann wieder still. Gerrit wand sich an Oberst Naseband und den Gruppenführer. "Wir sind bereit." "Gut, wir auch." "Vorwärts", wies Gerrit die Jungen an und ging zur Spitze des Zuges. Zügig führte er sie hinaus und den Weg entlang, den sie auch am Vortag gegangen waren. Er legte anfangs ein ziemliches Tempo vor, drosselte das aber nach einer Weile. Es war nicht seine Aufgabe, die anderen fertig zu machen und sie zu demütigen. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er sich umdrehte und nachschaute, ob auch alle mitkamen. Er schwankte zwischen dem Wunsch, den Oberst zu beeindrucken und der Angst, sich unbeliebt zu machen. Sowohl mit den anderen Jugendlichen als auch mit dem Oberst musste er noch ein ganzes Jahr auskommen. Ob der Oberst das gemeint hatte, als er von Entscheidungen sprach? Oder konnte man das beides unter einen Hut bringen? Robert lief neben Benjamin her und redete leise mit ihm. Beide sahen zwar etwas erschöpft aus, aber sie würden durchhalten. Einige andere, die weiter hinten liefen, machten eher einen schwächeren Eindruck. Gerrit ließ sich zurückfallen und sprach zwei der Jungs an. "Kommt mit vor, ihr geht mir hier zu sehr unter." "Lass mal, wir kommen schon mit." "Ich habe gesagt, ihr sollt mit vorkommen. Das war kein Bitte." "Mein Gott, lass mal ja nicht den Chef raushängen." Der Junge blieb stehen und sah Gerrit herausfordernd an. Der Zug geriet ins Stocken. "Ihr anderen, geht weiter, los. Robert, du führst sie, ich komme sofort nach." Damit packte er den Quertreiber und zog ihn aus der Reihe. "Hör mir mal zu, du Hampelmann. Ich habe hier das Sagen. Das mag dir lustig erscheinen, aber ich nehme die Aufgabe ernst. Und entweder rennst du jetzt vor und reihst dich ganz vorn ein, oder du fährst nach Hause." Der Junge sah ihn irritiert an. Dann jedoch lachte er. "Was soll der Müll? Das ist nicht deine Entscheidung." "Dann mach was du willst. Aber für mich bist raus." Damit wand er sich um und ging schnell wieder an seinen Platz. Der Junge sah unsicher den Gruppenführer und dann den Oberst an. Aus keinem der Gesichter konnte er etwas ablesen. Unsicher ging er wieder an seinen Platz, begann dann schneller zu laufen und reihte sich vor Robert und Benjamin ein. Als Gerrit ihn dort sah, jubilierte er innerlich, nach außen hin blieb sein Gesicht vollkommen emotionslos. Aber dieses Problem blieb nicht das einzige, was Gerrit mit den anderen hatte. Den Respekt, welcher den Leitern entgegen gebracht wurde, bekam er natürlich nicht zu spüren. Warum sollten sie ihn auch respektieren, er hatte bisher nichts geleistet. 'Stop', dachte er. Natürlich mussten sie ihn respektieren und auf ihn hören. Wenn sie an ihm zweifelten, dann zweifelten sie auch an dem Befehl des Oberst, der ihn zum Leiter der Gruppe gemacht hatte. Aber so schienen die anderen nicht zu denken. Der Zug wurde immer langsamer. Die Jugendlichen schlenderten inzwischen mehr, als dass sie liefen. Gerrit merkte, dass die Lücke zwischen ihm und dem Rest der Gruppe immer größer wurde. Als es ihm zu bunt wurde, blieb er plötzlich stehen und drehte sich langsam um. "Anscheinend haben einige von euch nicht ganz kapiert, warum sie im Lager sind. Lasst es mich versuchen zusammenzufassen. Wir sind hier, um ein gutes Sprungbrett für unsere Zukunft zu haben. Wir sind hier, um zu lernen. Wenn ihr keine Lust dazu habt, dann geht doch nach Hause, aber hört auf, die Leute, die wirklich wollen, mit runter zu ziehen." "Du bist aber kein Leiter. Du bist nur einer von uns." "Name." Der Junge schwieg. "Wie heißt du?" Gerrits Stimme klang drohend und gepresst. "Karl Friedrich Segers." "Gut, Karl Friedrich Segers. Wenn der Oberst dir einen Befehl erteilt, hörst du sicher darauf." "Selbstverständlich." "Wenn der Oberst mir einen Befehl erteilt, tue ich das auch, ist doch klar, nicht wahr?" "Ja." "Wenn der Oberst mir befiehlt, diese Gruppe zu leiten und du dich mir widersetzt, widersetzt du dich damit dem direkten Befehl von Oberst Naseband." Er sah den Jungen blass werden. "Willst du dem Oberst den Befehl verweigern, Karl Friedrich Segers?" "N…nein…", stotterte der nervös. "Eigentlich ist es mir scheißegal, ob ihr alle hier bleibt oder nicht. Meinetwegen setzt euch hier hin und ruht euch aus, alles gut. Ich werde euch nicht weiterprügeln. Aber ich bestimme die Regeln, solange man mich nicht zurück pfeift. Die Sonne steht relativ tief. Es ist jetzt ungefähr 16 Uhr. In zwei Stunden geht die Sonne unter und ich werde dann im Lager sein. Ich weiß nicht, inwieweit meine Befugnisse als Leiter gehen und ob meine nächsten Sätze nicht erlöschen, wenn wir im Lager sind, aber ich spreche sie trotzdem aus. Wer bei Sonnenuntergang nicht im Lager ist, bekommt nichts zu essen und wird die Nacht draußen stehend verbringen. Dann hat er viel Zeit über den Sinn von Befehlen und Befehlsketten nachzudenken und darüber, was er eigentlich hier will." Damit drehte er sich um und ging los. Er schlug jetzt ein Tempo ein, bei welchem selbst er ins Schwitzen kam und er wand bis zum Lager kein einziges Mal den Kopf um. Er hatte keine Ahnung, wie viele ihm gefolgt waren, aber er hörte hinter sich Keuchen und wütendes Fluchen, also waren doch einige da. Auf dem Appellplatz stand Gerrit mit dem Rücken zu den anderen und blickte starr geradeaus. Als der Oberst vor ihn trat, sah er Schweißperlen auf dessen Stirn. "Oberst, ich übergebe Ihnen und dem Gruppenführer die Gruppe." "Vielen Dank, Gerrit." Der Mann hob den Blick. "Komm zu mir." Er stellte sich neben ihn und hob langsam den Kopf. Die meisten Jungs standen vor Erschöpfung zitternd da. Niemand war zum Tisch gelaufen wie am Vortag. Alle hatten die Rucksäcke noch auf dem Rücken. "Wie du siehst, die meisten sind noch da. Der Rest wird sicher noch eintrudeln. Bis dahin bleibt ihr alle hier stehen. Ihr dürft euch dann beim Rest der Gruppe bedanken." Die wütenden Blicke der Jungs machten Gerrit ein wenig Angst. Der Oberst schob ihn hier in eine Rolle, die ihm absolut nicht gefiel. Er stand neben dem Mann und gemeinsam mit den anderen warteten sie über eine Stunde, bis die Nachzügler gemütlich angeschlendert kamen und sich hinten mit einreihten. "Gut, da jetzt alle da sind…" Das bis jetzt noch leicht belustigte Gesicht des Oberst verwandelte sich in eine wütende Maske. Der Gruppenleiter trat einen Schritt zurück und zog Gerrit mit sich mit. "Was denkt ihr Kinder eigentlich, wie ihr später mal überleben wollt? Indem ihr gemütlich durchs Leben schlendert? Ihr alle, kommt nach vorn in die erste Reihe, sofort." Die Stimme des Mannes dröhnte über den Hof. Die Jungen, die bis dahin lässig dagestanden hatten, kamen zitternd vor. "Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich euch wegen Befehlsverweigerung körperlich züchtigen lassen, aber so, dass ihr die Narben bis zum Ende eures Lebens versorgen müsstet." Sie wurden noch kleiner. "Wenn ich einem von euch einen Befehl erteile, befolgen ihn gefälligst alle. Habt ihr das verstanden?" "Ja, Oberst", sagten alle, aber die Stimmen klangen leise und ängstlich. "Gerrit, komm zu mir." Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, sah ihn aber nicht an. "Du hast sehr gute Arbeit geleistet, trotz der Gehorsamsverweigerung. Und wenn ich einem den Oberbefehl über eine Gruppe erteile, dann respektiere ich auch dessen Anordnungen. Die paar hier vorn, die zu spät gekommen sind, bleiben genau hier stehen. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken und ohne Essen. Ich werde im Laufe der Nacht überprüfen, ob sich jemand bewegt hat. Sollte das der Fall sein, geht derjenige sofort zum Bahnhof. Diejenigen, die die Bestrafung hinnehmen und bestehen, dürfen bleiben. Allerdings werden wir uns morgen noch darüber unterhalten. Die anderen dürfen sich jetzt hinsetzen und essen." "Jawohl, Oberst", riefen die Jungen laut und gingen zum Tisch. "Bevor du gehst", hielt der Oberst Gerrit zurück. "hast du hier selbstverständlich deinen zweiten Orden." Ein zweiter dünner Metallstreifen wurde an Gerrits Hemd geheftet. "Vielen Dank, Oberst", sagte der und ging essen. Von den Jungs am Tisch wurde er lautstark bejubelt. Benjamin klopfte ihm auf den Rücken. "Du warst echt gut. Die Flüche galten übrigens nicht dir, falls du das denkst. Wir haben uns über die aufgeregt, die trotz deiner Drohung immer noch nicht mit wollten." "Warum?", fragte der Oberst hinter ihm. Als Benjamin aufspringen wollte, drückte er ihn runter auf die Bank. "Weil auch wir Gerrit zugestimmt haben, bezüglich der Befehlskette. Er hatte Recht, als er uns darauf aufmerksam gemacht hat, dass wir ja Ihnen den Befehl verweigern, wenn wir seine Autorität anzweifeln." "Wer diese Lektion wirklich verstanden hat, der hat heute viel gelernt. Außerdem solltet ihr immer danach streben, dem besten unter euch in der Leistung nahe zu kommen. Eifersucht und Neid gehören hier nicht her. Ebenso hasse ich Überheblichkeit und Arroganz, aber ich spüre in dieser Hinsicht nichts bei Gerrit." "Ist er ja auch nicht", sagte Otto empört. "Genau." Benjamin stimmte ihm zu. "Gerrit war immer gut und hat immer versucht, sein Wissen und Können mit jedem zu teilen. Er hatte nie Angst, dass ihn jemand überflügeln könnte, nie Angst, mal nicht der Beste zu sein. Er kann mit Erfolg und Anerkennung schlecht umgehen, auch wenn er sie verdient hat." Oberst Naseband sah Robert erstaunt an. "Bis jetzt habe ich mich gefragt, warum Gerrit dich als Freund ansieht. Anscheinend hast du doch Qualitäten in diese Richtung. Und was das Umgehen mit Anerkennung angeht, das können viele nicht. Vor allem denjenigen fällt es schwer, die es wirklich verdienen, da ist Gerrit nicht der einzige. Aber auch das sollte man lernen." "Ja, Oberst", sagte Gerrit mit rotem Gesicht. "Gib ruhig deine Ideen und Gedanken weiter, sie sind vernünftig. Und wer schlau ist, wird dir zuhören." Einiger der Jungen rückten augenblicklich näher. Gerrit sah Robert dankbar an. Der nickte ihm aufmunternd zu. Er lehnte den Kopf rüber und zischte ihm zu: "Wenn du noch mal so ein Tempo vorlegst, erwürge ich dich." "Ich kann selbst tot schneller und länger marschieren als du", konterte der. Die beiden sahen sich grinsend an, während die anderen am Tisch lachten. Auch der Oberst grinste vor sich hin. Keiner der Jungs sah zu denen hinüber, die hungrig und erschöpft auf dem Platz standen. Es waren 8 von den insgesamt 62, die am vorherigen Tag im Lager angekommen waren und die Prüfung bestanden hatten. Einer der Jungen war ja sofort nach der Ankunft von Oberst Naseband fortgeschickt worden. Einige am Tisch fragten sich im Stillen, wie viele von denen, die jetzt auf dem Appellplatz standen, morgen noch zu ihnen gehören würden.
Niemand von ihnen blieb. Alle gingen noch in der Nacht. Und ihnen folgten weitere in den folgenden Wochen. Bereits Anfang Dezember, als heftige Schneestürme über das Lager fegten, waren es nur noch 25. Sie waren verteilt auf vier Baracken, in denen je acht Personen schlafen konnten. Während der letzten Monate waren die Tage ausgefüllt gewesen mit Arbeit auf den Höfen und in den Wäldern im Umkreis des Lagers, Exerzierübungen, Essen und Schlafen. Dazu kam noch der fast tägliche Unterricht in Volkskunde, wie man es nannte. Dort wurde alles unterrichtet, von der Mathematik über Völkerkunde, Literatur, Biologie, Physik, Chemie, Musik. Hinzu kamen noch Stunden in Mechanik und Waffenkunde. Diese zwei Fachbereiche mochten die Jugendlichen am meisten. Waffenkunde sowieso, schließlich war es aufregend, die ganzen Waffen zu pflegen und mit ihnen schießen zu dürfen. Und in Mechanik wurde ihnen erklärt, wie Autos und Lastkraftwagen funktionierten und wie man sie reparieren konnte. Oberst Naseband war bis zum Winter nicht im Lager, da er sich um seine Arbeit kümmern musste. Er kam erst kurz vor Weihnachten mit einem großen Auto. Darin waren kleine Päckchen für die Jungen verstaut, die bei deren Anblick von jungen Erwachsenen zu kleinen Kindern wurden. Am Weihnachtsabend stand Gerrit vor der Tür seiner Baracke und blickte hinauf in den sternenklaren Himmel. Er sah die Sterne funkeln, erkannte einzelne Sternbilder. Sein Blick blieb am Großen Wagen hängen. Tief in sich spürte er einen schmerzhaften Stich, den er nicht einordnen konnte. Er fühlte sich einsam, sah aber ein, dass sich daran jetzt nichts ändern ließ. Zum Glück wurde er aus seinen Gedanken gerissen, indem man ihn ins Büro des Oberst zitierte, der sich über dessen Werdegang erkundigte. Er schien sehr zufrieden mit dessen Erklärungen und schob ihm ein braunes Päckchen über den Tisch. "Ich habe mein Geschenk schon erhalten, Oberst, wofür ich mich gern noch einmal bedanken möchte." "Das ist kein Geschenk an sich. Es gehört zu deinem späteren Arbeitsplatz und du solltest dich daran gewöhnen. Natürlich nur, wenn du die Stelle möchtest." Unsicher nahm Gerrit das Paket und öffnete es. Darin lag ein alter Revolver, gut verwahrt in einem Holster aus gepflegtem schwarzen Leder. Seine Augen weiteten sich, als er den Wert des Geschenks und den Sinn dahinter erkannte. Sprachlos hob er den Blick. "Ich möchte dich in meinem Lager haben. Natürlich vorausgesetzt, dass du das nächste halbe Jahr hier noch durchhältst. Woran ich nicht zweifle. Willst du die Stelle oder soll ich mich anderswo umsehen?" "Nein… ich… Entschuldigung, Oberst." Er straffte sich. "Natürlich möchte ich die Stelle haben, aber bitte gestatten Sie mir eine Bitte." "Ich ahne es schon. Du willst Robert mal wieder mitziehen." "Ja, Oberst. Er ist mein bester Freund." "Bei dir ist in mancher Hinsicht wirklich Hopfen und Malz verloren. Robert bringt nicht annähernd die Leistung, die ich erwarte. Er ist ein miserabler Schütze, hat kein Verständnis für Mechanik. Aber ich brauche Leute, die zupacken können und nicht nur rumstehen und sich vor der Arbeit drücken." "Ich weiß, dass andere Leute hier im Lager besser sind als er, aber er ist mein Freund." "Du solltest deine Freunde besser wählen." Gerrit schluckte. Zum ersten Mal seit ihrem Streit dachte er wieder an Alex. "Ich werde Robert nicht im Stich lassen." "Er muss ein besserer Schütze werden und seine körperliche Form sollte sich ebenfalls wesentlich verbessern. Sorge dafür und er kann mit. Mir ist egal, wie du das machst." "Ja, Oberst." Gerrit salutierte und nahm die Waffe. Er schnallte sich das Holster um und bedankte sich für das Geschenk. Dann wand er sich zur Tür um. Als Gerrit die Klinke nach unten drückte, hielt der Oberst ihn zurück. "Lass mich dir einen alten Leitsatz mitgeben, den mir mein Vorgesetzter im Krieg immer wieder mahnend ans Herz gelegt hat: Es gibt Feinde, denen kannst du blind vertrauen, aber es gibt Freunde, denen solltest du niemals den Rücken zudrehen. Und jetzt geh." Tief in Gedanken versunken verließ Gerrit das Büro. Was wollte der Mann ihm damit sagen? Dass er Robert nicht zu sehr vertrauen sollte? Nein, Robert würde ihm nie in den Rücken fallen. Er war vielleicht ein Feigling, der sich hinter ihm versteckte, aber er war nicht so falsch, dass er ihn um des Vorteils Willen verraten würde. Tuscheln und Lachen war zu hören. In der Dunkelheit sah er Robert, Benjamin, Gerd, Paul und Benno. Seit Monaten teilten sie sich eine Baracke, waren Freunde geworden. Was Gerrit nicht passte, war Roberts ständiger Drang zu zeigen, dass er der beste Freund des besten Jungen in diesem Lager war. Er liebte es regelrecht, die anderen herumzuscheuchen. Gerrit zog seine Jacke enger um seine Schultern. Die Nacht war sternenklar und es war eiskalt. Sein Atem wehte in einer Wolke von seinen Lippen davon, als er sprach. "Was macht ihr denn hier?" "Wir gucken uns den Wagen des Oberst an. Tolles Teil." Benjamin blickte schwärmend den schwarzen Lack an. "War das deine bescheuerte Idee?" Robert zuckte mit den Schultern. "Tut dem Auto doch nicht weh. Wir gucken ja nur. Was hast du da übrigens?" Er deutete auf die Waffe. "Die habe ich vom Oberst bekommen, mit dem Angebot, für ihn zu arbeiten. Ich will, dass du mitkommst und dafür musst du besser werden und nicht schon wieder irgendwelchen Blödsinn anstellen." "Toll. Eine Stelle im Arbeitslager von Oberst Naseband. Dafür würde ich einen Mord begehen." Pikiert sah ihn Gerrit an. "Heißt das, ich darf nicht mehr einschlafen, wenn du im Raum bist?" Paul lachte. "Unsinn. Selbst wenn du nicht da wärst, gäbe es hier viele andere, die besser dorthin passen. Ich bin doch nur noch hier, weil ich sehr gut in Mathematik und Mechanik bin. Der Oberst will, dass ich durchhalte und dann in die Forschung und Entwicklung gehe. Wahrscheinlich nach Berlin. Dort soll ich dann Flugzeuge bauen." "Glückwunsch. Das klingt ja richtig gut." "Ja, super. Lasst uns reingehen, mir ist kalt." Robert zog Gerrit mit, die anderem folgten ihm. "Wie meinst du das, ich muss besser werden?" "Du solltest aufhören, dich ständig vor allem zu drücken, Robert." "Kann nicht jeder so eifrig sein wie du." "Nun spiel mal nicht die beleidigte Leberwurst. Ich möchte dir nur helfen, dass aus dir was wird. Aber wenn du nicht willst, gut. Dann spar ich mir die Arbeit." Robert sah ihn erstaunt an. "Hey, so war das nicht gemeint. Ich meine ja nur, dass es mir nicht so leicht fällt." "Darum will ich dir ja helfen. Wenn du mich lässt." "Ja, natürlich." Er sah ihn von der Seite an. "Danke, Gerrit." Der nickte grinsend. "Halt dich von dem Auto fern." "Ja ja."
Robert hielt sich an das Versprechen. Bis zum Silvesterabend. Er überredete an diesem Abend Benjamin und Gerd dazu, den Schlüssel des Wagens aus dem Büro des Oberst zu stehlen und ein Stück mit dem Auto zu fahren. Der befand sich nämlich in München, zusammen mit einigen anderen hochrangigen SS-Offizieren und würde erst am nächsten Tag wieder im Lager sein. Gerrit war in der Baracke einer anderen Gruppe, weil die im Waffenkundeunterricht nicht mitkamen und ihn um Nachhilfe gebeten hatten. Die Jungen schlichen gemeinsam ins Büro und fanden schnell die Schlüssel. Reinzukommen war kein Problem, denn das Türschloss war kaputt. Schnell kletterten sie in den Wagen und Robert startete ihn. Benjamin saß hustend auf dem Rücksitz, er hatte sich eine ziemlich schlimme Erkältung eingefangen. Gerd saß unsicher neben Robert. Man sah ihm an, dass er nicht hier sein wollte, aber um nicht als Feigling dazustehen, schwieg er und hoffte, dass alles gut ging. Robert hatte endlich kapiert, wie man so einen Wagen fuhr, nach unzähligen Stunden mit Gerrit. Vorsichtig startete er ihn, legte den ersten Gang ein und gab langsam Gas. Nun gab es aber einen Unterschied zwischen einem Lastkraftwagen, der langsam anrollte und diesem Auto, welches regelrecht nach vorn schoss, auf dem vereisten Weg ins Schleudern geriet und mit lautem Krachen gegen den Zaun prallte. Schockiert saßen die Jungen im Wagen, atmete mehrfach tief durch, sprangen heraus und rannten panisch in ihre Baracke. Als es draußen laut wurde, steckten sie vorsichtig die Köpfe zur Tür heraus und sahen den Aufruhr im Lager. Ein Angestellter des Lagers stieg in einen Wagen und fuhr davon. Er würde den Oberst holen. Gerrit stand neben dem Lagerleiter und blickte mit offenem Mund die verbeulte Motorhaube an. Sein Blick glitt zu seiner Baracke und traf auf Roberts blasses Gesicht. Der sah ihn flehend an und verzog sich nach drinnen. Benjamin blieb in der Tür stehen, seine Stirn zierte eine kleine blutende Wunde. Zitternd zog auch er sich zurück.
Zwei Stunden später war auf dem Appellplatz die Hölle los, was vor allem an Oberst Naseband lag, der brüllend den Namen des oder der Übeltäter zu wissen verlangte. Gerrit hatte inzwischen natürlich herausbekommen, dass es Robert, Gerd und Benjamin gewesen waren, schwieg aber. Er wollte seine Freunde und Kameraden nicht reinreiten. "Gut, wenn ihr alle schweigen wollt, dann werdet ihr auch alle bestraft. Bis morgen früh die Sonne aufgeht, bleibt ihr hier stehen. Das sind ungefähr sieben, acht Stunden. Wer von euch nicht erfriert, kann bleiben." Er sah die Jugendlichen streng an. "Oder hat doch jemand was zu petzen? Ausnahmsweise wird derjenige das Lager auch nicht verlassen." "Es waren Robert, Benjamin und Gerd", sagte ein großer, dunkelhaariger Junge aus Augsburg. Sein Name war Daniel. "Kameradenschwein", zischte Robert leise. "Das kriegst du zurück." "Schnauze halten, Ritter", blaffte Oberst Naseband ihn an. "Vortreten. Benjamin, Gerd, ihr auch." Gerrit stellte sich neben die drei. "Nein, Gerrit, diesmal nicht. Du warst in einer anderen Baracke und hast nichts damit zu tun." "Ich bin der Leiter unserer Bracke. Wenn meine Kameraden Mist bauen, ist es meine Schuld." "Dieser Beweisführung ist nichts entgegen zu setzen. Gut, dann bleib mit ihnen hier draußen. Ihr anderen geht schlafen. Morgen gehen wir Skifahren. Etwas Wintersport ist nie verkehrt." Als alle weg waren, trat Gerrit einen Schritt auf Oberst Naseband zu. "Oberst, ich möchte sie bitten, die Strafe für Benjamin auszusetzen. Er ist schon schwer krank, hat hohes Fieber. Es könnte ihm ernstlich schaden." "Sieben Stunden bei Minus 15 Grad draußen zu stehen, wird euch allen schaden. Es ist mir egal, Gerrit. Deine Kameraden haben es vorher gewusst. Sie können dankbar sein, dass ich euch nicht alle rausschmeiße, klar?" "Ja, Oberst." Er trat zurück, straffte sich und legte die Arme hinter dem Rücken zusammen. Sein Blick ging starr geradeaus.
Die Stunden vergingen quälend langsam. Je näher der Morgen rückte, desto kälter wurde es. Gerrit hörte Benjamins heiseres Husten, hörte das Klappern der Zähne seiner Freunde. Er selber fühlte die Kälte in jedem Knochen, seine Muskeln waren völlig verspannt. Plötzlich brach Benjamin neben ihm zusammen. Er rang keuchend nach Luft, hustete ununterbrochen und spukte Blut. Gerrit funkelte Robert und Gerd an. "Ihr zwei bleibt hier stehen. Ich bringe Benjamin zum Arzt." Er hob den schmächtigen Jungen hoch und trug ihn in das Krankenzimmer. Dort übergab er ihn dem Arzt und wand sich wieder der Tür zu, um den Raum schnell zu verlassen. Doch in der Tür stand der Oberst und funkelte ihn wütend an. "Hatte ich mich nicht klar ausgedrückt?" "Doch, Oberst, aber Benjamin ist zusammengebrochen. Ich konnte ihn doch da nicht liegen lassen." In diesem Moment traf ihn die Faust des Mannes im Gesicht. Schwankend fiel er zu Boden. "Raus, Gerrit. Es gibt ein einziges Vergehen, welches ich nicht verzeihe und das ist Ungehorsam. Wage es nie wieder, meinen Befehl zu missachten. Und jetzt geh endlich raus. Sag den anderen, ihr könnt in eure Baracke. Wärmt euch auf. Ihr habt heute Küchendienst, während die anderen mit mir und dem Lagerleiter zum Skifahren gehen." Der rappelte sich mühsam auf. Sein Kopf schien explodieren zu wollen. Gerrit war zwar Schläge gewöhnt, aber sein Vater hatte nie so hart zugeschlagen. "Ja, Oberst." Er nahm das Holster mit der Waffe ab und reichte es dem Mann. "Das wollen Sie sicher zurück haben." "Nein. Aber lerne diese Lektion schnell, sonst überlege ich mir das mit dem Stellenangebot wirklich noch einmal. Ein zweites Mal verzeihe ich dir nicht." Damit ging der Mann.
Da ist man baff... Nicht nur dass der Teil so super klasse geschrieben ist, sondern auch, das er so klasse beschrieben ist... Das ist echt genial wie du das alles schreibst! Echt klasse, das du Michael mit rein genommen hast! Der Leit-Satz ist echt klasse und vor allen dingen richtig!! Bin echt gespannt, was du jetzt weiter schreibst!!! Freue mich schon auf einen neuen Teil!
Puhhhh! Ich bin einfach nur baff. Was für eine Story. Sie ist wie immer super genial geschrieben.
Rspekt, dass du dich an dieses ausgesprochen schwierige Thema wagst. Ein weitere Grund warum mich diese Story jetzt schon total fasziniert. Zumal ich selbt auch sehr an Gschichte interessiert bin.
Bin sehr gespannt, wie sich alles weiterentwickelt.
Hätte der Oberst Beni wirklich sterben lassen? Denn ich nehme an, der wäre gestorben, wenn Gerrit ihn nicht zum Arzt gebracht hätte... Und ich hoffe, dass Beni nun durchkommt...
Es ist ein sehr mitreissendes Kapitel... Hart aber mitreissend... Ich kann mir alles genau vorstellen und fühle den Rucksack beinahe auf meinen Schultern... Brrr...
Super geschrieben, echt einsame klasse. Ich hoffe, wir werden bald wieder etwas zu lesen bekommen
Wow... so viele Leser. Danke für die Kommis. Macht echt Mut, mehr Stories in die Richtung zu schreiben. Hätte nicht gedacht, dass das so ankommt.
Kapitel 5 - Ein Jahr, zwei Wege, drei Entscheidungen
Der Sommer 1938 war vom Wetter her gesehen durchwachsen und viele beklagten den übermäßigen Regen, der auf Bayern niederging. Doch das Wetter war nicht die Hauptsorge der Menschen. Der Ton in der deutschen Politik wurde härter, fordernder und alle warteten gespannt, ob die Versprechungen gehalten werden konnten, die gemacht wurden und ob wirklich alles besser werden würde. Einige gequält von Ängsten, andere nahezu zapplig vor freudiger Erregung. Seit dem Zeitpunkt, als Gerrit, Alex und Branco die Schule verlassen hatten, war ein Jahr vergangen und es war einiges geschehen im Leben der jungen Leute. Gerrit hatte das Lagerleben mit Bravour überstanden, so wie er und alle, die ihn kannten, es von ihm erwartet hatten. Robert hatte sich nicht sehr viel weiter entwickelt, außer dass er noch fauler geworden war. Er hatte nur gelernt, es zu verstecken. Benjamin war nach der schweren Lungenentzündung noch Monate nicht vollständig gesund geworden und im Mai gegangen. Soweit Oberst Naseband es Gerrit erzählt hatte, lernte er jetzt in einem Gericht und würde wohl dort mit Akten und ähnlichem zu tun haben. Das war für den schmächtigen jungen Mann vielleicht genau die richtige Arbeit. Von den sieben Jugendlichen, die das Lager bis zum Ende durchgehalten hatten, bekamen alle eine Arbeit, die ihnen eine Laufbahn als SS-Offizier oder Armeeangehörigem ermöglichte. Gerrit hatte vor Monaten dem Oberst fest zugesagt. Er wurde von dem seither verstärkt an der Waffe trainiert, außerdem im Faustkampf, im Umgang mit dem Schlagstock und anderen Dingen, die ein Wachmann in einem Lager können muss. Und er lernte begierig. Seine Leistungen wurden stetig besser, er sammelte die kleinen Lagerorden mit einem Eifer, der jedem Ausbilder das Herz aufgehen ließ. Und er fand in der Ausbildung und im Umgang mit dem Oberst, der immer mehr zu seinem Förderer wurde, Selbstvertrauen. Ein Selbstvertrauen, was er in dieser Form überhaupt nicht kannte. Er gab sein Wissen inzwischen nicht mehr nur weiter, sondern übernahm auch gern Verantwortung, leitete kleine Gruppen, wenn im Lager Spiele veranstaltet wurden oder auch mal große Projekte, wenn es darum ging, einem Bauern über mehrere Wochen zu helfen. Robert beteiligte sich so lange daran, bis er merkte, dass der Oberst ihn immer und immer wieder vorführte. Er wurde unwilliger und lustloser und entwickelte einen tiefen Wunsch. Er wollte so sein wie sein bester Freund. Aber mehr und mehr sah er ein, dass er ihn niemals übertrumpfen konnte. Wenn er an seine Stelle wollte, musste er ihn von dort weg bekommen. Er schwor sich, seine Chance zu nutzen, ohne Rücksicht auf die Freundschaft, die die beiden seit Jahren verband, die er aber niemals wirklich empfunden hatte. Als Gerrit nach der Ausbildung im Auto des Oberst saß und sich im ersten Moment noch darüber freute, dass der ihm einen Führerschein ermöglichen wollte, vergingen ihm diese schönen Gedanken schnell. Ein anderer Gedanke drängte sich in sein Gehirn. Er hatte eigentlich keine Ahnung, was ihn genau erwartete. Was war das für ein Lager, welches der Oberst leitete. Was würde dort seine Aufgabe sein? Er hatte nie gefragt, da ihm diese Stelle wie ein Traum erschienen war. Und jetzt wagte er nicht zu fragen, da er Angst hatte, dass die Antwort ihm nicht gefallen würde. Mehrmals öffnete er den Mund, schloss ihn wieder und blickte irgendwann schweigend aus dem Fenster, wo Wälder, Wiesen und die Häuser von München vorbeizogen. Sie fuhren weiter in Richtung Westen, wieder raus aus der Stadt und in eine Gegend, die Gerrit noch nie gesehen hatte. Es ging an der Isar entlang, dann weiter an einem kleinen Zufluss Richtung Süden. Sie fuhren durch einen wunderschönen grünen Wald, durch dessen Blätterdach der blaue Himmel blitzte. Dann ging es hinaus, einen ausgefahrenen Weg entlang zwischen Wiesen und Feldern, die noch nicht vollständig abgeerntet waren. Mit offenem Mund starrte Gerrit die Raubvögel an, die über die Felder hinweg schossen und ihr Abendessen jagten. Als Stadtkind bewunderte er die Natur, er liebte sie, die Gerüche, Geräusche und die Farben. Vor allem die Farben. Die Wohnung seiner Eltern, das Haus, die Straße, selbst die Schule, alles war grau gewesen. Langweilig, trostlos und öde. Erst durch die Jugendlager war er raus gekommen und hatte gesehen, dass die Welt bunt war. Er grinste leicht vor sich hin. Sollte er wirklich hier arbeiten, in der Natur, inmitten der Farben? Wovor hatte er dann Angst?
Alexandra hatte lange nach Arbeit gesucht und auch immer wieder kleine Stellen angenommen, aber nichts davon war das gewesen, was sie suchte. Entweder musste sie 14 Stunden am Tag schuften für einen Lohn, der diese Bezeichnung überhaupt nicht verdient hatte oder ihre Vorgesetzten verlangten Dinge von ihr, die sie nicht mehr bereit war zu geben. Vor allem jetzt, da sie genau wusste, was die Männer wollten. Jetzt, da sie mit Branco nicht mehr nur das Haus, sondern auch das Bett teilte. Auch ihm ging es nicht besser bei der Suche nach Arbeit. Er fand einfach nichts in der Stadt. Insgeheim hatte er schon darüber nachgedacht, München zu verlassen. Aber nachdem Alexandra und er jetzt ein Paar waren und von einer gemeinsamen Zukunft träumten, konnte er das nicht mehr. Denn sie würde nicht mitgehen. Die Beziehung der beiden war sehr harmonisch. Sie waren meist einer Meinung, ohne über Dinge zu diskutieren. Nur ein kleiner Punkt störte den jungen Mann an seiner Freundin. Ihr immer stärker werdendes Interesse an der Politik. Er selber hielt lieber den Mund, das ersparte einem Ärger. Doch Alexandra war der Meinung, dass man reden musste, Fragen stellen und laut anklagen. Sie sprach über Massendeportationen, über Verhaftungen von verschiedensten Menschen, über ungesühnte Morde auf offener Straße, über Dinge, die Branco eigentlich nicht hören wollte. Aber für sie hörte er zu. Zu seinem Leidwesen blieb es allerdings nicht beim Reden und Zuhören. Alexandra fing mit der Zeit an, Kontakte zu knüpfen. Vor allem die wenigen kommunistischen Gruppierungen, die noch aktiv gegen die Regierung kämpften, interessierten sie. Deren Vorstellung von Meinungsfreiheit, von Opposition, von Volkseigentum und freiem Denken faszinierten sie. Immer häufiger brachte sie solche Leute mit nach Hause. Branco hielt sich bei den vielen Gesprächsrunden sehr zurück, auch wenn ihn viele der Leute, die ins Haus kamen, als einen Vorreiter ansahen, da ja sein Vater für seine Überzeugung im Gefängnis schmorte. Dass er selber kein Interesse an den Themen hatte und Angst vor einer Entdeckung, interessierte niemanden und er versteckte es auch sehr gut. Nur Alexandra weihte er in seine Befürchtungen ein, aber sie beruhigte ihn. Immer wieder. Und irgendwann nahm sie ihn auch mit zu den geheimen Treffen, wo dann nicht mehr nur geredet, sondern auch gehandelt wurde. Es ging fast ausschließlich um das Drucken und Verteilen von Flugblättern. Und da die beiden keine Arbeit hatten, ließen sie sich immer mehr in die Gruppe hineinziehen und in die Arbeit dort einbinden. Branco fand nach fast einem Jahr des intensiven Suchens in einer Waffenfabrik eine Anstellung und war froh, als Alexandra ihm vorschlug, sich nicht mehr so viel um die illegale Gruppierung zu kümmern, da er sehr hart arbeiten musste und oft sehr müde war. Entweder übersah sie seine Freude über diesen Vorschlag oder sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, aber von dem Moment an, stand zwischen ihnen nichts mehr und es kehrte wieder ein vollkommener Friede ins Haus der Familie Rietz ein.