Ein klasse Teil!!! Hoffentlich Stimmt Michaels verdacht!!!! Er und Alex können einem richtig dolle leid tun!!!!! Mal sehen, wann es weiter geht!!! Freue mich schon riesig!!!
Mittlerweile war ein Großteil der Münchner Polizei mit der Suche nach den Kindern beschäftigt. Da es aber bisher noch keine konkreten Hinweise gab, hatte der Staatsanwalt beschlossen, dass Michael, Gerrit und Branco vom Büro des K11’s den Einsatz koordinieren sollten, natürlich mit dem Hintergedanken, dass er Michael so verzweifelt nicht auf die Straße lassen konnte. Vor allem diese Suche nach einer Nadel im Heuhaufen würde ihn nur noch mehr verzweifeln lassen.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, gab Michael wütend und verzweifelt von sich. Dabei haute er mit seinen Händen auf den Schreibtisch, wodurch die Anwesenden Männer aus ihren Gedanken gerissen wurden. Lediglich Alex, die noch immer aufgrund des starken Beruhigungsmittels schlief und Lisa, welche mittlerweile vor Erschöpfung in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen war, bekamen davon nichts mit. „Da werden am helllichten Tag, an einer belebten Straße DREI Kinder entführt und niemand bekommt etwas mit!“, machte er sich weiter Luft, wobei man ihm die Verzweiflung nur zu deutlich anhören konnte. „Michael jetzt beruhige dich mal wieder.“, versuchte Gerrit auf ihn einzureden. „Ich kann dich ja verstehen…“ „DU KANNST MICH VERSTEHEN!?!“, fuhr er diesen an. Wütend ging er auf seinen Kollegen zu und deutete mit drohendem Zeigefinger auf seine Brust. „Sind es etwa deine Kinder, die in den Händen einer Wahnsinnigen sind?“, sprach er nun bedrohlich leise. „Hat diese Wahnsinnige deiner Tochter schon fast totgeschlagen?“, setzte er noch hinzu, bevor er sich schließlich abwandte und verzweifelt aus dem Fenster starrte. Das Aussprechen dieser Tatsachen hatte ihm zu deutlich vor Augen geführt, wie verzweifelt die Situation war und in welcher Gefahr seine Kinder waren. Verzweifelt kämpfte er darum, die Tränen der Verzweiflung und Angst zurück zu halten. Entsetzt sah ihn Gerrit an. „Woher willst du wissen, dass diese Frau so gefährlich ist?“, fragte dieser nach, ohne über das Gesagt richtig nachzudenken. Er fühlte sich angegriffen von seinem Kollegen, durch die Art wie er mit ihm sprach schon ein wenig erniedrigt. „Momentmal!“, setzte er einen kurzen Moment später nach. „Sagtest du gerade, dass du der Vater der Kinder bist?“
Michael antwortete nicht, gab bloß ein kurzes Nicken von sich. Zu sehr rang er noch darum, seine Fassung wieder zu finden. Vorsichtig legte Branco ihm eine Hand auf die Schulter. „Michael, beruhige dich wieder.“, sprach er beruhigend auf ihn ein. „Das bringt uns auch nicht weiter.“
Eine zweite Hand legte sich plötzlich auf Michaels Schulter. Irritiert, weil diese Hand sich so anders anfühlte, der Druck auf seiner Schulter so anders war, drehte sich Michael vom Fenster in die Richtung von Branco und blickte erstaunt in die Augen von Alex. „Michi.“, sprach sie ihn leise an, um auch wirklich seine Aufmerksamkeit zu haben. „Branco hat Recht. Es bringt nichts, wenn du dich jetzt aufregst.“ Zärtlich streichelte sie ihm über die Wange, bevor sie sich in seine Arme schmiegte. Beide brauchten diese Nähe zueinander, spendeten sich gegenseitig Trost.
Inzwischen war es weit nach Mitternacht. Seit über acht Stunden waren die Kinder nun verschwunden und es gab noch immer keine Hinweise auf ihren Verbleib. Alles was bisher herausgefunden wurde, brachte die Kommissare nicht weiter. „Das bringt alles nichts!“, äußerte sich der Staatsanwalt verzweifelt. „Ich werde jetzt eine Öffentlichkeitsfahndung rausgeben.“ Nicht wirklich begeistert sahen ihn die Kommissare an. Jeder wusste, dass bei einer Öffentlichkeitsfahndung viele Hinweise kamen, die sie unnötig beschäftigen würden, der Erfolg aber nur gering war.
Plötzlich klingelte Gerrit’s Handy. Ohne auf das Display zu sehen nahm er den Anruf entgegen und meldete sich mit seinem Namen. „Gerrit? Du musst mir helfen.“, hörte er ein Mädchen am anderen Ende der Leitung schluchzen. „Wer ist…“, begann er seine Frage, noch während er darüber nachdachte, wer am anderen Ende war. „Tami?“, fragte er unsicher nach, nur um kurz danach das Handy von Michael aus der Hand gerissen zu bekommen.
„Tami? Wie geht es euch?“, sprudelten auch gleich die ersten Fragen heraus. „Papa.“, schluchzte sie leise verzweifelt und ängstlich auf. „Bitte hol uns hier raus.“ Michael hörte ein leises Schniefen. „Weißt du wo ihr seid?“ „In so einer komischen Hütte.“ „Mehr weißt du nicht?“ „Nein.“, schluchzte Tami erneut, die Enttäuschung in ihrer Stimme, weil sie nicht mehr sagen konnte, war deutlich herauszuhören. „Ich konnte nichts sehen, die haben mir die Augen verbunden.“, gab sie schon fast entschuldigend von sich. „He mein Schatz, das ist nicht schlimm.“, sprach er nun beruhigend auf seine Tochter ein. Der kleine Hoffnungsschimmer und die Verzweiflung seiner Tochter sorgten dafür, dass vor allem sein väterlicher Beschützerinstikt geweckt wurde. „Hör mir gut zu. Du wirst jetzt gleich nach unserem Telefonat das Handy auf lautlos stellen und gut verstecken. In Ordnung?“ „Ja.“, bekam er die knappe Antwort seiner Tochter. „Wir werden das Handy orten lassen und dann holen wir euch daraus…“ „Papa!“, sagte Tami leise aber erschrocken. „Ich muss aufhören.“, konnte er gerade noch vernehmen, bevor die Leitung unterbrochen war. Irritiert sah er das Handy an und schüttelte nur den Kopf, bevor er diesen hob in die Augen seiner Freundin sah.
„Was hat sie gesagt? Wie geht es Ihnen?“, sprudelten aus Alex gleich die Fragen heraus, ein Wenig hoffnungsvoll, da es endlich ein Lebenszeichen von den Kindern gab. „Warte!“, unterbrach Michael, auch wenn es ihm schwerfiel. Aber das Plötzliche auflegen und der leise und ängstliche Satz seiner Tochter waren ihm noch zu genau in Erinnerung. Sie mussten schnell handeln, bevor ihnen dieser Zufall vielleicht nicht mehr weiterhelfen konnte. Auch wenn er es nicht gerne zugab, war der Hoffnungsschimmer nur sehr klein.
Noch immer das Handy seines Kollegen in der Hand drückte er eilig ein paar Tasten, nur um kurz darauf den Telefonhörer seines Telefons vom Schreibtisch in die Hand zu nehmen. Schnell hatte er die entsprechende Kurzwahltaste gedrückt und wartete darauf, dass sich am anderen Ende jemand meldete. Die fragenden Gesichter der Anwesenden nahm er zur Kenntnis und gab ihnen mit einem Finger vor den Lippen zu verstehen, dass sie noch etwas ruhig sein sollten. Schnell gab er die Handynummer durch, welche auf dem Display von Gerrits Handy zu lesen war und bat mit Nachdruck darum, so schnell wie möglich dieses zu orten.
Als er dieses Telefonat endlich beendet hatte, wurden die fragenden Blicke, die auf ihn ruhten, noch intensiver. Alex trat auf ihn zu, stand nun direkt vor ihm und sah in seine Augen. „Nun erzähl schon!“, forderte sie ihn eindringlich auf. Die wenigen Worte reichten aus, um ihm zu zeigen, wie wichtig die Neuigkeiten für Alex waren, immerhin war er derjenige gewesen, der mit seiner Tochter gesprochen hatte, sie konnte lediglich seine Antworten hören. „Es geht ihnen soweit gut.“, erklärte er schließlich. Unbehaglich sprach er weiter: „Allerdings konnte sie nichts dazusagen, wo sie sind. Die einzige Spur ist das Handy von Lisa, deswegen wollte ich so schnell wie möglich die Handyortung starten.“ Sichtlich schwer fiel es ihm die Angst und die Sorge aus seiner Stimme zu verbannen, die von ihm Besitz ergriff. Er wurde das Gefühl nicht los, dass nur wenig Zeit blieb die drei zu finden. Die Sorge, dass das Handy zu früh entdeckt wurde, machte sich in ihm breit.
Nach einer schier endlosen Stunde hatten sie endlich das Ergebnis der Handyortung. Branco selbst war in der Technikabteilung gewesen, um etwas Druck zu machen. Eilig wurden die Kollegen ins K11 bestellt, wo ihnen der Zielort des Einsatzes bekannt gegeben wurde, auch der Einsatzleiter des SEK’S war anwesend. „Frau Rietz, Herr Naseband!“, wandte sich der Staatsanwalt nach seinen Ausführungen nun an seine beiden Kommissare. „Ich weiß, dass ich sie nicht davon abhalten kann mitzufahren!“ Er räusperte sich und sprach sehr deutlich und eindringlich. „Sie halten sich bei dem Zugriff zurück und warten bis die Kollegen soweit alles abgesichert haben. Wir wollen doch schließlich kein Risiko eingehen!“ Forschend sah er die beiden an, wartete auf eine entsprechende Zustimmung. Nur wiederwillig nickten beide, auch wenn es ihnen schwer fiel tatenlos daneben stehen zu müssen, sahen sie doch ein, dass der Staatsanwalt Recht hatte. Zu aufgewühlt und nervös waren sie, um professionell arbeiten zu können, wie es in dieser Situation eindeutig nötig war.
Auch wenn nun alles sehr schnell ging, warteten Alex und Michael ungeduldig am Dienstwagen und hofften, möglichst schnell irgendetwas zu erfahren. Nervös tigerte Michael hin und her, während Alex unruhig auf ihren Fingern herum kaute. Die Spannung war einfach unerträglich. Nach einer gefühlten Ewigkeit sahen sie drei Gestalten wiederherauskommen. Durch das schwache Mondlicht konnten sie nur die Umrisse erkennen. Plötzlich löste sich ein Schatten und lief sehr schnell auf die Beiden zu. Intuitiv streckte Michael seine Arme nach vorne, nur um Sekunden später seine Tochter in den Armen zu halten, sie hochzunehmen und ganz fest an sich zudrücken. Er spürte das Zittern ihres Körpers und Tränen, die auf seine Schulter tropften, da Tami ihren Kopf da abgelegt hatte. Zärtlich strich er ihr über die Haare, sprach leise auf sie ein, um sie zu beruhigen und kämpfte damit, seine eigenen der Tränen, Tränen der Erleichterung zurück zu halten. Auch Alex stand mittlerweile bei ihnen, hatte ihre Arme um die Beiden gelegt und streichelte behutsam den Rücken des Mädchens. Allerdings war sie weniger erfolgreich beim zurückhalten der Tränen. Im Mondlicht glitzerten die Tränenspuren verräterisch in ihrem Gesicht. Die Anspannung, Angst und Verzweiflung der letzten Stunden legte sich nun langsam.
Leise räusperte sich Branco, der mit Gerrit inzwischen bei den dreien angekommen war. Jeder hielt eins der Babys auf dem Arm, die relativ ruhig da lagen. Behutsam nahm Alex die Säuglinge entgegen und drückte sie vorsichtig und liebevoll an sich. Apathisch lagen die Babys in ihren Armen, nahmen nur langsam den Geruch ihrer Mutter war. Durch leises wimmern machten sie nun auf sich aufmerksam. Ruckartig hob Tami den Kopf von der Schulter ihres Vaters. „Sie haben Hunger.“, gab sie leise und entschuldigend eine kurze Erklärung ab. Beiläufig nickte Alex kurz, ehe sie sich dem Dienstwagen zuwandte, bei dem noch immer alle Türen offen standen. Kommentarlos gab sie Branco den kleinen Jungen auf den Arm, um sich in den Wagen zu setzen. Schnell hatte sie ihn angelegt und gab nun Branco zu verstehen, dass er ihr ihren Sohn wiedergeben sollte. Entgegen jeder sonst üblichen Angewohnheit stillte sie dieses Mal beide Kinder gleichzeitig. Durch die sehr pralle Brust konnten die Zwillinge ohne große Anstrengung trinken, was den geschwächten Kindern zu Gute kam.
Der inzwischen eingetroffene Notarzt wurde von Branco und Gerrit bereits informiert. „Trinken Sie?“, erkundigte er sich besorgt bei Alex. Die angesprochene schaute auf, brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass ein Notarzt vor ihr stand. Wie in Trance hatte sie bisher gehandelt, einfach nur reagiert. Zu sehr hatten die Ereignisse sie überrumpelt. „Ja, zwar etwas langsamer als sonst, aber sie trinken.“, sagte sie schließlich doch. „Sie sind doch etwas geschwächt.“, fügte sie noch leise hinzu. „Solange sie trinken ist es gut.“, erklärte der Arzt im beruhigenden Tonfall. „Lassen Sie sie trinken, ich werde sie dann anschließend untersuchen.“
Dumpf hallten die Schritte der Männer von den Wänden wieder, in diesem Flur, der zu der Zeit für gewöhnlich sehr still war. Lediglich das Gespräch begleitete die schweren Schritte der Männer, während sie langsam über den langen Flur gingen. „Jetzt erklär' mir doch bitte, warum ich unbedingt meine Mittagspause für dich opfern musste.“ Interessiert musterte der Mann sein Gegenüber im weißen Kittel. Auch wenn die Worte leicht vorwurfsvoll klangen, war er neugierig, warum ihn sein Freund um Hilfe gebeten hatte, das war noch nie passiert, dass er ihn in die Behandlung von seinen Patienten einbezogen hatte. Warum auch? Er war ein niedergelassener Psychologe und die Klinik hatte einen eigenen Klinikpsychologen. „Aber der Fall ist doch etwas ungewöhnlich und du hattest mir mal erzählt, dass du ein Kind hast, welches schon einmal entführt wurde, von daher dachte ich, dass du hier hilfreicher sein kannst.“ Er war stehengeblieben während er sprach, da er dieses Gespräch noch zu Ende bringen wollte, bevor sie das Zimmer betraten, vor dem sie schon fast angekommen waren. „Das ist richtig, also handelt es sich um ein entführtes Kind?“ Nun sprach er mit etwas Nachdruck, seine Neugierde war einfach zu groß und er wollte endlich wissen, was hinter dieser Bitte stand. „Ja, wir haben heute Nacht drei Notfälle rein bekommen, drei entführte Kinder...“ „Drei?!?“ Entsetzt sah er ihn nun an. „Leider. Es sind alles drei Geschwister, wobei zwei noch Babys sind, von daher brauche ich da wohl keine Hilfe von einem Psychologen.“ Traurig antwortete er und es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihn die Geschehnisse mitnahmen. „Die arme Familie. ... Aber warum brauchst du mich jetzt für das andere Kind?“ Ahnungslos blickte er ihn nun an, so ganz verstand er immer noch nicht, was er hier sollte. Mit einem kurzen Besuch in der Mittagspause konnte er nicht viel erzielen und das wusste sein Gegenüber auch. Er hatte einfach keine Ahnung, was er hier machen könnte. „Ich weiß, dass du sie in der kurzen Zeit nicht therapieren kannst, aber vielleicht kommst du an sie heran.“ So hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Als Arzt wusste er, wie er am Besten vorgehen sollte, aber hier konnte er sich nicht einfach so über den Willen des Kindes hinwegsetzen, das war ihm klar. „Der Notarzt konnte ihr noch eine Infusion legen, da sie doch sehr dehydriert war, aber gegen jede andere Behandlung oder gar Untersuchung hat sie sich bisher gesträubt, und … nachdem was passiert ist, wollten sie wir nicht dazu zwingen.“ „Aber warum habt ihr sie nicht sediert? Im Schlaf hätte sie von einer Untersuchung nicht viel mitbekommen.“ „Sieh dir das Mädchen selber an und ich denke, du wirst mir zustimmen, dass es nicht gut gewesen wäre, sich mit einem Schlafmittel einfach über ihren Willen hinwegzusetzen.“
Erstaunt sahen Alex und Tamara auf die sich öffnende Tür. Die Visite war bereits am frühen Morgen gewesen und die Schwester war vor einer halben Stunde erst aus dem Zimmer gegangen. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, wer jetzt kommen sollte. Aber als sie nun sahen, wer das Zimmer betrat, in dem sie seit den frühen Morgenstunden waren, war die Verwirrung und Verwunderung groß. „Hallo Doc!“ Tami war zwar überrascht, aber irgendwie freute sie sich auch über den ungewöhnlichen Besucher. „Hallo Tami.“, erwiderte er nur kurz, bevor er sich seinem Freund zu wand. „Meintest du Tamara mit dem Mädchen?“ Ein leichtes Entsetzen war aus seiner Frage heraus zu hören. Er sah das bestätigende Nicken, auch wenn er sehen konnte, dass der Klinikarzt immer noch verwirrt war, dass er Tamara kannte. „Das ändert vieles.“ Er wandte sich wieder dem Mädchen zu, setzte sich auf die Kante des Bettes und sah sie an, musterte sie besorgt. Deutlich nahm er die Schrammen im Gesicht wahr, ließ seinen Blick weiter hinunter gleiten, bemerkte die Infusionsnadel in der linken Hand und die deutliche Schwellung auf dem rechten Unterarm. „Warum lässt du dich nicht untersuchen?“ Auch wenn die Frage leicht vorwurfsvoll klang, so war die Besorgnis auch deutlich herauszuhören. „Mir geht es gut!“ Trotzig wollte Tamara die Arme vor der Brust verschränken, zuckte aber sogleich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Nun lagen die besorgten Blicke aller anwesenden Erwachsenen auf ihr. Wie ein trotziges kleines Kind verzog sie das Gesicht und zeigte deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte. Alex und Michael, sowie dem Psychologen war klar, dass es nicht leicht werden würde, sie dazu zubringen, dass sie sich freiwillig untersuchen ließ. Aber sich über ihren Willen hinwegzusetzen, würde es nur noch verschlimmern, da sie es im Nachhinein dann doch herausbekäme und dementsprechend enttäuscht sein würde. „Was hältst du davon: Wir lassen jetzt die Infusion abmachen und gehen in die Cafeteria eine Cola trinken.“ Ihm wahr klar, dass Tamara aus irgendeinem Grund nicht weiter reden würde und hoffte, wenn er einige Minuten mit ihr alleine wäre, etwas darüber zu erfahren, warum sie sich so weigerte sich untersuchen zu lassen. Es war offensichtlich, dass sie deutliche Schmerzen hatte.
Mit schnellen Handgriffen hatte der Arzt den Schlauch entfernt und ein Pflaster über die verbliebene Nadel geklebt. Langsam richtete sich Tami auf, unsicher betrachtete sie die beiden Ärzte, bevor ihr Blick zu ihren Eltern ging. Sie hatte das Bedürfnis mit dem Psychologen, der ihr schon so oft geholfen hatte, durch die gemeinsamen Gespräche, alleine zu reden. Aber was würden ihre Eltern dazu sagen? Bisher hatte sie mit ihnen über die Geschehnisse noch nicht geredet, konnte es einfach nicht, weil ihre Schuldgefühle zu groß waren, aber auch die Angst, Angst, dass ihre Eltern von ihr enttäuscht wären. Unsicher musterte sie die Gesichter von Alex und Michael. Zu ihrer eigenen Verwunderung vernahm sie ein zustimmendes Nicken von beiden. Immerhin kannten sie den Psychologen gut und wussten, dass er es schon oft geschafft hatte, Tami soweit zu bringen, dass sie über Probleme oder Ängste reden konnte. Für beide war es ein glücklicher Zufall, dass der behandelnde Arzt gerade den Psychologen ausgewählt hatte. Noch in den frühen Morgenstunden hatte er die Zustimmung von ihnen eingeholt, dass er einen Kollegen hinzu ziehen dürfte. Auch sie fühlten sich hilflos, hatten es einfach nicht geschafft, ihre Tochter davon zu überzeugen, dass eine Untersuchung doch besser wäre und die Schmerzen auch schneller nachlassen würden.
Sie hatten an einem Tisch im hinteren Bereich Platz genommen, so dass sie etwas Ruhe hatten. Tamara hatte ihren verletzten Arm auf den Tisch gelegt und kühlte nun mit der Colaflasche, die sie extra aus dem Kühlregal genommen hatte, ihren Arm. Ihr Blick war nach unten gerichtet, sie wusste einfach nicht, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollte. „Warum lässt du deinen Arm nicht wenigstens behandeln?“ Auch er wusste nicht so ganz, wie er anfangen sollte. So hilflos hatte er sich in seiner beruflichen Laufbahn noch nie gefühlt. Dieses Mädchen und die Familie hatte schon so viel durchgemacht und nun noch das. Er bemerkte, wie sie die Schultern kurz hob, um ihre Ahnungslosigkeit auszudrücken, aber in ihrem Gesicht konnte er deutlich sehen, dass sie durchaus wusste, warum sie so handelte. Ein Gedanke machte sich in ihm breit und nach allem was er von ihr wusste, hatte er so langsam eine Ahnung, was vielleicht der Grund dafür sein könnte. „Meinst du nicht, dass deine Eltern damit umgehen können?“ Geschockt sah sie auf, richtete zum ersten Mal, seit dem sie das Zimmer verlassen hatten, den Blick wieder auf den Arzt, der zu einem guten Freund für sie geworden war. „Deine Verletzungen sind nicht zu übersehen, zumindest teilweise. Sie sind deine Eltern und wollen dir nur helfen, aber am besten können sie das, wenn sie wissen, was passiert ist. Und Tamara...“ Er unterbrach seine Ausführungen kurz, sah ihr tief in die Augen, wollte einfach sehen, ob das, was er sagte bei ihr ankam. „... sie können es verkraften, wissen aufgrund ihrer Ausbildung, wie sie mit so etwas umgehen.“ Ihm war klar, dass Tamara ihre Eltern schützen wollte, indem sie nicht erzählte, was genau passiert war. Und eine Untersuchung würde zeigen, dass es nicht nur eine Entführung war, sondern auch noch etwas anderes passiert war. So ohne weiteres brach man sich keinen Arm. Aber er konnte deutlich spüren, dass sie noch etwas anderes belastete. Sie hatte ihren Blick sehr schnell wieder abgewandt, die Verzweiflung, die von ihr ausging war regelrecht greifbar. Und auch das leichte Glitzern in den Augen hatte er noch sehen können, bevor sie den Kopf weggedreht hatte. „Aber ich bin schuld! Ich habe sie enttäuscht, dass werden sie mir nie verzeihen können!“ Die Schuldgefühle waren deutlich herauszuhören und das nicht nur, weil sie relativ laut sprach. Sie schluchzte kurz auf, bevor sie nun deutlich leiser weiter sprach. „Durch meinen Fehler habe ich die Zwillinge in Gefahr gebracht und nun muss ich dafür büßen, dass ist nur fair. Dann werden sie mich vielleicht noch ein wenig mögen.“ Geschockt sah er sie an, so als ob er sicher gehen wollte, dass sie das wirklich gesagt hatte. Sie saß da wie ein Täter, der gerade eine schwere Straftat gestanden hatte und wenn er ehrlich wahr, so hatten ihre Worte etwas ähnliches ausgedrückt. Entsetzt schüttelte er den Kopf. Vorsichtig legte er seine Finger unter ihr Kinn und mit leichtem Druck nach oben zeigte er ihr, dass er ihr ins Gesicht sehen wollte. Nur widerwillig leistete sie seiner stummen Bitte folge. „Du bist nicht schuld!“ Langsam und eindringlich sagte er das. „Deine Eltern sind nicht enttäuscht von dir und wollen schon gar nicht, dass du dich selbst bestrafst.“ „Aber ich hatte heimlich wieder Kontakt zu Patrick aufgenommen, hatte ihnen einfach nichts gesagt und dadurch konnte SIE mich doch nur finden.“ „Wirklich? Hattest du ihr gesagt, wann du dich wo aufhältst? Hast du Patrick wirklich eure Adresse gegeben? ... Tamara ich kenne dich und weiß, dass du ihm niemals eure Adresse gegeben hättest. Du hast nichts Falsches gemacht und deine Eltern werden es genauso sehen.“ Vielleicht schaffte er es sie nun noch mehr aus der Reserve zu locken, immerhin war das Gespräch doch leichter aufgekommen, als er am Anfang vermutet hatte. „Ich habe Angst.“ Ihre Stimme zitterte leicht und immer wieder konnte man ein leichtes Schniefen vernehmen, welches ziemlich deutlich zeigte, wie sehr sie das ganze Geschehen belastete. Aber auch ihre Angst, Angst verstoßen zu werden, nicht mehr geliebt zu werden und wieder alleine da zustehen, wie sie es schon so oft erlebt hatte. „Was hältst du davon, du lässt dich jetzt untersuchen und ich werde in der Zwischenzeit mit deinen Eltern reden.“ Aufmunternd nahm er sie vorsichtig in den Arm, dabei darauf bedacht, ihr bloß nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, als sie auch so schon hatte. Aber er wollte ihr einfach zeigen, dass er hinter ihr stand und vor allem keine Schuld bei ihr sah. Ein wenig ließ sie sich von dieser Geste trösten.
Unsicher fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, wodurch er eine abstehende Strähne hinterließ. Er hatte Tamara versprochen das Gespräch mit ihren Eltern zu führen und nun saß er ihnen gegenüber an einem kleinen Tisch in dem Zimmer, wo die ganze Familie schon die letzten Stunden untergebracht war. Auf dem Rückweg hatte er noch schnell mit seiner Frau telefoniert, sie gebeten seine Termine für den Nachmittag abzusagen, da er annahm, dass er wohl länger brauchen würde.
Jetzt saß er hier und wusste nicht so recht, wie er anfangen sollte. Die fragenden Blicke, die auf ihm lagen, bemerkte er auch ohne aufzuschauen. Die bedrückende Stille wurde lediglich durch das Brabbeln der Babys, die gerade wach waren, unterbrochen. Neugierig betrachtete er die Säuglinge, die zufrieden in den Armen der Eltern lagen und ganz fasziniert mit ihren kleinen Händchen spielten.
„Den Beiden scheint es ja richtig gut zu gehen“, stellte er erleichtert fest, nachdem er sie einen Moment beobachtet hatte. Er war froh, endlich etwas gesagt zu haben, diese unangenehme Stille beendet zu haben, die herrschte, seit dem er mit Tamara zurück gekommen war und seinem Freund erzählt hatte, dass sie nun bereit wäre sich untersuchen zu lassen. Schnell hatte dieser mit seiner jungen Patientin das Zimmer verlassen und ihn mit dem Rest der Familie alleine gelassen. Auch ohne das bisher etwas gesagt wurde, wusste er, dass die Eltern hofften, von ihm etwas zu erfahren. Aber er fühlte sich einfach etwas unbeholfen, wollte das Leid der Familie nicht noch erhöhen.
„Ja, so wie es aussieht, haben sie es relativ unbeschadet überstanden, waren lediglich etwas schwach, weil einige Mahlzeiten ausgefallen sind. Aber zumindest hat ihnen jemand etwas zu trinken gegeben.“ Es war Alex nur zu deutlich anzuhören, wie erleichtert sie war, dass es den Kleinen so gut ging und sie sich so schnell wieder erholt hatten.
„Aber es ist erstaunlich, dass die Beiden keinen Kratzer haben und Tami so aussieht.“ Die Sorge um Tamara hörte man bei Michael sehr deutlich heraus. Stundenlang hatte er neben dem Bett seiner Tochter gesessen und ihre Hand gehalten, an die sich panisch geklammert hatte. Hatte sie die erste Zeit keine Sekunde aus den Augen gelassen, da er selber Angst hatte, sie könnte im nächsten Augenblick wieder weg sein. „Wie haben Sie es geschafft Tami davon zu überzeugen, dass sie sich nun doch untersuchen lässt?“ Neugierig musterte Michael den Mann, hätte am liebsten noch viel mehr Fragen gestellt, aber er hoffte, dass diese Frage ausreichte, um endlich das Gespräch zu beginnen.
„Wir haben eine Art Deal gemacht...“ „Deal?“ Irritiert sah Alex ihn an. Sie verstand nicht so ganz, was der Psychologe damit sagen wollte. „Ja Deal. … Haben Sie versucht Tamara auf die Geschehnisse anzusprechen?“ Fragend musterte er Alex und Michael, bemerkte das resignierte Kopfschütteln. „Wir haben versucht sie zu überzeugen, dass sie sich untersuchen lässt, … haben es schon mit irgendwelchen Angeboten versucht, aber sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewährt.“ Deutlich war zu hören, wie frustriert und enttäuscht Michael war, dass er es nicht geschafft hatte, an seine Tochter heranzukommen. „Wir wussten einfach nicht mehr weiter.“ Der traurige Unterton in Alex Stimme offenbarte nun die Hilflosigkeit, die sie in den letzten Stunden gespürt haben mussten. Durch die vielen Gespräche, die er auch schon mit ihnen hatte, wusste er, wie sehr die beiden ihre Kinder liebten und wie sehr sie sich bemühten, dass Tamara endlich das Zuhause hatte, was sie sich immer gewünscht und auch verdient hatte. „Wenn sie bei so etwas harmlosen schon abblockt, wie sollen wir dann erst mit ihr darüber reden, was passiert ist?“ Verzweifelt sah ihm Alex in die Augen und die Traurigkeit war deutlich aus diesen herauszulesen. Die Sonnenstrahlen fielen nun durch das Fenster und zeigten so ganz deutlich, die kleine wässrige Spur, die sich rechts von der Nase hinab schlängelte. Still reichte Michael ihr ein Taschentuch, mit diesem sie auch gleich die verräterischen Spuren in ihrem Gesicht beseitigte. Auch wenn es nur stumme Tränen waren, wurde die Verzweiflung der Eltern sehr deutlich. Aber nicht unbedingt die Verzweiflung über das Passierte, sondern über das distanzierte Verhalten der Tochter. Er merkte, wie gerade dieses Schweigen von Tamara noch belastender war, als die Geschehnisse selbst. „Sie kennen doch Tami gut genug und wissen, wie schnell sie abblockt, wenn sie über etwas nicht reden will. Und das sie nicht darüber reden will, hat sie sehr deutlich gezeigt. Wir haben einfach keine Ahnung, wie wir an sie heran kommen sollen. … Wie haben Sie es geschafft?“ Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeichnete sich in Michaels Augen ab. Er hoffte einfach, dass der Psychologe ihnen auch diesmal helfen konnte.
„Ich hatte eine Ahnung, was vielleicht sein könnte und habe dabei scheinbar den Nagel auf den Kopf getroffen.“ Er begann zögerlich zu erzählen, überlegte schon, wie er das nun folgende am besten ausdrückte, ohne jemanden zu verletzen. „Bitte lassen Sie mich ausreden, es ist nicht so einfach zu erklären.“ Bittend sah er sich um und suchte die Zustimmung in den Gesichtern, erst als er diese vernommen hatte, räusperte er sich, bevor er schließlich weiter redete. „Tamara hat Angst mit Ihnen darüber zu reden. Angst vor Ihrer Reaktion darauf.“ Deutlich nahm er war, wie die zuvor hoffnungsvollen Blicke zu entsetzt und schockiert wechselten. Alex und Michael wollten sich beide dazu äußern. Schnell hob er die Hand, wie eine Art Stoppzeichen, wollte sie daran hindern jetzt etwas zu sagen. „Bitte, verstehen Sie es nicht falsch, ich werde versuchen es zu erklären.“ Erneut räusperte er sich kurz. „Sie wissen, dass Tamara wieder Kontakt zu Patrick hatte?“ Verwirrt sah Alex ihn an. Ihr war diese Tatsache neu, als Lisa es erzählt hatte, war sie noch bewusstlos und bisher hatten Michael und sie keine Zeit gehabt, sich über alles zu unterhalten, zu sehr hatte die Sorge um die Kinder sie in den letzten Stunden gefangen genommen. Ihr Blick wanderte zu Michael, der zu ihrer Verwunderung nickte. Unfähig darauf zu reagieren, richtete sie nun den Blick wieder auf den Psychologen, wollte einfach, dass er weitersprach. „Sie gibt sich die Schuld an dem, was passiert ist. Und nach allem, was sie bisher erlebt hat, ist sie nun der Meinung, dass Sie von ihr enttäuscht sind. Tamara denkt, dass sie durch ihr Verhalten die Zwillinge in Gefahr gebracht hat.“ Er musste eine kurze Pause einlegen, zu sehr betrübte ihn die Verzweiflung des Mädchens. Musste sich selber erst wieder etwas beruhigen, zu sehr war ihm dieses Mädchen im letzten halben Jahr ans Herz gewachsen. Sie war nicht mehr nur eine einfache Patientin. „Sie hat Angst, dass Sie nun so enttäuscht von ihr sind, dass sie wieder alleine ist, im Stich gelassen wird. … Die Weigerung sich untersuchen zu lassen ist eine Art Strafe, die sich selber auferlegt hat. Tami ist der Meinung, wenn sie die Schmerzen erträgt, ist das eine Art kleine Wiedergutmachung. Ihre Schuldgefühle und die Scham sind so groß, dass sie keine Ahnung hat, was sie nun machen soll. …“ Leise schluchzte Alex auf, konnte es einfach nicht mehr unterdrücken, die Tränen hatten sich schon lange ihre Wege gebahnt. Der Kummer war einfach so groß, dass sie es nicht mehr verhindern konnte. Der Kummer darüber, dass das Vertrauen von Tamara so gering war oder besser gesagt, die seelischen Verletzungen, die sie bisher erlebt hatte so tief waren. Dabei hatten sie so gehofft, dass Tami es langsam verarbeiten würde. Michael hingegen starrte aus dem Fenster, wollte sich von den Tränen seiner Freundin nicht anstecken lassen und streichelte beiläufig immer wieder zärtlich über das Köpfchen seiner kleinen Tochter, die ruhig in seinem Arm lag.
„...Sie hat Angst ihr Zuhause und ihre Familie zu verlieren, die Familie, die ihr endlich eine Geborgenheit gegeben hat, die sie bisher noch nie erlebt hat. Aus diesem Grund würde sie alles auf sich nehmen, aber weil ihre Schuldgefühle so groß sind, findet sie keinen Ausweg.“
Selbst die Babys waren erstaunlich ruhig geworden, sahen mit großen Augen zu ihren Eltern auf. Nur das gelegentliche leise Schluchzen von Alex war zu hören. Von draußen waren Stimmen zu hören, die näher kamen und sich auch wieder entfernten.
„Warum nur hat sie so wenig Vertrauen zu uns?“ Auch wenn Alex leise redete, hallten ihre Worte verhältnismäßig laut wieder. „Auch wenn es sich blöd anhört, aber ich glaube, das Ganze könnte auch etwas Gutes haben.“ Verwirrt richteten Alex und Michael den Blick auf den Psychologen, was sollte daran denn gut sein? „Ich weiß, dass Sie ihre Tochter über alles lieben und Ihre Reaktion auf Tamis Ängste hat mir gezeigt, dass es vollkommen absurd ist, dass Sie sich so verhalten würden, wie sie es erwartet.“ Die Zustimmung zu seinen Worten sah er in den immer noch verwirrten Gesichtern. „In dem Sie ihr jetzt zeigen, dass ihre Ängste unbegründet sind, können Sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen, was so vielleicht erst viel später möglich gewesen wäre und außerdem schafft sie es durch das, was passiert ist, endlich eine Art Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen.“ Langsam kam wieder etwas Hoffnung auf, Hoffnung, die Situation meistern zu können. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, die sich seit Beginn dieses unangenehmen Gespräches ausgebreitet hatte, begann sich langsam wieder etwas abzubauen. Sie fühlten sich nicht mehr ganz so überfordert mit der Situation, hatten zum ersten Mal das Gefühl, seit dem die Kinder wieder bei Ihnen waren, dass sie richtig gehandelt hatten, vor allem Tamara gegenüber.
„Tamara hatte immer noch eine sehr starke Bindung zu ihrer Vergangenheit. Nur die Distanz hat dafür gesorgt, dass sie bisher so unbekümmert war. Aber im tiefsten Herzen hat sie immer noch etwas dahin gezogen. Nicht das sie wieder zurück wollte, aber sie war auch nicht richtig weg. Ein Teil von ihr, war noch immer in dieser Vergangenheit, beschäftigte sich mit der Frage, warum sie dort so ungeliebt war.“
Unsicher sahen sich Alex und Michael an. Sie wussten, dass die Vergangenheit noch immer ein Teil von Tami war, aber dass sie sich noch so sehr damit beschäftigte, überraschte sie doch.
„Durch diesen Verletzung – und dabei meine ich nicht die körperlichen – ist in ihr etwas zerbrochen und gerade das macht die Angst bei ihr so groß. Jetzt ist in ihrem Herzen das angekommen, was sie vom Verstand her schon länger wusste. Diese Familie, war nie ihre Familie, und wird es auch nie werden. … Aber genau dadurch ist die Angst so groß, dass sie enttäuscht sein könnten. Tamara fürchtet sich davor, dass sie allein gelassen wird.“
„Und wie sollen wir uns nun am Besten ihr gegenüber verhalten?“ Unsicher und etwas hilflos blickte Michael auf. Er wollte einfach nichts falsches machen, die Angst und Unsicherheit seiner Tochter noch verstärken.
„Das Wichtigste ist erst einmal, dass Sie selber akzeptieren müssen, dass die Vergangenheit immer ein Teil von Tamara und auch von Ihnen sein wird. ... Auch wenn sie eine Art Schlussstrich gezogen hat, kann es immer wieder vorkommen, dass ihr Handeln durch die Erlebnisse beeinflusst wird. Es wird leider niemals vorbei sein. Und dann machen Sie so weiter wie bisher. Zeigen Sie Tami, dass Sie sie lieben und immer für sie da sind, sie nicht im Stich lassen oder enttäuscht von ihr sind.“
Wie aus dem Nichts werde ich plötzlich nach hinten gezogen. Ein Arm hat sich um meine Hüfte gelegt, die Hand ist vorne auf meinem Bauch. Ohne, dass ich etwas tun kann, werde ich vom Kinderwagen weggezogen und in ein Auto gestoßen. Im selben Moment sehe ich SIE, spüre die Angst, eine böse Vorahnung macht sich in mir breit, dass etwas schreckliches passieren wird. In dem Moment greift sie auch schon in den Kinderwagen, zerrt lieblos, ohne jegliche Vorsicht Nico und Nici raus. Ich höre, wie sie lautstark protestieren, weil sie so unsaft aus dem Schlaf gerissen werden. Das alles passiert so schnell, dass ich gar nicht reagieren kann, bin einfach unfähig zu handeln.
Auf einmal wird alles schwarz, ein ekelhafter Geruch nach Mottenkugeln und muffeliger Wäsche breitet sich in meiner Nase aus, als mir das Tuch über die Augen und die Nase gelegt wird. Mir wird schlecht und reflexartig will ich nach dem Tuch greifen, es wegziehen, aber ich bin zu langsam, denn im nächsten Moment greift jemand meinen Handgelenk, zieht es ruckartig nach hinten und bindet sie zusammen. Scheiße! Tut das weh. Ein stechender Schmerz breitet sich in meiner Schulter aus, weil meine Arme einfach so nach hinten gedreht wurden. Mir kommen die Tränen, als der Schmerz immer stärker wird und höre plötzlich, dass einer der Zwillinge laut schreit. Scheinbar ist eines der Babys direkt neben mir, aber wo ist das andere Baby?
Meine Angst vor dem was passiert ist groß, sehr groß, aber im Moment ist die Angst und die Sorge um meine Geschwister noch größer. Ich will sehen was passiert, möchte sie trösten und beschützen. Aber ich kann mich einfach nicht bewegen. Auf einmal werde ich nach hinten in den Sitz gedrückt, das Auto ist scheinbar sehr schnell und ruckartig angefahren.
Was wollen die nur von uns? Mareike hatte ich schon gesehen, aber wer ist die andere Person? Ich fühle mich so hilflos, möchte wissen, was weiter passiert. Mein Mund ist schon offen, die Frage brennt mir auf den Lippen, aber im letzten Moment halte ich inne. Die Angst, Mareike durch die Fragerei zu reizen, ist einfach zu groß. Immerhin kann ich nichts sehen, bekomme nicht mit, was um mich herum passiert, wo Mareike sitzt.
Das Babygeschrei ist verstummt. Warum? Was ist passiert? Meine Unruhe wird immer größer, verzweifelt überlege ich, was ich tun kann.
Wie lange wir gefahren sind, als das Auto endlich anhält, weiß ich nicht. Einerseits habe ich das Gefühl, wir wären ewig gefahren. Dieser ekelhafte Geruch in meiner Nase ruft noch immer einen starken Würgereiz hervor. Die Dunkelheit und die Hilflosigkeit haben die Zeit wie eine Ewigkeit wirken lassen. Aber auf der anderen Seite verging die Zeit so schnell, nichts ist mir eingefallen, was ich tun könnte, absolut gar nichts!
Die Autotür wird geöffnet und direkt werde ich ruckartig am Oberarm nach oben gezogen. Mit aller Macht kommt der Schmerz in meiner Schulter wieder, der etwas nachgelassen hatte. Es ist so unerträglich. Wieder kommen die Tränen, die ich nicht mehr zurückhalten kann. Meine Knie werden weich, merke wie sie nachgeben und eine neue Schwärze vor meinem Augen auftaucht. Plötzlich hebt mich jemand hoch, trägt mich und im Hintergrund bekomme ich mit, dass es eine Treppe runtergeht, kämpfe nur noch gegen die aufkommende Ohnmacht an.
Auf einmal spüre ich wieder Boden unter meinen Füßen, nur um kurz darauf heftig nach vorne gestoßen zu werden. Meine Hände noch immer auf dem Rücken zusammen gebunden, das Tuch auf meinen Augen, versuche ich das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Vergebens! Ich stolpere kurz vorwärts, bevor ich hart auf den Boden falle. Falle auf die rechte Seite, spüre meinen Ellenbogen an meinem Bauch, genau in dem Moment, als es laut knackt und nur kurz darauf wird der Sturz von meinem Gesicht gebremst. Nur kurz kratzt die Haut meines Gesichtes über den kalten Steinboden.
Lautes Babygeschrei! Ich bin verwirrt, weiß nicht wo ich bin. Langsam versuche ich meine Augen zu öffnen, sehe einen kahlen Raum, eine Flasche Wasser. Ich setze mich schwerfällig auf, um mehr von der im Dämmerlicht liegenden Umgebung erhaschen zu können und entdecke eine Matratze. Nico und Nici liegen darauf, schreien beide aus Leibeskräften.
Während ich mich erhebe, damit ich zu ihnen gehen kann, fällt mir wieder alles ein und auch der Schmerz kommt mit voller Wucht wieder. Ich schreie auf vor Schmerzen und spüre das Brennen in meinen Augen, als die Sicht verschwimmt. Mit dem Ärmel des linken Armes wische ich trotzig die Tränen weg und gehe rüber zu den Zwillingen.
Nico hat lauter rote Flecken an seiner kleinen Hand. Vor lauter Hunger muss er wie ein Wahnsinniger daran gesaugt haben. Mama hat mir gesagt, dass Babys das manchmal machen, wenn sie großen Hunger haben. War ich ohnmächtig? Wie viel Zeit fehlt mir denn? So wie die Beiden aussehen, scheinbar einige Stunden.
Was jetzt? Verzweifelt sehe ich mich um, entdecke die Wasserflasche, nichts anderes. Meine Schulter schmerzt bei jeder Bewegung, als ich versuche meinen rechten Arm zu heben. Als ich an den Verschluss fassen will, kann ich mit der rechten Hand nicht zu packen. Ich kämpfe gegen den Schmerz an, beiße die Zähne zusammen, aber trotzdem geht es nicht. Ich bekomme sie nicht auf!
Schwerfällig lasse ich mich auf den Boden plumpsen, klemme die Flasche zwischen meine Oberschenkel und öffne sie mit der linken Hand. Den Deckel lege ich vor mich auf den Boden und gieße etwas von dem Wasser rein. Vorsichtig ziehe ich an Nico's Beinchen, um ihn näher zu mir zu holen, damit ich ihn besser hochnehmen kann. Ich setze mich in den Schneidersitz und lege Nico in die Kule zwischen meinen Beinen, so dass sein Köpfchen auf meinem Knie liegt, etwas höher als der Rest seines Körpers. Wie einen Minibecher benutze ich den Deckel der Wasserflasche, um ihm etwas zu trinken zu geben.
Das reicht nicht! Dauernd gebe ich den Zwillingen schon das Wasser immer abwechselnd, aber sie werden einfach nicht ruhiger. Ich merke, dass ich am liebsten auch etwas trinken würde, mein Magen rebelliert schon. Aber die Flasche Wasser ist zu kostbar, es ist nichts anderes da. Wahrscheinlich ist es jetzt Nacht, den Beiden fehlen mindestens zwei Mahlzeiten und das Wasser reicht einfach nicht aus. Sie brauchen endlich ihre Milch, aber wie? Mama ist nicht da und kann sie nicht stillen!
Quietschend öffnet sich die Tür, das Licht blendet mich und ich kann nicht sehen wer reinkommt. „Bring die verdammten Bälger endlich zur Ruhe, sonst mache ich es!“ Gut, dass ich sie jetzt nicht sehen kann. Die Stimme reicht schon aus, mir eine Gänsehaut zu verursachen. Ich erschrecke, als plötzlich etwas gegen meinen Kopf fliegt. Erstaunlicher Weise ist es weniger schmerzhaft, als ich vermutet hatte. Im nächsten Moment sehe ich eine Plätzchentüte vor mir liegen. Die Tür wird von außen schon wieder verschlossen und ich mustere kritisch das Paket vor mir. Soll ich oder soll ich nicht?
Sorgfältig betrachte ich das Plätzchen in meiner Hand, taste es zusätzlich mit den Fingern ab, da ich in diesem Dämmerlicht nicht viel sehe. Ich kann keine gröberen Körner daran entdecken. Ich nehme es in den Mund, beherrsche mich, dass ich es nicht einfach herunter schlinge, wichtig sind im Moment nur die Babys und so lutsche ich es, muss einfach sicher gehen, dass den Zwillingen nichts passiert, sie sind doch noch so klein und nur meinetwegen in dieser beschissenen Situation. Hoffentlich verzeihen sie mir das irgendwann einmal. Verdammt! Das ist alles nur meine Schuld!
Ich versuche mich wieder auf das Wichtige zu konzentrieren. Das Plätzchen lässt sich gut lutschen, ohne dass es gleich zerbröckelt. Also gebe ich jedem eins in den Mund, nachdem ich sie beide zwischen meinen Beinen platziert habe, damit sie etwas aufgerichtet sind. So verschlucken sie sich vielleicht nicht so schnell. Ungeduldig saugen sie darauf rum und nur nach kurzer Zeit werden sie tatsächlich ruhiger.
Nur eins hatte ich jedem gegeben, habe keine Ahnung, ob es überhaupt gut ist, wenn Säuglinge Plätzchen bekommen. Aber sie hatten so großen Hunger, dass ich es einfach getan habe. Eigentlich ist es doch egal. Ich habe schon so viel falsch gemacht, da kommt es darauf auch nicht mehr an. Wenn Mama und Papa das erfahren, werden sie bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Nico und Nici sind ruhig, ob es an dem Plätzchen lag, oder ob sie einfach so erschöpft sind, dass sie nicht mehr können? Ich weiß es nicht.
Wie lange sind wir wohl schon hier? Es ist schon wieder einige Zeit vergangen, als ich die Tüte bekommen habe. Ich vermute, dass es ungefähr Mitternacht ist. In meinem Kopf herrscht das absolute Chaos, langsam macht sich bemerkbar, dass ich seit heute Mittag weder gegessen, noch getrunken habe, aber ich muss den Rest Wasser für die Kleinen aufheben. Mit meiner linken Hand versuche ich in meine rechte Jackentasche zu fassen, wo immer mein Schlüsselbund ist. Ich will mich etwas ablenken, um nicht als an das Trinken zu denken und suche deshalb meinen Glücksbringer, der an dem Schlüsselbund befestigt ist. Den haben mir Mama und Papa zu Weihnachten geschenkt. Beim Gedanken an meine Eltern werde ich traurig, sie werden bestimmt unheimlich enttäuscht von mir sein.
Was ist das? Es fühlt sich hart an, ich taste es weiter ab und entdecke, dass es ein rechteckiger Gegenstand ist, drehe ihn in meiner Hand und spüre Tasten. Lisas Handy! Stimmt ja, ich hatte es eingesteckt. Schnell hole ich es raus und gehe das Telefonbuch durch. Gerrit Grass ist der erste Name, der mir etwas sagt und ich wähle die Nummer.
Papa ist am Telefon, mit ihm zu sprechen tut so gut und ich bin mir jetzt sicher, dass sie uns hier raus holen werden. Er hört sich auch so an, als wenn er gar nicht sauer auf mich ist. Ich möchte ihm noch erzählen, dass sie sich beeilen sollen, aber da höre ich Schritte, flüstere noch schnell: „Ich muss auflegen!“ und suche dann hektisch nach der Funktion, um das Handy lautlos zu stellen. Gerade als sich die Tür öffnet, stecke ich das Handy in meine Hose, vorne am Bund. In der Hosentasche würde es noch mehr auffallen und ich hoffe, dass so mein Pulli die verdächtige Wölbung versteckt, vor allem, wenn ich vielleicht aufstehen muss. Keine Sekunde zu früh ist es in meiner Hose verschwunden, denn auf einmal steht ein Mann vor mir. Drohend sieht er mich von oben herab an, mustert kritisch Nico und Nici, die eigenartig ruhig in meinem Schoß liegen. Ängstlich sehe ich ihn an und hoffe, dass er nichts von dem Telefonat mitbekommen hat.
Er sieht nicht so aus, als ob er etwas davon weiß, aber sein Blick. Ich bekomme eine Gänsehaut und Angst macht sich in mir breit, er sieht mich so eigenartig an. Ich kann diesen Blick nicht deuten, aber eine innere Stimme sagt mir, dass es nicht gut ist und ich bekomme Angst. So schnell, wie er die Beiden aus meinem Schoß genommen und zur Seite gelegt hat, kann ich gar nicht reagieren, vor allem nicht mit einer Hand. Verzweifelt kreisen meine Gedanken darum, wer er ist, was er mit mir vorhat und was ich jetzt machen soll. Das Chaos in meinem Kopf will sich einfach nicht legen, da spüre ich auf einmal seine widerliche Hand an mir, wie sie an meine Brust packt. Automatisch hebe ich mein Bein, der einzige Gedanke der mir kommt, ich muss ihn aufhalten, bevor er das Handy entdeckt. Mit aller Kraft ramme ich ihm das Knie an die Stelle, wo es richtig weh tut. Papa hat mir gesagt, dass ich damit einem Mann richtig weh tun kann und wenn es nicht anders geht, soll ich es machen.
“Aua!“ Das Wasser schießt mir in die Augen und mein Kopf schnellt zur Seite, von der Wucht der Ohrfeige. Nur kurz darauf knallt die Tür laut zu und nun fange ich endgültig an zu heulen, kann einfach nicht mehr. Dass die Babys neben mir keinen Laut von sich geben, fällt mir gar nicht auf.
Ich weiß nicht, wie lange ich geheult habe, aber die Tür öffnet sich schon wieder. Unkontrolliert fange ich an zu zittern, werde geblendet von einer Taschenlampe. Schnell rutsche ich weiter nach hinten, bis ich an die Wand stoße, es nicht mehr weiter geht und warte ängstlich, was nun passiert. Ich habe Angst, ziehe die Knie an und verstecke mein Gesicht, will einfach nichts mehr sehen. Warum hilft mir keiner? Ich will hier raus! Ich kann nicht mehr! Als ich eine Hand an mir spüre, fange ich an zu schreien.
Alex schreckte auf. Ihr war so, als hätte sie ein Geräusch gehört. Sie sah sich um, aber die Kleinen schliefen friedlich, ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch eine Weile schlafen dürften, bevor die nächste Mahlzeit fällig wurde. Ihr Blick fiel auf Tami, aber auch die war am Schlafen und Michael neben ihr auch. Schulterzuckend legte sie sich wieder hin, dachte, sie hätte sich getäuscht und genau in dem Moment hörte sie einen leisen Schrei. Sie schaltete das Licht an und sah besorgt zu Tami, dachte sie hätte sich vielleicht im Schlaf gedreht und wäre so gegen ihre verletzte Schulter oder den Arm gekommen, aber so wie sie da lag konnte es nicht sein. Besorgt stand sie auf, ging zu dem Bett, in dem ihre Tochter lag und sah die Tränenspuren in ihrem Gesicht. Nur kurz darauf stand Michael neben ihr. „Was ist los?“ „Ich weiß nicht genau, ich glaube Tami träumt. Ich habe eben einen leisen Schrei gehört.“ Noch während sie sprachen, konnten sie beobachten, wie das Mädchen anfing wild um sich zu schlagen und nur kurz darauf erneut aufschrie. Besorgt sahen sie dies, bevor Alex sie vorsichtig an der linken Schulter fasste, sie festhielt und versuchte sie zu wecken. „Tami! … Tamara! … Wach auf!“ Einige Zeit dauerte es, bis sie Erfolg damit hatte. Aus verweinten Augen sah Tamara auf, erkannte nur langsam ihre Eltern vor sich. Als sie sie endlich erkannte, wurde ihr auch bewusst, dass sie nur geträumt hatte. Dennoch liefen die Tränen unaufhörlich weiter, auch wenn es jetzt nur ein Traum war, vor nur wenigen Stunden war es bittere Realität gewesen und so langsam begriff sie, wie gefährlich es wirklich war.
Während sich Alex zu ihr aufs Bett setzte, sie liebevoll und vorsichtig in den Arm nahm, um sie zu trösten, zog sich Michael den Stuhl dicht an das Bett seiner Tochter. Es dauerte lange, bis sie es endlich schafften, dass sich Tami wieder etwas beruhigte und erstaunlicher Weise erzählte sie ihnen von dem Traum und somit auch von dem, was passiert war.
Sichtlich angespannt wartete Mike darauf, dass sich endlich die Türen des Aufzuges öffneten. Verdammt, er hätte doch lieber die Treppen hoch laufen sollen, dieses rumstehen und warten, dass man endlich da war, machte einen nur noch unruhiger. Die Fahrstuhltüren waren noch nicht richtig offen, da zwängte er sich schon hindurch, ließ seine Mutter einfach zurück und rannte zu dem Büro seines Vaters. Direkt vor der Tür stieß er mit André zusammen, da er nicht darauf geachtet hatte, wo er hinlief. „Mike! Was machst du denn hier?“ Erstaunt musterte er den Sohn seines Kollegen, der völlig neben sich stand. „Ich will zu meinem Vater!“, sagte er schnell und war schon dabei die Türe zu öffnen. „Der ist nicht da.“ Irritiert hielt der Junge inne. Ruckartig drehte er den Kopf und starrte den Polizisten an. „Wie? Der ist nicht da?“ Völlig verzweifelt stand er da und wartete auf eine Erklärung, die aber nicht so schnell kam, wie er erwartet hatte. „Wo ist er? Zuhause kann ich ihn schon seit Tagen nicht mehr erreichen.“
„Mike jetzt beruhige dich doch endlich mal!“ Schützend nahm Ute ihren Sohn in den Arm. Das ungute Gefühl, was Mike schon die letzten Tage hatte, übertrug sich nun auch auf sie. Das, was sie vom Gespräch mitbekommen hatte, war schon eigenartig, so kannte sie ihren Ex-Mann nun gar nicht.
„Seit der Entführung habe ich ihn nicht mehr gesehen...“ Begann André zu erklären. Verwundert musterte er die Personen vor sich, warum Mike so aufgebracht war, wusste er nicht und wer war diese unbekannte Frau.
„Wie Entführung? Was für eine Entführung?“ „Alex' Kinder wurden entführt.“ Geschockt sah Mike zu seiner Mutter. Er war blass geworden und die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg, so dass sie ihn beschützend in ihre Arme nahm, bevor sie den Blick auf den von ihr stehenden unbekannten Mann richtete. Sie wollte gerade ansetzen und nachfragen, da kamen drei Männer und ein Mädchen, das ungefähr im Alter von Mike war, dazu.
„Mike? Was machst du denn hier?“ Verwundert musterten sie den Jungen, der nur langsam seinen Blick hob. „Herr Kirkitadse, was ist mit meinen Geschwistern?“ Traurig sah er den Vorgesetzten seines Vaters an und hoffte endlich mehr zu erfahren, auch wenn er Angst hatte vor der Antwort. „Wieso Geschwister? Was haben die Kinder von Alex mit dir zu tun?“ André verstand die Frage von Mike nicht und war noch immer irritiert über dessen Verhalten. Der Junge benahm sich genauso eigenartig wie sein Vater an dem Tag, als es passiert war. Nur langsam konnte er die Puzzleteile in seinem Kopf zusammen fügen. „Heißt das etwa, dass Michael der Vater von Alex' Kindern ist?“ Fragend betrachtete er nun die umstehenden Personen, die nun langsam und nacheinander mit einem kurzen Nicken die Aussage bestätigten.
„Was ist nun mit Tami und den Zwillingen?“ Mittlerweile war Mike ungehalten, wieso beantworte niemand seine Frage. „Mike beruhige dich wieder!“ Eindringlich, aber dennoch tröstend widmete sich Branco dem Jungen. „Es geht ihnen soweit gut, sie müssten eigentlich gleich kommen.“ Während er ihn aufklärte, schob er ihn in das Büro, wollte dieses Gespräch nicht auf dem Flur weiter führen, da sich einige Kollegen schon interessiert der Gruppe zuwendeten. Auch die anderen folgten ihnen.
Unsicher stieg Tamara schwerfällig aus dem Auto, betrachtete dabei neugierig das Gebäude, vor dem sie waren. Nun waren sie da. Eine Unruhe macht sich in ihr breit, das unangenehme Gefühl breite sich aus, gleich würde sie Fragen beantworten müssen, Fragen dazu, was passiert war. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und würde am liebsten weg hier.
Sie bemerkte, wie sich sachte eine Hand auf ihre linke Schulter legte, liebevoll die Finger sie ein wenig streichelten. „Keine Angst, es wird nicht so schlimm.“ Unsicher und noch immer etwas ängstlich sah sie zu ihrer Mutter hoch. War es ihr wirklich anzusehen, wie unwohl sie sich fühlte? Sie suchte die Hand ihrer Mutter und nahm sie in ihre eigene, wollte einfach, dass sie ihr etwas Kraft spendete.
Es war schon schwer genug gewesen, als sie ihren Eltern von dem Erlebten erzählt hatte. Aber zu ihrem großen Erstaunen waren die nicht böse oder enttäuscht, im Gegenteil, sie sagten, dass sie stolz auf sie wären, dass sie sich so gut verhalten hatte und auf Nico und Nici so gut geachtet hatte. Diese Aussage hatte Tami gewundert, aber in den Augen der Beiden hatte sie sehen können, wie ernst es ihnen damit war. Lange hatten sie in der Nacht darüber gesprochen und zum Schluss hatte sich ihre Mutter neben sie ins Bett gelegt, sie im Arm gehalten, damit sie wieder zur Ruhe kam und schlafen konnte. Das Gespräch mit ihren Eltern und die Nähe ihrer Mutter hatten ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Sie fühlte sich geborgen und geliebt in ihren Armen, so dass sie nach kurzer Zeit in einen angenehm ruhigen und erholsamen Schlaf fiel.
Nur zögerlich verließ sie den Aufzug, aber da sie noch immer die Hand von Alex hielt, musste sie wohl oder übel mitgehen, denn sie wollte einfach nicht von ihrer Mutter weg. Etwas weiter vor ihnen ging ihr Vater, hatte die Babys im Arm und ging geradewegs auf eine Tür zu. Sie sah, wie die Leute ihm neugierig hinterher sahen und als sie einige Schritte weitergegangen waren, starrten auf einmal alle sie an, die noch immer mit ihrer linken die Hand ihrer Mutter hielt. Merkte, wie sie ihren Druck etwas verstärkte, so als sie dadurch noch mehr Kraft bekommen würde. Alex ignorierte die Blicke der unzähligen Kollegen, zog nun etwas fester an der Hand ihrer Tochter, damit diese ihr etwas zügiger folgte.
„Papa, endlich!“ Tami hörte den freudigen, erleichterten Ausruf und wusste sofort, zu wem diese Stimme hörte. Schnell befreite sie sich aus dem Griff ihrer Mutter und stürmte vorwärts, geradewegs in die Arme ihres Bruders, der sie überrascht umarmte, sie fest an sich drückte, so als ob er sich vergewissern wollte, dass er wirklich seine Schwester im Arm hielt. „Au!“ Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht löste sich Tami von ihrem Bruder, der sie entschuldigend ansah. „Ist nicht so schlimm.“
Neugierig betrachtete Mike seine Schwester, deren rechter Arm im vorderen Teil des Pullovers verbogen war, während der dazugehörige Ärmel einfach leer an der Seite herunter hing. So als ob er nicht dazu gehören würde, einfach unnötig angebracht worden sei. Sein Blick glitt höher und er sah die unzähligen Schrammen in ihrem Gesicht. Er war entsetzt über das, was er da sah. „Was ist passiert?“ „Ich bin gestolpert und habe mir dabei den Arm gebrochen.“ Ihre Stimme war gleichgültig, so als ob es völlig nebensächlich wäre. Er hatte bereits angesetzt empört etwas zu erwidern, als er den eindringlichen Blick seines Vaters bemerkte und sein Kopfschütteln, welches ihm zeigte, dass er besser nicht fragen sollte. Schulterzuckend ließ er es bleiben, zu sehr verwirrte und schockte ihn die Informationen, die in der letzten halben Stunde auf ihn eingeprasselt waren. Erschöpft ließ er sich auf das Sofa fallen, sein entsetzter und verwirrter Blick lag auf seiner Schwester, die noch immer da stand, wo er sie eben losgelassen hatte.
Umständlich kramte sie in ihrer Jackentasche, bis sie endlich das Gesuchte in der Hand hielt. Nur kurz darauf kam ihre Hand hervor und sie hielt Lisa, die, genau wie die anderen anwesenden erstaunlich still bisher war, das Handy entgegen. „Nein, behalte es.“ „Aber es ist deins.“ Verwundert sah sie ihre Freundin an. „Ich möchte, dass du es behältst, als eine Art Glücksbringer ...“, äußerte sie sich zögerlich. Es war nur zu deutlich zu sehen, dass ihr noch etwas anderes auf der Seele lag, dass sie sich nicht wohl fühlte. „Es tut mir leid.“ „Es war doch nicht deine Schuld.“ Vorsichtig nahm Tamara ihre Freundin in die Arme, um ihr zu zeigen, dass sie nicht böse auf sie war.
„Ich unterbreche euch nur ungern, aber Tami, du müsstest noch einige Fragen beantworten.“ Aufmunternd sah der Staatsanwalt das Mädchen an, er bemerkte, wie unwohl sie sich fühlte. „Können Mama und Papa dabei sein?“ Unsicher sah sie den Mann an, sie fürchtete sich einfach davor und hatte keine Ahnung wie so eine Vernehmung ablief. Ihre Eltern würden ihr einfach etwas Sicherheit geben. Sie käme sich einfach nicht so einsam vor. „Deine Eltern haben sogar das Recht dabei zu sein, wenn sie das möchten, immerhin wirst du erst dreizehn.“ Fragend sah sie zu ihrem Vater und dann zu ihrer Mutter, die beide, mit einem Nicken das Gesagte bestätigten.
Tapfer beantwortete sie dem Staatsanwalt und Gerrit, der die anderen Vernehmungen bisher geleitet hatte, alle Fragen. Von sich aus erzählte sie wenig, gab eigentlich nur dann Auskünfte, als ihr Fragen gestellt wurden. Kirkitadse kannte sie mittlerweile gut genug, dass er wusste, dass das Mädchen nicht gerne über Probleme oder ähnliches sprach, so dass er sie mit gezielten Fragen dann doch dahin bringen konnte, ausführlich zu berichten. „Sag mal Tami...“, vorsichtig begann Gerrit seine Frage zu äußern, die ihn schon seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging. Er hatte einen Verdacht diesbezüglich, hoffte aber dennoch, dass er damit falsch lag. „... weißt du eigentlich, warum Herr Müller nicht richtig laufen konnte?“ „Wer ist Herr Müller?“ Verwirrt kam die Gegenfrage von Tamara, da sie mit der Frage nichts anfangen konnte. „Das ist der Mann, der dabei war, außerdem war er der Anwalt von Frau Immel bei der Verhandlung damals.“ Der Staatsanwalt klärte das Mädchen auf, obwohl auch er nicht so ganz wusste, worauf Gerrit mit seiner Frage hinaus wollte. „Ach so. … Ich glaube, ich habe ihn doch etwas zu fest getreten.“ Beschämt sah sie nun nach unten. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft. Ein wenig entsetzt hatten der Staatsanwalt und Gerrit die Antwort des Mädchens vernommen, während Alex besorgt zu Michael sah und in dessen Augen die gleiche Sorge sehen konnte. Bisher war Tamara noch völlig ahnungslos, was der Mann tatsächlich von ihr wollte. Ihre kindliche Naivität hinderte sie etwas daran, sich Gedanken über die Situation zu machen, den seltsamen Blick zu hinterfragen. Sie hatten einfach ein wenig Angst, wie sie darauf reagieren würde. „Wieso hast du ihn getreten?“ Schnell kam die Nachfrage von Kirkitadse, er hatte die Befürchtung, dass Tamara nicht mehr dazu in der Lage war, weitere Fragen zu beantworten, wenn er jetzt zu lange zögerte. „Naja, er kam rein, nachdem ich mit Papa gesprochen hatte und ich hatte Angst, dass er das Handy findet. Er hat so komisch geguckt und hat mich dann auf einmal angefasst, ich wollte einfach nicht das er es findet. Bekomme ich jetzt Ärger?“ Noch immer war ihr Blick nach unten gerichtet, es war nur zu deutlich zu sehen, dass sie sich nicht sicher war, ob sie richtig gehandelt hatte.
Zu ihrer Überraschung antwortete niemand, sie verstand nicht wieso. Hatte sie nun richtig gehandelt, oder war es übertrieben gewesen, dass sie so heftig zu getreten hatte? Aber ihre Eltern hatten ihr doch gesagt, dass es in Ordnung war, dass sie so reagiert hatte.
Ruckartig hob sie ihren Kopf, musterte alle Anwesenden genau, die eigenartige Ruhe war auch ihr aufgefallen, die Gedanken fuhren in ihrem Kopf Achterbahn. Ihre Augen wanderten von Gerrit zum Staatsanwalt, die ein wenig betroffen aussahen, gingen weiter zu ihrem Vater. Mit seinem Blick konnte sie so gar nichts anfangen. Doch als sie in die Augen ihrer Mutter sah und darin die Sorge erkannte, ahnte sie, dass auch ihr Vater ähnlich besorgt war.
Sie hielt den Blick ihrer Mutter gefangen, sah ihr direkt in die Augen. Die Befragung, oder die anderen Anwesenden waren ihr egal. „Der wollte nicht das Handy suchen!“ Sie stellte es entsetzt und erschrocken fest, konnte in den Augen ihrer Mutter lesen, dass sie richtig lag mit ihrer Vermutung. Unmerklich zuckte sie zusammen, bevor sie schluchzend in den Armen ihrer Mutter Schutz suchte.
Sichtlich erschöpft betraten Alex und Michael nach einer Stunde wieder das Büro, in ihrer Mitte hatten sie ihre Tochter. Wie Bodyguards waren sie an der Seite des Mädchens, wollten sie vor dem Bösen beschützen, was ihnen zuvor nicht gelungen war. Zu sehr belastete sie das Ganze, aber vor allem das Entsetzen, als Tamara ein Stück ihrer Unschuld, ihrer kindlichen Naivität, geraubt wurde. Auch wenn es verhältnismäßig gut ausgegangen war, aber allein die Tatsache, dass das Mädchen in so einer prekären Situation war, einem Pädophilen gegenüberstand, war schockierend genug.
Lautes Gemurmel war zu hören, alle waren neugierig, warum der Staatsanwalt zu einer Nachbesprechung aufgefordert hatte. Soweit sie wussten, war doch bei dem Einsatz alles glatt gelaufen und die Kinder von Alex wurden befreit. Dass sie ins Krankenhaus mussten, dafür konnte nun wirklich keiner etwas, sondern das lag wohl eher daran, wie die Entführer mit den Kindern umgegangen waren. Die Unsicherheit war groß bei den anwesenden Polizisten, jeder fragte sich, was nicht in Ordnung war bei diesem Einsatz, denn normalerweise wurden nur dann Nachbesprechungen gemacht. „Weißt du was falsch gelaufen ist?“ „Weiß irgendeiner, wie es den Kindern geht?“ Alle möglichen Fragen flogen im Raum umher, aber die Antworten beschränkten sich auf Kopfschütteln oder Schulterzucken. Die Gespräche stoppten abrupt, als Kirkitadse den Raum betrat, neugierig lagen alle Blicke auf ihm. Verwundert sahen sie, dass Alex und Michael ihm folgten, ebenso nach vorne, an die Magnettafel, die in fast jedem Raum hier hing, damit Fotos oder andere wichtige Dinge für einen Fall dort angebracht werden konnten. Eine gespenstische Ruhe hatte sich ausgebreitet und jeder wartete gespannt darauf, was nun kam.
Währenddessen stand Gerrit mit Mike und Tami vor dem Raum. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass Alex und Michael deine Eltern sind?“ Gerrit war noch immer irritiert darüber, dass die beste Freundin seiner Nichte gleichzeitig die Tochter seiner Kollegen war, von denen er noch nicht einmal wusste, dass sie ein Paar waren. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mit Ihnen zusammenarbeitest?“ Mit einem leichten Grinsen im Gesicht stellte Tami die Gegenfrage. Nur langsam fiel die Anspannung von ihr ab, die Befragung war doch anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. „Ist ja gut, du hast Recht. Es ist Zufall gewesen, dass wir nie über meine Kollegen oder deine Eltern gesprochen haben. Viel mehr würde mich interessieren, warum die Beiden so ein Geheimnis daraus gemacht haben, dass sie zusammen, also ein Paar, sind.“ „Das hat schon seine Gründe, geh' rein und du wirst es erfahren.“ Mike hatte bisher ruhig daneben gestanden, aber nun hatte er das Bedürfnis gehabt, sich in das Gespräch einzumischen. Er kannte Gerrit nicht wirklich, aber Michael hatte ihm erklärt, warum sie es nicht wollten, dass das ganze Kommissariat Bescheid wusste. Nun war er aber neugierig, warum Alex und Michael nun doch das gut gehütete Geheimnis endgültig lüften wollten, deswegen wollte er mit seiner Aussage seine Schwester und Gerrit dazu bewegen, endlich auch reinzugehen.
Da alle im Raum mit dem Rücken zu ihnen standen, bekam außer dem Staatsanwalt, Alex und Michael niemand mit, dass noch jemand reingekommen war. Zu sehr hingen sie nun an den Lippen von Kirkitadse, der in dem Moment angefangen hatte zu reden. „Danke, dass Sie alle gekommen sind. Zu Beginn möchte ich Sie erst einmal beruhigen, diese Nachbesprechung findet nicht statt, weil etwas nicht in Ordnung war. Es gibt einen anderen Grund und deswegen lasse ich jetzt Frau Rietz weiter reden.“ Erleichterung machte sich breit, aber gleichzeitig warteten nun alle ungeduldig und gespannt, was Alex sagen würde. Unsicher trat sie einen Schritt nach vorne, suchte aber gleichzeitig mit ihrer Hand die von Michael, die Strapazen der letzten Tage waren einfach nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, aber sie und auch Michael wollten das einfach loswerden. Sie räusperte sich kurz. „Danke, dass ihr alle da seit. Mit Worten kann ich gar nicht ausdrücken, wie dankbar wir euch sind, dass ihr alle mitgeholfen habt, Tami und die Zwillinge zu suchen und schließlich auch zu befreien.“ Die Worte kamen nur langsam heraus und jeder konnte spüren, wie schwer es ihr fiel, nicht das zu sagen, sondern die wirkliche Freude und Dankbarkeit auszudrücken. „Ich denke, es ist an der Zeit, ein paar Dinge zu erklären.“ Immer leiser wurden ihre Worte, sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, alle starrten sie regelrecht an und ihr war klar, dass weitere Fragen kommen würden. Unsicher sah sie zu Michael, der nun ebenfalls einen Schritt nach vorne getreten war, direkt neben ihr stand. Vorsichtig löste er seine Hand aus der ihren, legte anschließend den Arm um ihre Schultern und zog sie etwas dichter an sich heran, drückte sie leicht an sich, wollte ihr damit einfach ein wenig Kraft spenden. „Als erstes sollten wir vielleicht sagen, dass Alex und ich wirklich zusammen sind, allerdings erst seit der Scheinhochzeit.“ Ein Murmeln breitete sich aus. Immer wieder hörte man Sätze, wie „Ich habe es doch gleich gesagt“ oder „War ja klar“. „Und wer ist der Vater der Babys?“ Nun kam die erste Frage direkt an die Beiden, mutig hatte ein Kollege aus der Technikabteilung das laut ausgesprochen, was vielen auf der Seele brannte.
„Ich bin der Vater.“ Es war still, eine gespenstische Ruhe war eingetreten und man sah, wie es in den Köpfen der Kollegen arbeitete. Unsicher sah Alex zu Michael, sie hatten darüber gesprochen, es den Kollegen zu sagen, aber die Worte, die sich im Vorfeld überlegt hatten, waren wie weggeblasen, so dass sie einfach angefangen hatten zu reden. Nun warteten sie gespannt die Reaktionen ab. „Dann sind die ja sozusagen in eurer Hochzeitsnacht entstanden.“ Äußerte sich nun eine Kollegin dazu, die allem Anschein nach schnell gerechnet hatte. „So in der Art.“ Leise, ein wenig ertappt, antwortete Alex ihr, während sich ein zarter Rotschimmer auf ihren Wangen ausbreitete. Mit dieser Reaktion hatte sie nun gar nicht gerechnet.
„Und was ist mit dem großen Mädchen? Tamara heißt sie, oder?“ „Genau, die sieht doch aus wie Mike.“ Wild sprachen nun alle durcheinander, jeder wollte seine Frage als erstes stellen, aber irgendwie redeten sie mehr untereinander, ignorierten Alex und Michael dabei. „HALT!“ Mit lauter Stimme unterbrach Kirkitadse nun das Durcheinander. „Wenn Sie alle durcheinander sprechen, können Frau Rietz und Herr Naseband ihnen gar keine Fragen mehr beantworten. Dann haben Sie Pech gehabt, weil ich kein Gerede, oder irgendwelche Gerüchte in Zukunft über die Beiden bzw. die Kinder hören möchte! Die Beiden haben mich darum gebeten, dass ich Sie alle herbestelle, damit sie Sie aufklären können über ihre Familienverhältnisse. Dabei wäre das nicht nötig gewesen. Immerhin ist es ihre Privatsache und wenn sie schon darüber etwas sagen, dann sollten Sie zumindest die Klappe halten!“ Entsetzt sahen nun alle den Staatsanwalt an. Noch nie hatten sie ihn so wütend erlebt. Ertappt und ein wenig schuldbewusst sahen sie etwas nach unten und hofften, dass Alex und Michael noch etwas mehr sagen würden, zu viele Dinge waren noch unklar.
Niemand bemerkte, wie Mike und Tami nach vorne gingen, erst als sie sich direkt vor Alex und Michael stellten, lagen alle Blicke auf den beiden Kindern. Einige hatten Tamara während des Einsatzes gesehen und Mike kannten natürlich fast alle, da er schon öfter im K11 war, aber nun, wo sie nebeneinander standen, war die Ähnlichkeit nicht mehr zu leugnen. Niemand sagte etwas, zu sehr waren sie von dem Anblick gebannt, der sich ihnen bot.
„Mike kennt ihr ja bereits. ...“ Michael hielt diese Spannung nicht mehr aus, begann deswegen mit leiser Stimme zu sprechen. „... Und ihr wisst, dass er mein Sohn ist. Tamara ist seine Halbschwester, also die Tochter von Alex und mir.“ Entsetzen machte sich auf den Gesichtern der Anwesenden breit, es war schon schlimm gewesen, als sie gehört hatten, dass alle drei die Kinder von Alex waren. Das Michael aber der Vater war, schockierte sie noch mehr. Zwei gute Kollegen waren von dieser grausamen Entführung betroffen. Bei einigen konnte man sehen, wie ihnen nun regelrecht die Gesichtszüge entglitten, als hätten sie gerade etwas entdeckt, was noch schlimmer war. „Dann seit ihr doch schon länger zusammen?!“ Eine leise Frage war zu hören, die aber eher nach einer Feststellung klang. Ehe irgendjemand auf diese Frage nur Ansatzweise reagieren konnte, kam auch schon eine andere. „Stimmt es, dass Tamara als Baby entführt wurde?“ Schockiert suchten nun alle nach der Person, aus dessen Mund diese Frage kam. Erstaunlich schnell richteten sich die Blicke auf Gerrit, der noch immer direkt an der Tür stand. Dieser aber sah einfach nur nach vorne, ignorierte die Blicke der Anderen. Auch ihm war noch vieles unklar, aber durch die Akte, die er gesehen hatte und Lisas Erzählungen wusste er von einigen Dingen. Nun wollte er die Gelegenheit nutzen, endlich Antworten zu bekommen, wollte Klarheit haben, was von dem, was er in den letzten Tagen mitbekommen hatte, nun wirklich stimmte. „Ja, das stimmt...“ Alex antwortete ihm nach einigem Zögern nur langsam und leise, aber dadurch dass die Kollegen noch immer geschockt waren - Gerrits Frage hatte diesen Zustand nicht zum positiven verändert - konnte man diese beinahe geflüsterten Worte gut verstehen. Unsicher sah sie zu Michael, zog gleichzeitig Tami etwas näher an sich heran, um ihre Arme um den Bauch des Mädchens zu legen, wollte ihrer Tochter etwas Trost spenden. Sie ahnte, dass sie sich nicht wohl fühlen würde, bei den Dingen, die nun zwangsläufig zur Sprache kamen. In den Augen ihres Freundes nahm sie die Zustimmung war, dass sie nun Farbe bekennen mussten.
Zögerlich begann Alex zu berichten, dass sie und Michael damals ein Paar waren, die genaueren Umstände, ließ sie unerwähnt, gingen sie doch niemanden etwas an. Davon, dass Tamara mit nur dreizehn Monaten entführt wurde, der erfolglosen Suche und wie sie sich schließlich von Michael getrennt hatte, weil sie die Erinnerung an ihr Kind zu sehr schmerzte. Auch wenn sie nur einen kurzen Umriss gab, reichte es den Kollegen vollkommen aus. Die knappen, sachlichen Erzählungen genügten, um den Kollegen deutlich zu machen, wie traumatisch die Erlebnisse waren.
Nur kurz nachdem Alex geendet hatte, begann Michael den Rest zu erzählen. Genauso knapp waren seine Ausführungen, wie Alex und er sich im K11 wieder begegneten. In knappen Worten erklärte er schließlich, wie die Gefühle sie auf der Scheinhochzeit übermannten, dem zufälligen auffinden von Tamara. Mit den Worten, dass die Frau, die an der letzten Entführung beteiligt war, dieselbe Person war, die Tami auch schon als Baby entführt hatte, endete er dann.
Noch immer wagte keiner ein Wort zusagen. Obwohl sie nun alle die Bestätigung dafür bekommen hatten, dass zwischen Alex und Michael tatsächlich mehr war, war das Mitgefühl für die Familie groß. Das, was der Familie widerfahren war, wünschte keiner seinem ärgsten Feind. Unsicher musterten einige die vorne stehende Familie, so konnten sie erkennen, wie viel Kraft es Alex und Michael gekostet hatte, ihnen das zu erzählen. Das Mädchen, welches in Alex Armen lag, war gezeichnet von den Verletzungen, die sie erlitten hatte. Die Kratzer im Gesicht begannen zwar schon zu heilen, waren aber dennoch deutlich sichtbar. Auch der Arm, der direkt vor dem Bauch in einem Gipsverband hing, zeichnete sich deutlich unter dem Pulli ab. Die Angst und Verzweiflung des Mädchens, waren deutlich zu sehen, so dass man bei ihrem Anblick nur noch das Bedürfnis hatte, sich vor sie zu stellen oder sie auf ihren Wegen zu begleiten, so dass sie nie mehr etwas schlimmes erleben musste. Sie war noch so jung, musste aber schon so viel ertragen.
Während der nun eingetretenen Stille hatten sich Alex und Michael mit den beiden Kindern auf dem Weg zur Türe gemacht. Sie hatten mehr als genug erzählt und wollten jetzt nur noch weg. Das Kirkitadse zurückblieb, bemerkten sie gar nicht. Zügig hatten sie den Raum verlassen, Gerrit war ihnen direkt gefolgt. Ihm reichten diese Antworten und gemeinsam waren die kleine Gruppe nun auf dem Weg zurück ins Büro, wo Ute und Branco auf die Zwillinge aufpassten.
Die Türe schloss sich unnatürlich laut, in der noch immer vorherrschenden Stille. Der Staatsanwalt, der bisher etwas abseits gestanden hatte, stand nun dort, wo vorher noch Alex, Michael und die beiden Kinder standen. „Deswegen hatten die Gerüchte und das Gerede die Beiden immer wieder so gestört. Wir haben sie mit diesem Gerede richtig verletzt.“ Irgendwo aus der Menge heraus kam diese Aussage, aber keiner interessierte sich dafür, wer es gesagt hatte. Es war einfach unwichtig, aber das was gesagt wurde, löste Schuldgefühle und Betroffenheit aus. Jeder hatte sichtlichen Spaß daran Gerüchte auszutauschen, ein wenig über die Kollegen zu tratschen. Aber so heftig wie heute, hatten sie noch nie feststellen müssen, wie sehr man damit die Personen, über die man redete, verletzen konnte. Auch wenn nie etwas böses gesagt wurde, niemand die Gründe wusste, warum Alex und Michael so gehandelt hatten, aber sie hatten in Wunden herumgestochert.
„Frau Rietz und Herr Naseband wollten nicht, dass sich jemand schuldig fühlt. Sie hatten einfach das Bedürfnis, Ihnen einiges zu erklären, nachdem jeder hier im Raum seinen Beitrag geleistet hatte, die Kinder zu finden. Aber ich möchte Sie dennoch bitten in Zukunft das Getratsche zu unterlassen. Die Familie hat genug durchgemacht und wenn sie etwas aus ihrem Privatleben erzählen, seien Sie froh. Denn im Grunde genommen, geht es eigentlich niemanden etwas an. Fühlen Sie sich geehrt, dass ein Großteil jetzt erzählt wurde.“ Mit diesen Worten schloss der Staatsanwalt seine Ausführungen und verließ nun ebenfalls den Raum.
Glücklich betrachtete Alex die Zwillinge, die so ausgelassen herumalberten, die Aufmerksamkeit aller Gäste genossen. Nico, ihr kleiner Junge, strahlte, als er seinen Großeltern stolz zeigte, wie er hüpfen konnte. Der niedliche kleine blaue Schlips des fast dreijährigen Jungen flog ihm dabei auf die Schulter, was ihn nun selber zum lachen brachte. Nici, seine Schwester, führte sich hingegen auf wie eine Prinzessin, versuchte ihrem Bruder die Show zu stehlen, indem sie sich immer wieder im Kreis drehte, ihr rosa Kleidchen zum fliegen brachte.
Zärtlich legten sich ein paar Arme um ihre Taille, ein sanfter Kuss wurde ihr in den Nacken gehaucht. „Na mein Schatz, bist du glücklich?“ „Wie könnte ich nicht glücklich sein?“ Zufrieden lehnte sie sich nach hinten, genoss die Nähe ihres Mannes. „Unsere richtige Hochzeit ist viel besser, als die Scheinhochzeit. Michi, ich liebe dich.“ „Ist doch kein Wunder, dass die noch schöner ist. Immerhin sind jetzt lauter tolle Menschen dabei. Wir haben sogar ein Paar Minialleinunterhalter, mit denen kann sonst niemand dienen.“ „Das stimmt, Nico und Nici hat sonst keiner.“ Ihr Blick wanderte weiter, fiel nun auf Tami, die geheimnisvoll am Tuscheln war, mit ihrem Bruder Mike und ihrer Freundin Lisa. „Kannst du dich noch daran erinnern, wie der Psychologe im Krankenhaus zu uns gesagt hat, dass es für Tami gut wäre, was passiert ist?“ Noch immer stand sie mit ihrem Rücken an ihn gelehnt da, so dass sie merkte, wie er nach kurzer Zeit nickte. Ihre Augen waren noch immer auf ihre große Tochter gerichtet, stolz beobachtete sie. „Damals habe ich gedacht, der spinnt. Aber er hatte Recht gehabt. Ich glaube, jetzt ist sie wirklich bei uns angekommen.“ Wie ein zusammengefasster Film liefen die letzten Jahre vor ihrem geistigen Auge ab. Tamara hatte sich erstaunlich schnell von den traumatischen Erfahrungen der letzten Entführung erholt. Selbstverständlich hatte sie therapeutische Unterstützung danach bekommen. Aber sie hatte sich verändert, war sie vorher immer noch etwas unsicher in ihrem Verhalten, nach dem Gespräch mit ihren Eltern öffnete sie sich immer mehr. Nicht nur, dass sie noch offener über die Vergangenheit sprach, nein, auch ihr anderes Verhalten veränderte sich. Zuvor wirkte sie wie jemand der zu früh erwachsen werden musste, aber mittlerweile benahm sie sich wie jeder andere Teenager auch. Schwärmte immer wieder für unterschiedliche Jungs, war inzwischen das erste Mal richtig verliebt, was natürlich für heftige Diskussionen sorgte. Michael sah in ihr einfach seine kleine Tochter, die er beschützen wollte, von daher hatte es ihr Freund richtig schwer gehabt. „Ja, das habe ich auch gedacht. Und nun ist sie ein ganz normales Mädchen, wobei ich es noch immer nicht gut finde, dass du erlaubt hast, dass ihr Freund heute auch kommt.“ Mit leicht säuerlichem Gesicht beobachtete Michael, wie der Junge nun bei seiner Tochter stand und ihr einen kurzen Kuss auf den Mund drückte. Lächelnd drehte sich Alex in seinem Armen, sah das leicht zornige Gesicht ihres Mannes, und nur kurz danach verschloss sie seinen Mund mit ihren Lippen, zeichnete sachte mit der Zunge die Konturen nach, bis er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete, um endlich einen wunderschönen Kuss zuzulassen.
„Dürfte ich kurz um Aufmerksamkeit bitten?“ Verwundert unterbrachen Alex und Michael ihren Kuss, richteten ihre Blicke, genauso wie alle anderen Gäste, auf Tamara, die mit den Zwillingen zusammen mitten auf der Tanzfläche stand, mit einem Mikro in der Hand. Erst als sie sicher war, dass auch wirklich jeder zuhörte, führte sie das Mikrofon erneut zu ihrem Gesicht, um besser hinein sprechen zu können. „Mama und Papa, eigentlich wollten wir nur sagen, wie sehr wir euch lieben!“ „Mama und Papa lieb haben!“ Unterbrachen die Zwillinge ihre Schwester, um ihren Beitrag loszuwerden. Ein Schmunzeln machte sich nach dem Beitrag der beiden Kleinen auf vielen Gesichtern breit. Verlegen räusperte sich Tamara, ein leichtes rot zierte ihre Wangen. „Nun mach schon, es ist schön!“ Aufmunternd sprach Mike nun zu seiner Schwester, da er ahnte, dass es ihr nicht leicht fiel, das zu sagen, was sie vorhatte. Unsicher sah diese in die Augen ihres Bruders, nahm dessen zustimmendes Nicken war. Ihr Blick senkte sich, starrte auf das Blatt, welches sie in der Hand hielt. Eigentlich brauchte sie das nicht, kannte jedes Wort, was darauf stand auswendig, aber es beruhigte sie etwas und nahm ihr die Nervosität, so dass ihre Augen weiterhin darauf gerichtet waren. „Ich möchte jetzt noch eine Art Märchen vortragen, bitte seit nicht zu kritisch, da ich es selber geschrieben habe und lasst mich einfach aussprechen.
Es war einmal vor einigen Jahren, zu einer Zeit, als ich dachte es könnte nicht schlimmer kommen, aber es kam schlimmer. Was es war, bleibt unerwähnt. Also fasste ich einen Entschluss, packte ein paar Sachen zusammen und stahl mich in der Dunkelheit aus dem Kellerfenster, mitten in der Nacht. Die ersten Meter rannte ich wie eine Besessene, erst als ich um die nächste Ecke war, verfiel ich in ein schnelles Gehen, immerhin lagen ein paar Kilometer vor mir. Nach erstaunlich schneller Zeit erreichte ich den Bahnhof, da es nur zwei Gleise gab und diese über einen gemeinsamen Bahnsteig verfügten, wartete ich einfach darauf, dass der nächste Zug kam. Wohin war mir egal. Am nächst größeren Bahnhof stieg ich um, fuhr so eine Weile in der Gegend herum, bis sich durch Zufall ein Junge neben mich setzte. Er war mir auf Anhieb sympathisch und ich ihm scheinbar auch. Aber wenn er mich ansah, hatte ich das Gefühl, als würde er in mich hinein sehen und irgendwie tat er das auch. Erstaunlicherweise machte mir das keine Angst, es löste ein Gefühl in mir aus, was ich bis dahin so nicht kannte, ein Gefühl von Geborgenheit. Und so plötzlich, wie er in mein Leben trat, veränderte er es dann auch. Er nahm mich einfach mit, raus aus dem Zug, beendete meine bisherige Flucht und brachte mich nach Hause. In ein Zuhause, was ich bis dahin noch nicht kennengelernt hatte. Liebevoll wurde ich aufgenommen, getröstet, wenn es mir schlecht ging und auf eine Art umsorgt, die ich bisher nur aus Büchern kannte. Der Junge war leider nur einige Tage bei mir, aber in meinem Herzen ist er immer an meiner Seite. Aber er hat mich zu meinen Eltern gebracht, die von da an immer für mich da waren. Mit viel Geduld haben sie mir geholfen, vieles zu verarbeiten, haben mir den richtigen Weg gezeigt und mir soviel Liebe entgegengebracht, wie bisher sonst niemand in meinem Leben. Mir ist klar, dass ich es ihnen unheimlich schwer gemacht habe, aber ich konnte leider nicht anders. Aber niemals haben sie mir das übel genommen, im Gegenteil, sie hatten Verständnis für mich, obwohl ich es nicht für mich gehabt hätte. Und nach einigen Jahren stehe ich hier, bin ein relativ normaler Teenager, der Grenzen testet, mit seinem Vater aneinander gerät, weil der den ersten Freund seiner Tochter nicht mag. Kurz gesagt, ich habe die gleichen Probleme wie meine Freunde auch, aber genau das macht mich glücklich. Denn so merke ich, wie normal ich inzwischen bin. Mit Worten lässt sich gar nicht sagen, wie dankbar ich Mike, Mama und Papa bin, dass sie soviel Geduld mit mir hatten, mir immer zur Seite standen, was für alle nicht leicht war. In gewisser Weise ist damals eine Art Traum für mich wahr geworden. Ich hatte die Hoffnung auf ein normales Leben fast aufgegeben, aber ihr habt mir diese Hoffnung zurückgegeben und noch viel mehr. Es war eigenartig, als sich auf einmal alles veränderte, irgendwie hatte ich auch Angst vor dieser Veränderung, aber ihr habt mir die Angst genommen, wart für mich da, als ich euch brauchte und habt mir den Glauben an das Gute im Menschen zurückgegeben.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – das wäre nun das entsprechende Ende des Märchens. Aber auch in Wirklichkeit gibt es ein Happy End, was sich vielleicht mit folgenden Worten besser ausdrücken lässt: Nico, Nici, Mike, Mama und Papa, ich liebe euch und bin unheimlich froh, dass ich euch habe!“ Gebannt hatten alle Gäste der Hochzeitsfeier an ihren Lippen gehangen, auch wenn Tami offener geworden war, über Probleme sprach, aber noch nie hatte sie sich dazu geäußert, wie sie sich dabei gefühlt hatte, als sich ihr Leben so plötzlich änderte. Taschentücher wurden durch die Gegend gereicht, um die Tränen wegzuwischen, bevor sie das Make-Up vollends ruinierten, so bemerkte keiner, wie Alex und Michael sich auf den Weg zu ihrer Tochter machten und diese nun glücklich im Arm hielten. Diese Liebe und Geborgenheit, das Vertrauen in ihre Eltern, was man aus diesen Worten heraushörte, waren das größte Geschenk für sie. Tamara tat sich schwer damit Gefühle zu zeigen oder auszusprechen, aber nun hatte sie genau das vor so einem großen Publikum gemacht. Es gab keine Zweifel daran, wie ernst es ihr war.
„So und nun genug sentimentales Gerede!“ Diabolisch grinste Tamara auf, in ihren Augen sah man noch kurz eine gewisse Erleichterung aufblitzen, weil sie einen Grund hatte, von der vorherigen Rede etwas abzulenken, bevor sie die Gefühle nun übermannten. Dennoch sahen Alex und Michael sie kritisch an, der Ausdruck, der sich nun im Gesicht ihrer Tochter abzeichnete, ließ sie vermuten, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. „Einfach nur eine Hochzeit zu feiern, ist ja so normal, von daher habe ich noch einen anderen Grund gefunden, warum jetzt hier die große Party steigt.“ Geschockt beobachtete Alex, wie Tami ein kleines hellblaues Heftchen hochhielt und in dem Moment wurde ihr klar, was nun kommen würde. Aber leider blieb ihr keine Zeit sich auch nur etwas zu überlegen, so schnell hatte ihre Älteste einen kleinen Zettel herausgezogen. „Darf ich vorstellen, das ist unser zukünftiges Geschwisterchen!“ Stolz verkündete es Tamara, während sie das Ultraschallbild nach oben hielt und die Gäste anschließend begeistert applaudierten.
Ich habe einfach mal für all diejenigen, die vielleicht noch Interesse an der Geschichte haben, die letzten Teile gepostet. Es ist einfach nicht meine Art etwas unvollendet zu lassen, aus diesem Grund habe ich nach langer Zeit das Ende nun endlich nachgereicht.