“Ganz ruhig, Micha”, sagte Alex, als sie spürte, wie er seine zitternden Finger um die ihren schloss. “Ganz ruhig bleiben. Ich bin bei dir. Hab keine Angst. Jetzt, wo du wach bist, wird alles wieder gut.” Sie blickte ihn an, sein Kopf lag still, nur seine Hand bewegte sich, tastete leicht ihre Finger ab. Mit seinen Fingern fuhr er über ihren Handrücken. Alex schloss die Augen. Wie sanft er sie streichelte. Sonst hatte er doch jeden Körperkontakt vermieden, war ihr ausgewichen, wenn sie ihm zu nahe kam, körperlich oder auch emotional. Doch jetzt… ‘Er wird Angst haben’, dachte Alex. ‘Angst und Schmerzen.’ Sie fragte ihn, doch er schüttelte leicht den Kopf. Nein, Schmerzen hatte er wohl keine, jedenfalls nicht so stark, dass er es nicht aushielt. Aber dass er Angst hatte, konnte er vor ihr nicht verbergen. Nach einer ganzen Weile stand sie auf und wollte seine Hand abstreifen, doch er hielt sie krampfhaft fest. “Ich will nur mal kurz ins Bad. Ich bin gleich wieder da, versprochen, Michael.” Zögernd ließ er sie los. Seine Hand lag auf der Decke, schien zu warten, schien sie zu suchen. Alex schüttelte den Kopf und verschwand kurz auf der Toilette, die gegenüber dem Schwesternzimmer lag. Als sie wieder zurück kam und sich neben ihn setzte, griff er sofort zu und erwischte zielsicher wieder ihre Hand. Es war Alex unheimlich. Sie hatte doch so leise gemacht, trotzdem schien er zu sehen, wo genau sie stand oder saß. Sie hoffte inständig, dass er morgen den Beatmungsschlauch loswerden würde, damit sie miteinander sprechen konnten. Denn sein Verhalten machte sie unruhig.
Der Tag verging unheimlich schnell. Am Abend brachte die Schwester Alex einen Kaffee, den sie sogar an der Tür stehend trinken durfte, obwohl Essen auf der Intensivstation sonst strengstens verboten war. Danach saß sie für den Rest der Nacht auf dem unbequemen Stuhl, hielt seine Hand, bis diese schlaff herabsank und ihr zeigte, dass er schlief. Sie redete am späten Abend noch mit dem Arzt, der Nachtschicht hatte und fragte ihn nach den Verletzungen, die Michael im Gesicht hatte. Denn durch das Sicherheitsglas konnten die nicht entstanden sein. “Schauen Sie sich seinen Wagen an. Die Schnittwunden kommen vom Metall der Karosserie.” Alex schluckte erschrocken. “Das heißt leider, dass wohl Narben bleiben werden. Die Ränder der Wunden konnten wir leider nicht so gut zusammennähen, dass es komplett heilen wird. Aber man kann es vielleicht später durch plastische Chirurgie so weit minimieren, dass nur dünne Striche zu sehen sein werden.” “Na und”, murmelte Alex müde. “Hauptsache er lebt. Was ist mit der künstlichen Beatmung?” “Wir werden sie wohl morgen früh abschalten können. Seine Werte haben sich deutlich stabilisiert. Dann kann er auch wieder richtig essen. Am Anfang Schonkost, aber das ist auf jeden Fall angenehmer als die künstliche Ernährung.” Alex nickte und bedankte sich für dessen gute Arbeit. Der Arzt verschwand. Sie ging kurz ins Bad, machte sich etwas frisch und setzte sich wieder hin.
Am nächsten Morgen tauchte wieder die Ärzteschar auf, um Michael unter die Lupe zu nehmen. Als alle zufrieden waren, wurde die Beatmungsmaschine abgeschalten. Michael genoss es, selber Luft holen zu können, wenn auch nur durch einen Schlauch. Doch den entfernte der Arzt auch. “Tief einatmen”, wies Doktor Werner ihn an. “Ich zähle bis drei. Dann atmen sie kräftig aus.” Sekunden später lag Michael hustend im Bett. Alex gab ihm ein Glas Wasser in die Hand und er trank ein paar kleine Schlucke. “Danke”, sagte er mit kratziger Stimme. “Und, danke Doc.” “Keine Ursache. Ruhen Sie sich etwas aus. Mittagessen kriegen Sie ab heute wieder, aber nur Schonkost erst mal. Lassen Sie sich von Frau Rietz helfen oder soll ich eine Schwester schicken?” Michael zögerte, was Alex darauf schob, dass er sich im Allgemeinen nicht gern helfen ließ. “Ich mach das, wenn du nichts dagegen hast.” “Ist okay.” Michael lauschte, bis die Tür zufiel und wand den Kopf dann in Alex Richtung. “Alex…”, er zögerte. “Ich hab im Moment irgendwie ´ne Riesenlücke im Kopf.” “Das ist normal. Du hast sehr schwere Kopfverletzungen erlitten.” Wieder ein Zögern. “Woher kennen wir uns eigentlich?”, presste er schließlich hervor. Alex war froh, dass sie saß. Michael kannte sie nicht? Er erinnerte sich nicht daran, dass er Polizist war? “Du… du weißt nicht… wer ich bin?” “Nein. Sorry.” Sie schluckte. “Ich heiße Alexandra Rietz und wir sind Kollegen.” “Kollegen? Wie jetzt?” “Du arbeitest bei der Polizei.” “Ich hab die Ausbildung tatsächlich geschafft? Cool.” Alex musste ungewollt lachen. Irgendwie benahm Michael sich merkwürdig. Er redete auch ganz anders als sonst. Und sein Düsseldorfer Akzent war voll ausgeprägt. “Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst.” Michael grübelte lange. “Eine Bar. Ich bin mit ein paar Freunden da. Wir feiern.” Er lachte. “Oh man war ich breit. Daniel, ein Kumpel von mir, meint, wir sollten langsam nach Hause gehen… Hey, ich weiß, klar, es ist mein Geburtstag. Mein 20.” Alex riss entsetzt die Augen auf. 20? Michael erinnerte sich an nichts, seit seinem 20. Geburtstag? Das konnte nicht wahr sein. “20?”, hauchte sie ungläubig. “Ja. Aber wenn ich die Ausbildung hinter mir hab… Dann hab ich da wohl ein paar Jahre ausgeblendet?” “Ein paar?” Sie schüttelte den Kopf. “Micha, ich will dich ja nicht schockieren, aber…” “Aber?” “Du bist… 42.” Der schreckte hoch und fasst sich im selben Moment an den Kopf. Mit einem Aufstöhnen sank er zurück auf das Kissen. “42?” “Bleib liegen. Bist du verrückt?” “Ich kann doch nicht… Aber dann… Ich… Das sind 22 Jahre, die ich vergessen habe? Mehr als die Jahre, an die ich mich noch erinnere.” “Anscheinend.” Sie schwiegen beide. Michael konnte das alles nicht glauben. Er hielt es für einen Scherz von Alex und wünschte sich, ihr in die Augen sehen zu können. Und Alex stellte sich vor, die letzten 20 Jahre vergessen zu haben. Mit Schrecken dachte sie an Mike. Wie würde der wohl reagieren, wenn sein über alles geliebter Vater ihn nicht mehr erkannte? “Du, Micha… da ist noch was.” Der stöhnte auf. “Noch was?” “Du warst verheiratet und hast einen Sohn.” Er schluckte. “Verheiratet? Wow. Ich hab ´nen Sohn? Wie alt?” “13.” “Und, wie ist er so?” “Einmalig.” Michael grinste breit. “Klar. Ist ja auch von mir.” Dann wurde er wieder ernst. “Und jetzt? Bin ich Single?” “Mehr oder weniger seit deiner Scheidung.” “Mehr oder weniger?” “Du bist Single, unterbrochen von einigen Affären.” Michael grinste. “Na dann ist ja gut. Was ist mit uns?” “Äh, mit uns?” “Wie alt bist du?” “25.” Sie lachten beide. “36.” “Und? Hatten wir mal was miteinander?” “Nein.” Michael horchte auf. Die Antwort kam schnell, sehr schnell, zu schnell für seinen Geschmack. Entweder war da doch was, oder… Oder Alex wünschte sich, es wäre was. Er hob die Hand und strich ihr wieder über das Gesicht. “Schlank. Kurze Haare.” Seine Finger strichen sanft über ihre Lippen. “Sehr sinnlich, aber nicht zu voll. Du siehst bestimmt richtig gut aus.” Alex lächelte, was Michael spürte, weil seine Fingerkuppe noch immer auf ihren Lippen lag. “Wenn du meinst.” Sie war diese unverblümte Art nicht gewöhnt, aber irgendwie gefiel es ihr. “Was für eine Haarfarbe hast du?” “Blond.” “Und Augen? Nein, warte, lass mich raten… braun.” Alex nahm Michaels Hand in ihre eigene. “Richtig.” Er lächelte stolz und strich dann über ihre Finger. “Kein Ring. Bist du auch Single?” “Ja. Bringt der Beruf so mit sich.” “Was ist so passiert in den letzten Jahren?” Alex grübelte. “Die Mauer ist weg.” “Gut so. Dämlich, ein Land zu teilen.” “Find ich auch.” Sie grübelte. “Ich weiß nicht. Mir fällt so spontan nichts ein.” “Gibt es ‘die Ärzte’ noch?” Erstaunt blickte Alex ihn an. Dann verstand sie die Frage. “Du stehst auf Punk?” “Klar.” “Ja, die gibt es noch.” “Und ‘die Hosen‘?” “Auch.” “Ich liebe die Hosen. Vor allem den Song: ‘Hier kommt Alex.’” Er hielt kurz inne, bevor er loslachte. Auch Alex musste grinsen. So hatte sie ihren Kollegen noch nie erlebt. So herzlich, offen und direkt. Und sie konnte nicht behaupten, dass ihr dieser neue Michael nicht gefiel. Und irgendwie hatte sie deshalb ein schlechtes Gewissen.
Mal schauen, ich weiß es auch noch nicht. Hier die FS:
Das Mittagessen versuchte Michael allein hinter zu bekommen, doch das gelang ihm nicht richtig, da er nicht sah, wo der Teller war und so weiter. Letztendlich fütterte Alex ihren Kollegen. Der lehnte sich gegen seine Kissen und genoss es. “Ich kann es nicht glauben, dass du alles vergessen hast.” Michael schluckte die Suppe hinter, die er im Mund hatte. “Erzähl mal was von der Arbeit.” “Wir arbeiten beim K11. Ein Kommissariat hier in München.” “München… Bin ich also doch umgezogen.” “Ja. Wir haben noch einen Kollegen. Gerrit Grass.” Ein Grinsen. “Cooler Name.” “Ja. Unser Vorgesetzter heißt Sewarion Kirkitadse. Er ist Staatsanwalt am hiesigen Gericht.” “Sewa… was?” “Sewarion Kirkitadse. Er kommt aus Georgien.” “Ach so. Das erklärt einiges.” Alex musste lachen, denn Michael brachte diesen Spruch jedes Mal, wenn Kirkitadse etwas sonderbar reagierte oder mal wieder schlechte Laune hatte. Dann grübelte sie. “Ich muss unbedingt ins Kommissariat. Muss den anderen ja erst mal mitteilen, was mit dir los ist.” “Schade.” Michael war sichtbar enttäuscht, dass sie gehen wollte. “Ich bin ja bald wieder hier. Keine Sorge.” Er nickte, aber in seinem Gesicht zuckte etwas. Er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. “Ist noch was?” Alex stellte den inzwischen leeren Teller weg. “Es ist nur… Ich habe Angst… Weißt du, es ist alles so merkwürdig. Mir fehlt die Hälfte meines Lebens. Ich hab Angst, dass ich es nicht wieder packe, mich zurecht zu finden.” Wie immer nahm Alex seine Hand. “Doch, Micha. Doch, du wirst dich wieder zurecht finden. Klar, es wird schwer, aber das wird wieder. Und vielleicht gewinnst du die verlorenen Erinnerungen ja wieder zurück.” “Vielleicht”, murmelte er traurig. “Hoffentlich.” ‘Ich weiß nicht, ob ich will, dass er wieder der alte wird.’ Alex blickte ihn an, sah auf seine Hand hinab, die sich schutzsuchend an die ihre klammerte. Michael war immer so stark gewesen und natürlich wünschte sie ihm die Selbstsicherheit zurück, aber andererseits war seine veränderte Persönlichkeit jetzt so faszinierend. Er war einfühlsam, lieb und es kam nicht auf jeden Satz von ihr ein blöder Kommentar. Anscheinend hatte er sich diese Kommentare angewöhnt, um sich damit zu schützen. Aber wovor nur? Sie schüttelte verwirrt den Kopf.